Radium [2]

[627] Radium. – Die Lehre von der atomaren Struktur der Elektrizität, die Elektronentheorie, und die aus ihr sich ergebende Definition der »korpuskularen Strahlungen« ebneten den Weg zu einem besseren, umfassenderen Verständnis der radioaktiven Vorgänge. Rutherford und Loddy führten ihre jetzt allgemein als brauchbar anerkannte Hypothese vom Zerfall, von der Umwandlung der Atome der radioaktiven Substanzen, die sogenannte Desintegrations- oder Transformationstheorie ein. Diese Transformationstheorie lehrt kurz folgendes:

Die Atome, sind nicht unteilbar; sie besitzen vielmehr – gemäß ihren von Element zu Element verschiedenen typischen Eigenschaften – ausgesprochene Struktur. Sie sind aus kleinsten Masseteilchen (»Korpuskeln«) zusammengesetzt, die elementare elektrische Ladungen mit sich führen. Den Verband und die Bewegung der Korpuskeln innerhalb des Atoms regeln zentrifugale und zentripetale Kräftegruppen, anziehende und abstoßende Kräfte zwischen den Elementarteilchen.

Im Innern der Atome herrscht also Bewegung oder doch Bewegungsmöglichkeit, die in ihrer Summe ganz enorme Energiebeträge darstellt. Im allgemeinen überwiegen die anziehenden, den Atomcharakter bewahrenden Kräfte. Es gibt aber auch Atome, in denen die zentrifugalen, die abstoßenden Kräfte diesem Zusammenhaltsbestreben nahezu gleich sind, Atome mit sogenanntem labilen Gleichgewicht, bei denen ein verhältnismäßig geringer Anlaß genügt, um den Verband der Teile zu lösen, das Atom mit explosionsartiger Heftigkeit zur Aufspaltung zu bringen. Solche instabile Atome besitzen die radioaktiven Elemente.

Als eine besonders eigenartige und beachtenswerte Umbildungsstufe tritt uns ein gasförmiger Körper, die sogenannte Emanation, entgegen. Die andern Radioelemente: Thorium und Aktinium, liefern ebenfalls Emanationen, d.h. also eigenartige gasförmige Zersetzungsprodukte. Diese sind jedoch so kurzlebig, so überaus schnell veränderlich und vergänglich, daß sie im Verhältnis zur Radiumemanation allenthalben sehr zurücktreten, so daß ihre Beobachtung sehr erschwert ist und sie insbesondere für die praktische Verwertung (getrennt von ihrer langsamer zerfallenden aktiven Muttersubstanz) zunächst kaum in Frage kommen. Nach ihren allgemeinen physikalischen und chemischen Eigenschaften sind die Emanationen als echte elementare Gase anzusprechen. Da man nun die Emanationen, auf Grund gewisser Erwägungen, als einatomige Gase ansehen kann, so würde der angeführte Molekulargewichtswert auch gleichzeitig das Atomgewicht der Radiumemanation darstellen. Auch das Spektrum der Radiumemanation ist bereits mehrfach Gegenstand eingehender Untersuchungen gewesen. Das (photographierte) Spektrum wies gegen 100, darunter mehrere besonders charakteristische Linien auf, die vor allem im Grün und im Violett gut ausgeprägt waren.[627]

Beachtenswert ist auch das sogenannte Emanationsvermögen einer radioaktiven Substanz, d.h. ihre Fähigkeit, Emanation nach außen abzugeben. Diese wird bedingt durch die besondere radioaktive Natur der betreffenden Substanz sowie durch gewisse äußere physikalische Umstände. Die Menge der von 1 g Radium in einer Sekunde entwickelten Emanation würde, nach den Messungen von Rutherford (1908) unter normalen Druck- und Temperaturverhältnissen ein Volumen von 1,28 · 10-6 cbmm besitzen. Die Menge Emanation, die mit 1 g Radium im Gleichgewicht steht, beträgt nach Rutherford bei normalen Druck- und Temperaturverhältnissen ungefähr 0,6 cbmm. Trockene, radioaktive Substanzen senden übrigens nahezu keine Emanation aus, sondern okkludieren das Gas sehr innig. Erst durch Befeuchten (schon durch bloßes Anhauchen) wird die Emanation teilweise freigemacht, auch durch Erhitzen kann ein Teil des okkludierten Gases ausgetrieben werden.

Nach ihrem besonderen chemischen Verhalten würden die Emanationen in die Reihe der seltenen, inerten oder sogenannten Edelgase einzureihen sein, denn sie zeichnen sich durch einen vollkommenen Mangel an chemischer Reaktionsfähigkeit aus. Man würde sie in Analogie zu den Gasen der genannten Gruppe, der sogenannten Argongruppe – wie schon angedeutet wurde – als einatomig zu betrachten haben.

Die Emanationen selbst sind zwar elektrisch neutral, sie senden jedoch α-Strahlen (mit positiver Ladung) aus, die sich durch ihre lebhaften Phosphoreszenzwirkungen und Scintillationserscheinungen zu erkennen geben. Eingehende Untersuchungen über die Natur dieser α-Strahlen (insbesondere durch Rutherford) haben es wahrscheinlich gemacht, daß es sich bei dieser Art von korpuskularer Strahlung um einheitliche Ströme von positiv geladenen Heliumatomen handelt. Damit wäre also die Erzeugung, die ständige Neubildung eines anerkannten chemischen »Elementes« aus einer andern, ebenfalls als »elementar« (im gewohnten Sinne) erwiesenen Materie veranschaulicht, wäre dargetan oder doch angedeutet, daß auch die scheinbar ruhenden Pole unsrer Naturerkenntnis, die chemischen Elemente, den ewigen Gesetzen des Wandels unterliegen,

Charakteristisch für die einzelnen, den verschiedenen Radioelementen entflammenden Emanationsarten ist die sogenannte Reichweite ihrer α-Strahlen, d.h. der Weg, den diese »Strahlen« bis zum Aufhören ihrer spezifischen Wirkungen zurücklegen können. Unter Aussendung von α-Strahlen zersetzen sich also die Emanationen nach den in der Desintegrationstheorie ausgesprochenen Gesetzmäßigkeiten weiterhin in radioaktive Unterstufen, die ihrerseits wieder beträchtliche Mengen von Energie von verschiedenster Form und Intensität liefern. Die Geschwindigkeit dieser Zersetzung wird charakterisiert durch die sogenannten »radioaktiven Konstanten«. Beim Radium z.B. ist bereits nach 3,85 Tagen die Hälfte der ursprünglich vorhandenen Emanationsmenge der Umwandlung unterlegen. Die sogenannte Halbwertsperiode oder Halbzeitkonstante ist ein wertvolles Merkmal zur Orientierung über die Art der jeweils vorliegenden Emanation.

Unter der Einwirkung von Emanation wird Wasser zerlegt; organische Substanzen, die mit ihr einige Zeit in Berührung sind, werden angegriffen bezw. charakteristisch verändert.

Weitaus im Vordergrund des Interesses steht naturgemäß gegenwärtig ihre Anwendung zur Behandlung bezw. Heilung von Krankheiten. Für die Verwertung der Radioaktivität beziehungsweise der radioaktiven Substanzen auf diesem bedeutsamen Gebiet hat man im wesentlichen zwei Methoden zu unterscheiden:

Die Allgemeinbehandlung und die Lokalbehandlung.

Während für die letzere (die Lokalbehandlung) vorwiegend Bestrahlungen durch starke Radiumpräparate, durch Kompressen und ähnliche intensive Einwirkungen in Frage kommen, dienen die Emanationen fast ausschließlich der ersteren Behandlungsart und zeichnen sich hierbei vor allen andern spezifischen Heilmitteln durch die vielfältigen Möglichkeiten ihrer Einführung in den Organismus und die Vollständigkeit ihrer Verteilung in demselben aus. Demgemäß liegt auch der Komplex der Krankheiten, die einer Beeinflussung durch die gasförmigen radioaktiven Substanzen zugänglich sind, vor allem im Gebiete der Stoffwechselstörungen und der Entzündungen. Mit Hilfe der Emanationschirurgie wurden u.a. schon recht beachtenswerte Erfolge erzielt in der Behandlung von Gelenk- und Muskelrheumatismus, von Gicht, von Eiterungen und entzündlichen Prozessen. Auch hat sie, in geeigneter Dosis angewandt, in gewissen Fällen beruhigende und schlafbefördernde Wirkungen gezeigt. Um eine sichere, dauernde Einwirkung auf den Stoffwechsel zu erzielen, ist es nötig, die Emanation möglichst lange im Organismus zirkulieren und auf diese Weise ihren aktivierenden Einfluß auf das Blut und die Fermente betätigen zu lassen. Man kann sie nun dem Körper auf dem Wege der Inhalation, d.h. durch den Atmungsapparat zuführen oder vermittels der Trinkkur, d.h. also durch den Verdauungstraktus. Ferner werden Bäder mit aktivem Wasser in Anwendung gebracht, auch entsprechende Bleibeklistiere sind vorgeschlagen und verwendet worden. Der mehr lokalen Einwirkung dienen Injektionen mit Wasser von Stärkerem Emanationsgehalt.

Ob eine Aufnahme der Emanation durch die Haut stattfindet, wie sie für die direkte Wirkung der radioaktiven Bäder erforderlich wäre, ist zurzeit noch strittig. Es wird nach den gegenwärtigen Erfahrungen vielleicht eher anzunehmen sein, daß auch beim Gebrauch von emanationshaltigen Bädern der wesentlichste Effekt auf einer Inhalation der aus dem Badewasser entweichenden Emanation beruht.

Bei der Inhalation reichert sich die Emanation im Blute beträchtlich an. Gudzent (Oberarzt an der Ersten Medizinischen Klinik der Universität Berlin) fand, daß nach dreistündigem Aufenthalt in einer abgeschlossenen, emanationshaltigen Atmosphäre das Blut des Patienten in gleichem Volumen 6–7 mal soviel Emanation enthielt als die Luft des Atmungsraumes. Die Ursache für diesen überraschenden Anreicherungsvorgang ist zunächst noch nicht[628] geklärt; sie könnte, wie schon angedeutet wurde, in einer besonderen Absorptionsfähigkeit der roten und weißen Blutkörperchen für das radioaktive Gas gegeben sein.

Beim Trinken emanationshaltigen Wassers verbleibt die Emanation relativ lange im Körper, da sie nur langsam aus dem Verdauungstraktus in das Blut übergeht (diffundiert), aus dem sie dann allerdings schneller wieder abgegeben wird. Es wird daher empfohlen, mehrmals am Tage kleinere Dosen bei vollem Magen zu verabreichen, derart, daß der tägliche Gesamtbetrag ungefähr 1000–1500 Mache-Einheiten (unter Umständen auch mehr) entspricht.

Die Besserung und Heilung gichtiger Zustände geht nach den speziellen Untersuchungen von Gudzent nicht von den direkten α-Strahlen der Emanation aus, sondern von den sehr weichen β-Strahlen, die nach den neueren Beobachtungen von O. Hahn das Radium D aussendet. Dieses ist ein späteres Zerfallsprodukt der Emanation von sehr langer Umwandlungsperiode; man hielt es bisher für strahlenlos. Gudzent hat nun durch exakte Versuche nachgewiesen, daß unter dem Einflusse dieser weichen β-Strahlen die beständige, schwerlösliche Form des Mononatriumurates, durch deren Absatz im Organismus die Erscheinungen der Gicht hervorgerufen werden, in eine leichter lösliche Form übergeht und daß ferner die Harnsäure sogar bis zu Kohlensäure und Ammoniak aufgespalten und auf diese Weise tatsächlich mit ausgeschieden wird. Wenn es sich also darum handelt, die festsitzenden Harnsäureablagerungen der Gicht zur Lösung, zur Zersetzung und Ausscheidung zu bringen, so wird eine länger andauernde Beeinflussung des Organismus durch die Emanation bezw. deren Derivate notwendig sein. Eine solche durchgreifende Allgemeinbehandlung vermittelt nach den bisherigen klinischen Erfahrungen sehr gut auch der längere Aufenthalt im »Emanatorium«. Dies ist – ganz allgemein – ein größerer, allseitig abgeschlossener Raum, in welchem sich eine oder mehrere Personen stehend oder liegend aufhalten können bei andauernder Atmung der radioaktiven, d.h. emanationshaltigen Luft. Für Beseitigung der verbrauchten Gase, Zufuhr von Sauerstoff und neuer Emanation ist dabei naturgemäß Sorge zu tragen. Daneben wirkt die Trinkkur besonders auf Darm und Leber ein; es wird daher als zweckmäßig empfohlen, sie mit der Inhalation zu kombinieren.

Durch die neuerdings eingehend und systematisch verfolgten Wirkungen der Radiumzerfallsprodukte, insbesondere der Emanation, auf den menschlichen Organismus wird für manche Heilerfolge altbekannter und bewährter Badeorte eine befriedigende Erklärung geliefert.

Im Interesse einer einheitlichen Bewertung von radioaktiven Wässern bezieht man, nach dem Vorschlage von Mache (Wien) die Messungen auf denjenigen Sättigungsstrom (i, ausgedrückt in absoluten elektrostatischen Einheiten), den die in 1 l Wasser enthaltene Emanation in einem Kondensator von bekannten Dimensionen während 1 Stunde unterhalten kann, und multipliziert die erhaltenen Werte dann noch mit 1000, um bei den meist schwächer aktiven Wässern nicht zu viele Dezimalstellen zu erhalten; man mißt also gewissermaßen nach 1/1000 elektrostatischer Einheiten.

Die Größe 1 × 103, bezogen auf 1 Liter und 1 Stunde, bezeichnet man konventionell als »Mache-Einheit«.


Literatur: Weidig, Zeitschrift für öffentliche Chemie 1912, 4, 61, und Jahrbücher der Chemie 1910, 1911.

Mezger.

Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 9 Stuttgart, Leipzig 1914., S. 627-629.
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