Wärmetheorie

[815] Wärmetheorie, mechanische. Die mechanische Wärmetheorie oder Thermodynamik im gewöhnlichen, engeren Sinne beschäftigt sich mit den Gesetzen, nach welchen die Wärme durch mechanische Arbeit (Bd. 1, S. 267) erzeugt und wieder in mechanische Arbeit verwandelt werden kann. Im weiteren Sinne durchdringt die mechanische Wärmetheorie fast die ganze Physik, indem sie alle Beziehungen zwischen Wärme und andern Energieformen (Bd. 3. S. 449) zu verfolgen sucht. Hier wird von dieser allgemeineren Auffassung abgesehen.

Der erste Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorie bestimmt die Aequivalenz von Wärme und Arbeit (s. Wärmeäquivalent), entsprechend dem Prinzip von der Erhaltung der Energie (Bd. 3, S. 449). Bezeichnen für einen Körper (Bd. 5, S. 539, 544) oder ein sonstiges materielles System (Bd. 6, S. 333) N die aktuelle Energie, U die virtuelle Energie und in irgendeinem Zeitintervall K die Arbeit der äußeren Kräfte, Q die sonst von außen zugeführte Energie, so lautet die Grundgleichung der Energie bei gleichen Maßeinheiten aller Glieder (Bd. 3, S. 449, [30], S. 26):

d N + d U = d E = d K + d Q.

1.


In der mechanischen Wärmetheorie werden gewöhnlich Fälle betrachtet, in welchen d N =0 und d Q nur Wärme bedeutet. Ferner pflegt man anstatt der Arbeit d K der äußeren Kräfte die Arbeit d L = –d K zur Ueberwindung der äußeren Kräfte einzuführen. Schließlich werden U, L in Arbeitseinheiten, Q aber in Wärmeeinheiten gemessen, womit obige Gleichung die Form annimmt [30], S. 27, 37:

d Q = A (d U + d L)

2.


unter A = 1/W das kalorische Aequivalent der Arbeit verstanden (s. Wärmeäquivalent), welches für die Kalorie als Einheit der Wärme (Bd. 5, S. 301) und Meterkilogramm als Einheit der Arbeit (Bd. 1, S. 267) meist A = 1/424 gesetzt wird. Wenn noch in üblicher Weise von äußeren Kräften nur ein auf die Oberfläche gleichmäßig verteilter Normaldruck von p pro Flächeneinheit in Betracht kommt, so erhält man (Bd. 1, S. 102; [30], I, S. 49):

d L = p d v,

3.


worin d v die Volumenänderung während der Arbeit d L, und damit aus 2. die speziellere Form:

d Q = A (d U + p d v).

4.


Diese wie die noch folgenden Gleichungen werden in der Wärmetheorie gewöhnlich auf die Gewichtseinheit (1 kg) bezogen. Da die virtuelle Energie U im Falle N = 0 die ganze Energie des betrachteten Körpers darstellt (Bd. 3, S. 449), so wird sie in der Wärmetheorie auch kurz Energie genannt. Manche nennen sie innere Arbeit (Bd. 5, S. 197), inneres Arbeitsvermögen, innere Energie, Eigenenergie u.s.w., während L nach Clausius allgemein die äußere Arbeit genannt wird (Bd. 1, S. 102).

Die Gleichung für d Q ist ohne weitere Beziehungen im allgemeinen nicht integrierbar,[815] man kann jedoch durch Multiplikation mit einem integrierenden Faktor 1/T eine unmittelbar integrierbare Gleichung daraus erhalten, womit [30], S. 32, 37:

d Q/A T = d S

5.


das vollständige Differential einer Funktion S derjenigen Größen wird, welche als Unabhängigvariable die Energie U bestimmen, und auch T als Funktion dieser Größen angesehen werden kann (vgl. Bd. 3. S. 450). Für einen Kreisprozeß (s.d.) aber gilt nun:


Wärmetheorie

Der zweite Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorie bestimmt die Bedeutung von T in diesen Gleichungen. Unter gewissen, bis jetzt erfahrungsmäßig betätigten Annahmen, deren Ausdruck verschieden sein kann (s. z.B. Clausiusscher Grundsatz) schließt man, daß für umkehrbare Zustandsänderungen (s. Zustand) T die absolute Temperatur darstellt [30], S. 43, 68, welche sich von der Temperatur t nach Celsius nur um eine Konstante a unterscheidet, T = a + t (Näheres s. Temperatur). Mit dieser Bedeutung von T wird S nach Clausius die Entropie genannt (s.d.), während Zeuner Größen der Form Q/A S als Wärmegewichte bezeichnete.

Von den bisher erwähnten Annahmen ausgehend, gelangt man auf rein mathematischem Wege zu den Hauptgleichungen der Wärmetheorie, welche sich für den allgemein angenommenen Fall, daß die Energie U stets durch die augenblicklichen Werte von p, v allein bestimmt ist, in folgender Form schreiben lassen [30], I, S. 67:


Wärmetheorie

worin cp, cv die spezifischen Wärmen (S. 173) bei konstantem Drucke und konstantem Volumen bedeuten. Zugleich ergibt sich, daß zwischen p, v und t eine Beziehung besteht [30], S. 65,

ψ (p, v, t) = 0,

12.


welche eine der drei Größen p, v, t aus den zwei andern zu bestimmen gestattet und die Zustandsgleichung des betreffenden Körpers genannt wird. Vorstehende Gleichungen pflegen in der mechanischen Wärmetheorie besonders auf Gase und Dämpfe und deren Zustandsänderungen angewendet zu werden (vgl. Gase, Bd. 4, S. 276, 277; Dampf, Bd. 2, S. 538, 544), wobei man unter Zustandsänderungen (s. Zustand) die Aenderungen der Größen p, v versteht, welche als Unabhängigvariable die Energie U und damit auch S, T bestimmen. Häufig werden diese Zustandsänderungen graphisch dargestellt, und zwar derart, daß die v als Abszissen, die p als Ordinaten dienen (Fig. 1), wie schon Watt vorging, oder daß die S als Abszissen, die T als Ordinaten gewählt werden (Fig. 2), wie zuerst von Belpaire geschah. Die Fläche unterhalb der Zustandskurve stellt im ersten Falle die äußere Arbeit L, im zweiten Falle die Wärmezufuhr Q dar, weshalb mitunter die erste Darstellung das Arbeitsdiagramm, die zweite das Wärmediagramm genannt wird. Vgl. Aeußere Arbeit, Kreisprozeß, Nullkurve, Polytropische Zustandsänderung, Dampfmaschinen, Heißluftmaschinen, Verbrennungsmotoren, Regeneratoren, Kältemaschinen.

Die mechanische Wärmetheorie ist ein Kind des neunzehnten Jahrhunderts. Auf den von Mayer und Carnot geschaffenen Grundlagen (den beiden Hauptsätzen) führten Clausius, W. Tomson, Rankine u.a. in den fünfziger und sechziger Jahren desselben den ersten Aufbau aus, während sich Hirn, Zeuner, Grashof u.a. besonders um die technischen Anwendungen verdient machten. Ohne die mechanische Wärmetheorie wäre die moderne Entwicklung der Wärmemotoren (s.d.) und zahlreicher andrer Anlagen nicht möglich gewesen, wie z.B. die heutigen Kältemaschinen (s.d.), die Verflüssigung der schwerst kondensierbaren Gase (s.d.) u.s.w. lediglich durch Uebersetzung von Ermittlungen der Wärmetheorie in die Praxis erreicht wurden.


Literatur: [1] Carnot, Réflexions sur la puissance motrice du feu et sur les machines à développer cette puissance, Paris 1824. – [2] Clapeyron, Mémoire sur la puissance motrice de la chaleur, Journal de l'école polytechnique 1834, XIV, S. 170 (deutsch Poggend. Annalen 1843, LIX, S. 446, 566). – [3] Clausius, Abhandlungen über die mechanische Wärmetheorie, I, Braunschweig 1864; II, ebend. 1867. – [4] Briot, Théorie mécanique de la chaleur, Paris 1869 (deutsch von Weber, Leipzig 1871). – [5] de Saint-Robert, Principes de Thermodynamique, Turin und Florenz 1870. – [6] Grashof, Theoretische Maschinenlehre, I. Hydraulik nebst mechanischer Wärmetheorie und allgemeiner Theorie der Heizung, Leipzig 1875. – [7] Neumann, Vorlesungen über die mechanische Theorie der Wärme, Leipzig 1875. – [8] Hirn, Théorie mécanique de la chaleur, I, Paris 1875; II, ebend. 1876. – [9] Maxwell, Theorie der Wärme, deutsch von Auerbach, Breslau 1877. – [10] Rühlmann, Handbuch der mechanischen Wärmetheorie, I, Braunschweig 1876; II, ebend. 1885. – [11] Herrmann, Kompendium der mechanischen Wärmetheorie,[816] Berlin 1879. – [12] Thomson, W., Mathematical and physical papers, Cambridge, 11882, II 1884, III 1890. – [13] Bertrand, Thermodynamique, Paris 1887. – [14] Clausius, Die mechanische Wärmetheorie, I, Braunschweig 1887; II, ebend. 1889–1891. – [15] Lippmann, Cours de Thermodynamique, Paris 1889. – [16] Tuckermann, Index to the litterature of thermodynamics, Washington 1890. – [17] Gibs, Thermodynamische Studien, deutsch von Ostwald, Leipzig 1892. – [18] Pauly, La chaleur, considerée au point de vue de sa transformation en puissance motrice, Paris 1892. – [19] Mayer, R., Die Mechanik der Wärme, in Gesammelten Schriften, Stuttgart 1893. – [20] Poincaré, Thermodynamik, deutsch von Jäger und Greulich, Berlin 1893. – [21] Kirchhoff, Vorlesungen über die Theorie der Wärme, Leipzig 1894. – [22] Mach, Die Prinzipien der Wärmelehre, Leipzig 1896. – [23] Planck, Vorlesungen über Thermodynamik, Berlin 1897. – [24] Pfaundler, Müller-Pouillets Lehrbuch der Physik und Meteorologie, Bd. 2, 2. Abt., Von der Wärme, Braunschweig 1898. – [25] Zeuner, Technische Thermodynamik, I u. II, Leipzig 1900 u. 1901. – [26] Weinstein, Thermodynamik und Kinetik der Körper, I u. II, Braunschweig 1901 u. 1903. – [27] Helmholtz, Vorlesungen über Theorie der Wärme, Leipzig 1903. – [28] Enzyklopädie der mathematischen Wissenschaften, Bd. V, 1, Leipzig 1903/05, S. 69, 232. – [29] Lorenz, Technische Wärmelehre, München und Berlin 1904. – [30] Chwolson, Lehrbuch der Physik, III. Die Lehre von der Wärme, Braunschweig 1905. – [31] Weyrauch, Grundriß der Wärmetheorie, I u. II, Stuttgart 1905 u. 1907. – [32] Winkelmann, Handbuch der Physik, III. Wärme, Leipzig 1906. – [33] Schule, Technische Wärmemechanik, Berlin 1909. – S.a. Wärme, Wärmeäquivalent, Temperatur, Gase, Dampf, Wärmemotoren u.s.w.

Weyrauch.

Fig. 1., Fig. 2.
Fig. 1., Fig. 2.
Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 8 Stuttgart, Leipzig 1910., S. 815-817.
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