Skepticismus

[385] Skepticismus (skepsis, Spähen, Prüfung, Überlegung) oder Skepsis ist die Erhebung des Zweifels (s. d.) zum Princip, die Bezweiflung eines sichern Kriteriums (s. d.) der Wahrheit, die Leugnung der Möglichkeit sicherer Behauptungen über das Wesen der Dinge, damit also der Möglichkeit des objectiven, absoluten Erkennens. Der absolute Skepticismus hebt, indem er sogar die Unsicherheit der Gültigkeit des allgemeinen Zweifels behaupten muß, sich selber auf oder führt zum Indifferentismus, zur Abkehr von jeder ernsten Denkarbeit. Der skeptische Kriticismus (methodische Skepticismus) hingegen bezweifelt nur alles »Gegebene«, Dogmatische (s. d.) so lange, bis er es auf feste[385] Denkprincipien zurückgeführt hat. In vieler Hinsicht ist aber der Skepticismus der Vorläufer des Kriticismus (s. d.) gewesen. Vom theoretischen ist der ethische Skepticismus zu unterscheiden, der die absolute Gültigkeit, den festen Wert des Sittlichen, der Moral bezweifelt, bestreitet. Dazu kommt noch der religiöse Skepticismus, der die Existenz der Gottheit für problematisch erklärt (s. Religion). Innerhalb des Skepticismus läßt sich unterscheiden zwischen dem erkenntnistheoretisch – metaphysischen und dem logischen Skepticismus, welcher letztere der extremste, allerdings nur selten ernsthaft verfochtene Skepticismus ist.

Skeptische Äußerungen im einzelnen finden sich schon bei XENOPHANES (dokos d' epi pasi tetyktai, Sext. Empir. adv. Math. VII, 49, 110. VIII, 326). Ferner bei DEMOKRIT, wenigstens für die nicht philosophisch verarbeitete Weltanschauung: eteê men nyn, hoti hoion hekaston esti ê ouk estin, ou xyniemen, pollachê dedêlôtai. – hoti eteê ouden idmen peri oudenos (Fragm. 1. Sext. Empir. adv. Math. VII, 135 squ.). all' epirrhysmin hekastoisin hê doxis ... kaitoi dêlon estai, hoti eteê, hoion hekaston, ginôskein en aporô esti ... hêmees de tô men eonti ouden atrekes xyniemen, metapipton de kata te sômatos, diathigên kai tôn epeisiontôn kai tôn antisterizontôn (Sext. Empir. adv. Hath. VII, 135 – 137). Ferner bei den Sophisten, insbesondere bei GORGIAS (l. c. I, 65 squ.). Eine bedingte epochê (Enthaltung) vom Urteil empfehlen die Stoiker MARC AUREL (In se ips. XI, 11), EPIKTET (Diss. I, 7, 5).

Als Reaction gegen die »Dogmatiker« (Stoiker u.a.) tritt die skeptische Richtung in drei Secten auf, als Pyrrhonismus, mittlere Akademie, spätere Skepsis. Die bekanntesten Skeptiker sind PYRRHON, PHILON VON ATHEN, TIMON, AENESIDEMUS, AGRIPPA, FAVORINUS, SEXTUS EMPIRICUS, ARKESILAUS, KARNEADES. Die Skeptiker (skeptikoi, Pyrrhôneioi) hießen auch ephektikoi, aporêtikoi, »quonium utrique nihil adfirmant nihilque comprehendi putant« (Aul. Gell. XI, 5. Diog. L. IX, 70). – Der Pyrrhonismus lehrt zunächst den ethischen Skepticismus, nach welchem in Wahrheit nichts gerecht oder ungerecht ist (Diog. L. IX, 61. Sext. Empir. adv. Math. XI, 140). Er lehrt ferner die akatalêpsia, die Unfaßbarkeit des Wesens der Dinge. Nur die Erscheinung steht fest, nicht das Sein (vgl. Diog. L. IX, 105). Etwas Sicheres läßt sich nicht behaupten, bestimmen (ouden horizein), nur ein dokei (es scheint so) ist zulässig dieteloun dê hoi skeptikoi ta tôn haireseôn dogmata pant' anatrepontes, autoi d' auden apephainonto dogmatikôs. heôs de pou propheresthai ta tôn allôn kai diêgeisthai mêden horizontes, mêd'auto touto (Diog. L. IX, 74). Keiner Erkenntnisart ist zu trauen, kein Urteil ist sicherer (ou mallon) als das andere. jedem logos steht ein anderer logos gegenüber (isostheneia tôn logôn), und das führt zur Urteilsenthaltung (epochê, arrhepsia), zur ataraxia (s. d.) und apathia (s. d.) (Sext. Empir. Pyrrh. hypot. I, 188 squ.. I, 25 squ.. Diog. L. IX, 61 squ., 74, 76, 107). ARKESILAUS lehrt, daß weder die Sinne noch das Denken Erkenntnis verschaffen und daß es kein Kriterium der Wahrheit gebe (vgl. Cic., De orat. II, 18, 67. Acad. post. I, 12, 45. vgl. Sext. Empir. Pyrrh. hypot. I, 234. die Skepsis als Vorbereitung zur Ideenlehre). Eine feste synkatathesis (s. d.) gibt es nicht, nur Wahrscheinlichkeit (eulogon) ist erreichbar (l. c. I, 233 squ.. Adv. Math VII, 153 squ.). Eine Theorie der Wahrscheinlichkeit (s. d.) stellt KARENEADES auf. Zehn skeptische Tropen (s. d.) stellt AENESIDEMUS auf. SEXTUS EMPIRICUS stellt die skeptischen Argumente zusammen, besonders auch die gegen den Beweis (s. d.) und die Causalität (s. d.).[386] In der mittelalterlichen Philosophie gibt es sehr wenig Skepticismus. GREGOR VON NYSSA bemerkt: en agnoia pantôn diagomen, prôton heautous agnoountes hoi anthrôpoi, epeita de kai ta alla panta (Contr. Eunom. XII). Gegen den Skepticismus erklärt AUGUSTINUS: »Omnis, qui se dubitantem intelligit, verum intelligit et de hac re, quam intelligit, certus est, Omnis igitur, qui utrum sit veritas, dubitat, in se ipso habet verum, unde non dubitet« (De ver. rel. 73). Daß etwas scheint, muß man zugeben (Contr. Acad. XIII, 24. vgl. De trin. X, 1 ff.). Berührung mit der Skepsis hat der Nominalismus (s. d.) eines WILHELM von OCCAM, ALGAZEL. – Die Unhaltbarkeit der menschlichen Wissenschaft gegenüber der Festigkeit göttlicher Offenbarung betont AGRIPPA (De vanit. scient.).

Den methodischen Zweifel (s. d.) legt DESCARTES seiner Philosophie zugrunde. Den neueren Skepticismus vertritt zunächst MONTAIGNE, welcher erklärt: »Que les choses ne logent pas chez nous en leur forme et en leur essence, et n'y facent leur entrée de leur force propre et autorité, nous le voyons assez« (Ess. II, 12). Die letzten Uraachen der Dinge können wir nicht erkennen (ib.). Skeptisch der Wissenschaft und ihrem Wert gegenüber verhält sich CHARRON. Die Wahrheit »loge dedans le sein de Dieu, c'est là son gîe et sa retraite, l'homme ne fait et n'entend rien à droit, au pur et au vrai comme il faut, touroyant et tatonnant l'entour des apparences... nous sommes nais a quester la vérite: la posséder appartient à une plus haute et grande puissance« (De la sag. I, 14). Alle Erkenntnis ist ungewiß (ib.). Unser Urteil müssen wir daher aufschieben. Nach LE VAYER ist der Zweifel das am meisten Gewisse (Cinq dial., 1671). Die Schwäche der Vernunft im Erkennen betont BAYLE. Die Offenbarung allein ist zuverlässig. Doch hebt sich der absolute Skepticismus selbst auf (Dictionn. »Acosta«, »Pyrrhon«). Skeptiker sind GLANVILL (Scepsis scientifica. s. Causalität), HUET, AGRIPPA, HIRNHAIM, während u.a. DE GROUSAZ sich gegen den Skepticismus erklärt (Examen du Pyrrhonisme ancien et moderne, 1733). CHR. WOLF definiert: »Sceptici sunt, qui metu erroris emittendi veritates universales insuper habent, seu nihil affirmant, seu negant in universali« (Psychol. rat. § 41). Einen »milderen«, »akademischen« Skepticismus (in metaphysischer Einsicht) lehrt HUME, der alles die Erfahrung Überfliegende als unwißbar zurückweist, die Erfahrung selbst aber nicht bezweifelt (skeptischer Empirismus) (Inquir. XII, 2, 3. Treat. IV, sct. 2. 7. s. Causalität, Substanz, Object, Erkenntnis).

Dogmatismus (s. d.) und Skepticismus überwindet der (metaphysisch-skeptisch gefärbte) Kriticismus (s. d.) KANTS u.a. Er versteht unter Skepticismus »das ohne vorhergegangene Kritik gegen die reine Vernunft gefaßte allgemeine Mißtrauen, bloß um des Mißlingens ihrer Behauptungen willen«. Dagegen ist der Kriticismus als Methode »die Maxime eines allgemeinen Mißtrauens gegen alle synthetischen Sätze desselben, bevor nicht ein allgemeiner Grund ihrer Möglichkeit in den wesentlichen Bedingungen unserer Erkenntnisvermögen eingesehen worden« (Üb. eine Entdeck., 2. Abschn.).

Einen philosophischen Skepticismus im Sinne der Unterordnung der Vernunft unter die Religion vertritt LAMMENAIS (Oeuvres complètes, 1836). – Als Anfang des Philosophierens schätzt die Skepsis HERBART, welcher niedere und höhere Skepsis unterscheidet. »Jeder tüchtige Anfänger in der Philosophie ist Skeptiker. Und umgekehrt: jeder Skeptiker, als solcher, ist Anfänger« (Lehrb. zur Einl.5, S. 62 ff.. vgl. HARTENSTEIN, Probl. u. Grundlehr. d. allgem. Met.[387] S. 39 ff.). Nach R. SHUTE gibt es keine unveränderliche Wahrheit (Discourse on truth., 1877, p. 215 ff.). Das Denken ist nur ein Mittel zur Anpassung (l. c. p. 267 ff.). Ähnlich lehrt NIETZSCHE (s. Erkenntnis, Wahrheit). – Gegen den Skepticismus betont u.a. HAGEMANN: »So sehr ist die Vernunft für die Erkenntnis der Wahrheit bestimmt, daß sie mit sich selbst in Widerspruch treten muß, wenn sie ihre Wahrheitsfähigkeit in Zweifel nicht« (Log. u. Noet. S. 197). Und GUTBERLET: »Von der Skepsis..., als dem reinen geistigen Nihilismus aus kann man zu nichts gelangen, denn man kann kein Wort sprechen, keinen Gedanken fassen, kein Urteil fällen, ohne Gewisses vorauszusetzen« (Log. u. Erk. S. 157). H. CORNELIUS bemerkt: »Der Zweifel an der Möglichkeit sicheren Erkennens läßt sich nicht allgemein festhalten, weil dieser Zweifel selbst mit einer positiven Erkenntnis gleichbedeutend ist.« »In dem tatsächlichen Bestande exacter Wissenschaft findet das Denken ein weiteres Bollwerk gegen jene allgemeine Skepsis« (Einl. in d. Philos. S. 160 f.). Nach R. GOLDSCHEID muß sich der Skepticismus selbst in Zweifel ziehen (Eth. d. Gesamtwill. I, 109). Aller Relativismus hat an der Vernunft seine Grenze, muß sich auch selbst relativistisch betrachten (l. c. S. 111). Nur zu »productivem Skepticismus, zu relativem Relativismus« bekennt sich Goldscheid (l. c. S. 117). – Nach -HUSSERL ist der metaphysische Skepticismus kein eigentlicher Skepticismus (Log. Unt. I, 113). Logischer und noetischer Skepticismus sind zu unterscheiden (l. c. I, 112). Skeptische Theorien sind alle jene, »deren Thesen entweder ausdrücklich besagen oder analytisch in sich schließen, daß die logischen oder noetischen Bedingungen für die Möglichkeit einer Theorie überhaupt falsch sind« (l. c. S. 112). Vgl. E. DREHER, Zeitschr. f. Philos., 1884, Bd. 84. Philos. Abhandl. S. 123. Vgl. K. FR. STÄUDLIN, Gesch. u. Geist d. Skepticism. 1794/95. G. E. SCHULZE, Aenesidemus, 1792, H. KUNHARD, Skept. Fragmente, 1804. TAFEL, Gesch. u. Krit. d. Skeptic., 1834. R. RICHTER, Der Skeptic. in d. Philos., 1904. KREIBIG, Gesch. u. Krit. d. eth. Skepticism., 1896. Vgl. Erkenntnis, Relativismus, Subjectivismus, Sittlichkeit, Wahrheit, Zweifel, Gewißheit, Cogito, Skeptische Tropen.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 2. Berlin 1904, S. 385-388.
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