Entwicklungsfarben

[469] Entwicklungsfarben, eine Reihe teils anorganischer, teils organischer Farben, die aus einfacheren farblosen oder farbigen Verbindungen auf der Faser durch eigenartige Prozesse gebildet werden.

Als Beispiele anorganischer Entwicklungsfarben seien Eisenchamois, Chromgelb, Chromorange, Berlinerblau, Manganbister genannt, die auf der Faser durch wechselseitige Zersetzung gewisser Metallsalze oder infolge des Einflusses von Feuchtigkeit und Wärme auf Metallsalze flüchtiger Säuren oder durch Einwirkung von Alkali- oder Erdalkalihydroxyden auf Metallsalze und nachfolgende Oxydation der fixierten Metallhydroxyde mittels Luftsauerstoff oder Oxydationsmitteln entliehen. – Beispiele organischer Entwicklungsfarben bieten Indigo (s.d.), Indophenol (s. Farbstoffe, künstliche), Cachou de Lavalle (s.d.), Katechu (s. Farbstoffe, pflanzliche), Anilinschwarz (s.d.), die auf der Faser erzeugten und die ähnlich dem Primulinrot (s. Ingrainfarben in diesem Artikel) weiter entwickelten Azofarben. Namentlich die beiden letzteren Farbengruppen pflegt man als Entwicklungsfarben zu bezeichnen.

Die auf der Faser erzeugten Azofarben. Die schönen Töne, welche die Azoponceaux den animalischen Fasern verleihen, regten den Wunsch an, ein Verfahren zu finden, das die Fixierung dieser Farbstoffe auf der Baumwollfaser gestattete. Ihre Verwendbarkeit in der Woll- und Seidenfärberei ist durch ihre Wasserlöslichkeit gegeben, diese aber wiederum durch die in ihnen enthaltene Sulfogruppe bedingt. Dieselben Körper, nicht sulfoniert, sind in Wasser unlöslich, ohne damit ihren Charakter als Farbstoffe einzubüßen. Soweit sie sich vom Betanaphthol als dem wichtigsten der zu ihrer Herstellung dienenden Phenole ableiten, sind sie auch vollkommen seifen- und alkaliecht. Die Bildung dieser Azofarben beruht auf der Eigenschaft der primären Amine der aromatischen Reihe, unter der Einwirkung von salpetriger Säure oder von Nitriten in saurer Lösung in Diazoverbindungen überzugehen, die in Gegenwart von Alkalien mit Phenolen zu Azokörpern zusammentreten. Salzsaures Paranitranilin z.B. verwandelt sich bei Einwirkung von Natriumnitrit und Salzsäure in Paranitrodiazobenzolchlorid:

NO2 · C6H4 · NH2 · HCl + NaNO2 + HCl = NO2 · C6H4 · N2 · Cl + NaCl + 2H2O.

Paranitrodiazobenzolchlorid liefert bei der Vereinigung mit Betanaphtholnatrium Naphtholazonitrobenzol oder Paranitranilinrot:

NO2 · C6H4 · N2 · Cl + C10H7 · ONa = NO2 · C6H4 · N2 · C10H7O + NaCl.

Nach diesem Beispiel muß die Bildung eines derartigen Farbstoffes stets dann erfolgen, wenn Amin, Nitrit und Phenol unter geeigneten Bedingungen zusammengebracht werden. Die dabei zu beobachtende Reihenfolge ist durch die praktischen Rücksichten bestimmt, deren Einhaltung das Ziel am sichersten erreichen läßt. Dieses Ziel aber ist die Hervorbringung dieser Azofarben aus den genannten löslichen Substanzen und ihre gleichzeitige Befestigung auf der Baumwolle auf Grund ihrer Unlöslichkeit. In dieser Richtung angestellte Versuche sind zuerst von Read Holliday & Sons in Huddersfield (1880), Graeßler (1880) und Henri Schmid (1881) ausgeführt worden. Die Firma J.J. Weber in Winterthur aber war die erste, welche eine leicht und sicher ausführbare Methode zur Fixierung der unlöslichen Azofarben auf der Faser in rationeller Weise ausbildete. 1889 veröffentlichten die Farbwerke vorm. Meister, Lucius & Brüning in Höchst sehr sorgfältig ausgearbeitete »Vorschriften zur Erzeugung unlöslicher Azofarbstoffe auf der Baumwollfaser« [1]. Insbesondere ist es letzterer Firma gelungen, eine Schwierigkeit zu beseitigen, die darin bestand, daß der mit der alkalischen Phenollösung getränkten Faser nur eine zur Bindung der Säure der Diazolösung nicht hinreichende Menge Alkali einverleibt werden konnte. Die Beobachtung, daß freie Essigsäure die Reaktion zwischen Diazoverbindungen und Phenolen nicht in derselben Weise hindert wie starke Mineralsäure, in der Art nutzbar gemacht, daß die Diazolösung unmittelbar vor dem Gebrauch mit so viel essigsaurem Natron versetzt wird, daß die freie Mineralsäure in ihr Natronsalz übergeführt wird, während entsprechende Mengen Essigsäure frei werden, welche die gewünschte Reaktion nicht verhindern, führte zu einem glatt verlaufenden Verfahren der Darstellung dieser unlöslichen Azofarben auf der Baumwollfaser.

Im Prinzip besteht das Verfahren im Durchtränken des zu färbenden Materials mit der alkalischen Lösung des Phenols und dem folgenden Durchnehmen durch die Lösung der Diazoverbindung oder Bedrucken mit derselben in passend verdicktem Zustande. Für die Erzeugung[469] einer guten Farbe ist die genaue Einhaltung des richtigen Mengenverhältnisses zwischen Base, Säure, Nitrit, Acetat, Phenol und Alkali unbedingtes Erfordernis. Die vom Betanaphthol sich ableitenden unlöslichen Azofarben sind ziemlich waschecht und sehr säure- und alkaliecht. Ihre Lichtechtheit ist im allgemeinen nicht befriedigend. Durch Behandlung mit kochender Kupfervitriollösung kann sie etwas verbessert werden, indessen wird dadurch auch der Farbenton beeinflußt. Die Betanaphtholazofarben sind gegenüber den entsprechenden Verbindungen aus Alphanaphthol und den andern Phenolen ganz unlöslich in alkalischen Laugen und werden deshalb und wegen ihrer lebhaften Farbentöne vorwiegend angewendet. – Mit den häufiger in Verbindung mit den beiden Naphtholen gebrauchten diazotierten Basen werden die folgenden Farben erhalten:


Entwicklungsfarben

Von diesen Farben werden vorwiegend das Bordeauxrot aus diazotiertem Alphanaphthylamin und Betanaphthol, das Türkischrot aus diazotiertem Betanaphthylamin und Betanaphthol und das Scharlachrot aus diazotiertem Paranitranilin und Betanaphthol auf Baumwolle entwickelt. Für die Erzeugung des letzteren bietet das Nitrosaminrot in Teig der Badischen Anilin- und Sodafabrik, Ludwigshafen, aus dem Natronsalz des Paranitrophenylnitrosamins bezw. Paranitrophenylantidiazobenzols bestehend, ein bequemes Mittel [3]. Das von F. Storck entdeckte, durch seinen schönen blauen Ton und seine Echtheit ausgezeichnete Dianisidinnaphtholblau, dessen Herstellungsverfahren in der Einwirkung von diazotiertem Dianisidin auf Betanaphthol bei gleichzeitiger Gegenwart von Kupfersalzen und geeigneten Fettsäureverbindungen besteht und dessen Zusammensetzung an diejenige von Alizarintürkischrot erinnert [4], ist wegen des hohen Preises und der nicht leichten Herstellung nur kurze Zeit in Aufnahme gekommen.

Die auf der Faser weiter entwickelten Azofarben. Zu dieser Gruppe gehören diejenigen Farben, welche die Eigenschaft besitzen, nachdem sie aufgefärbt sind, auf der Faser diazotierbar zu sein und in der Diazoform sich mit geeigneten basischen und phenolartigen Verbindungen zu neuen, der Faser fest anhaftenden Azofarben zu vereinigen.

A. Ingrainfarben. Die Beobachtung dieser Eigenschaft wurde zuerst durch Green (1888) am Primulin gemacht. Das Primulin liefert als Sulfosäure eines primären Amins eine Diazoverbindung, die mit Aminen und Phenolen Azofarben erzeugt. Diese Reaktionen lassen sich auf der mit Primulin gefärbten Faser verwirklichen und es besitzen die so gewonnenen Färbungen eine große Wasch-, Walk- und Säureechtheit. Diese Eigenschaften haben zu der Wahl des Namens Ingrainfarben geführt. Da die Ingrainfarben in isoliertem Zustande in Wasser löslich sind, so ist die Echtheit ihrer Färbung wohl einer innigen Verbindung mit der Faser zuzuschreiben und nicht auf Unlöslichkeit wie bei den unlöslichen Azofarben zurückzuführen. Die Ingrainfarben werden meist auf Baumwolle gefärbt. Dieselbe wird zunächst im konzentrierten Primulinbade mit 3–5% Farbstoff und 10% Kochsalz angefärbt. Als zweite Operation folgt die Diazotierung im Nitritbade. Dasselbe besteht aus einer 0,5–0,7 prozentigen kalten, wässerigen, mit Schwefelsäure oder Salzsäure angesäuerten Natriumnitritlösung. Die gelbgefärbte Baumwolle wird so lange in derselben gelassen, bis die Faser von der Lösung unter Farbenwechsel vollständig durchdrungen ist. Hierauf wird sorgfältig gespült. Die dritte Operation führt die eigentliche Färbung herbei. Die Baumwolle wird nun in das Entwicklungsbad, eine Lösung des Entwicklers, gebracht. Die neue Farbe bildet sich sofort und ist nach einigen Minuten vollständig entwickelt. Das Bad wird in der Regel kalt angewendet, für schwer durchdringliche Stoffe wird Entwickeln bei Kochhitze empfohlen. Mit den verschiedenen Entwicklern werden sehr mannigfaltige Töne erhalten. Phenol gibt Gelb, Resorzin Orange, Betanaphthol Rot, Alphanaphthol Rubinrot, Betanaphtholsulfosäure S Scharlachrot, R-Salz Granatrot, Aethylbetanaphthylamin Bordeauxrot, Amidoazobenzol Purpurrot, Alphanaphthylamin und Metatoluylendiamin Braun. Während die Echtheit der Färbungen gegen Wäsche, Seife, Walke und Säure eine sehr gute ist, erweist sich ihre Lichtechtheit als ebenso unbefriedigend wie diejenige des Primulins selbst.

B. Neuere Entwicklungsfarben. Wichtigere Entwicklungsfarben finden sich unter den Diaminfarben der Firma L. Cassella & Cie. in Frankfurt a. M., den Diazofarben der Farbenfabriken vorm. Fr. Bayer & Cie. in Elberfeld und den Dianilfarben der Höchster Farbwerke. Gleich dem Primulin sind auch diese Farbstoffe auf der Faser weiter diazotierbar und ergeben mit den entsprechenden Entwicklern indigoblaue, dunkelblaue, braune und schwarze Farbtöne mit gesteigerter Intensität des Farbentons, vorteilhafter Veränderung der Farbe und von besonderer Echtheit.

Die Diaminfarben, die sich auf der Faser diazotieren und weiter entwickeln lassen, sind: Diaminschwarz RO, Diaminschwarz BO, Diaminschwarz BH, Diaminblauschwarz E, Diamintiefschwarz OO, Diamintiefschwarz SS, Oxydiaminschwarz SOOO, Diaminbraun V, Diaminbraun M, Baumwollbraun A, Diaminblau 2 B, Diaminblau 3 B, Diaminreinblau, Diaminkatechu, Diaminogen extra, Diaminogen B, Diaminogenblau BB, Diaminogenblau G, Diaminazoblau R.[470] Die in gleicher Weise verwendbaren Diazofarben sind: Diazobordeaux, Diazorotblau 3 R, Diazoblau, Diazobraun R extra, Diazobraun V, Diazobraun G, Diazurin G und R, Diazoschwarz H, Diazobrillantschwarz B und R, Diazoschwarz B und R, Diazoblauschwarz, Diazochromin BS. Ferner die Dianilfarben: Dianilbraun, Dianildunkelblau, Dianilindigo, Dianilschwarz, und einige Sambesi- und Naphthogenfarben der Aktiengesellschaft für Anilinfabrikation in Berlin.

Das Färben mit einem der diazotierbaren Farbstoffe geschieht nach Maßgabe des Färbens mit direkten Baumwollfarbstoffen (s. Färben). Das hierauf in kaltem Wasser gespülte Material wird nun im nitrit- und salzsäurehaltigen kalten Bade während 10–15 Minuten diazotiert und in einem mit etwas Salzsäure versetzten Bade gespült. Das Entwickeln wird in kaltem Bade, das einen der nachstehenden Entwickler enthält, während 10–15 Minuten vorgenommen. Je nach der Wahl des Entwicklers ist die Nuance und die Echtheit der erzielten Färbung verschieden. Als Entwickler haben sich bis jetzt folgende Körper als geeignet erwiesen: Betanaphthol, Alphanaphthol, Naphthylaminäther in Paste und in Pulver (Amidonaphtholäther), Blauentwickler AN (γ-Amidonaphtholsulfosäure), Echtblauentwickler AD (Amidodiphenylamin), Diamin (Metatoluylendiamin), Resorzin, Phenol, Naphthylaminäther N.

Eine kleine Gruppe neuer Farben wird dadurch erzeugt, daß man solche auf die Baumwollfaser gefärbte Farbstoffe, welche im Naphthalinkern noch eine Amidogruppe enthalten, mit diazotiertem Paranitranilin (oder Azophor, Nitrazol, Benzonitrol, Azogen) nachbehandelt. Es werden so meist Braunnuancen in allen möglichen Abstufungen erhalten, die sich durch Wasch- und Säureechtheit auszeichnen.

Neben dem regulären Verfahren der Erzeugung von Azofarben auf der Faser mit Hilfe von Entwicklern kommt bei Diaminkatechu, Diaminbraun M, Diaminbraun V und Diazobraun R extra auch eine Fixierung diazotierter Färbungen ohne Entwickeln durch einfaches Behandeln mit Soda in Anwendung. Das Verfahren wird ausgeführt, indem man wie gewöhnlich diazotiert, dann aber die Baumwolle in ein 50° warmes 5prozentiges Sodabad einführt, 15 Minuten darin umzieht und sie schließlich wie üblich wäscht oder seist. – Ausführlicheres in [5].


Literatur: [1] Lehnes Färberztg. 1889/90, S. 44, 68. – [2] Ebd. 1892 93, S. 11, 149. – [3] Ebd. 1894/95, S. 99, 315. – [4] Ebd. 1883/94, S. 381, 384. – [5] Knecht, Rawson und Löwenthal, Handbuch der Färberei, Berlin 1900/01; Kertesz, A., Die Diaminfarben der Farbenfabrik Leopold Cassella & Co., Frankfurt a. M. 1895/96; Tabellarische Uebersicht über Eigenschaften und Anwendung der Farbstoffe der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co., Elberfeld 1903; Kurzer Ratgeber für die Anwendung der Teerfarbstoffe der Farbwerke vorm. Meister, Lucius & Brüning, Höchst a. M.; Die Farbstoffe der Aktiengesellschaft für Anilinfabrikation, Berlin 1904.

R. Möhlau.

Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 3 Stuttgart, Leipzig 1906., S. 469-471.
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