Naturreligion

[458] Naturreligion (wohl zu unterscheiden von natürlicher Religion) nennt man in erster Linie im Gegensatz zur Kulturreligion die Religion der sogen. Naturvölker, die noch keine wirkliche Geschichte haben. Da keins dieser Völker mehr den wirklichen Urzustand der Menschheit veranschaulicht, ihr gegenwärtiger Zustand vielmehr häufig als Entartung und Verwilderung erscheint, so sind die Untersuchungen über die unzähligen Formen der N. mit großen Schwierigkeiten verknüpft. In zweiter Linie aber und im Gegensatz zur ethischen Religion muß der Komplex aller vorzugsweise mythologischen Religionen als N. bezeichnet werden. Ihr Geheimnis besteht im Mythus, d.h. in dichterischer Personifikation der Naturkräfte und darauf beruhender Dramatisierung der Naturvorgänge, insonderheit der Himmelserscheinungen. Erst die ethische Religion erhebt diese Vorgänge und jene Kräfte in den Bereich des Geistes, indem sie die Figuren der Mythologie zu Vertretern sittlicher Mächte und das sich ergebende Drama zu einer Darstellung der sittlichen Grunderfahrungen der Menschen, ja der Menschheitsgeschichte selbst unter dem Gesichtspunkt der Erreichbarkeit der ihr gestellten sittlichen Aufgaben umbildet; denn Gott ist dann die Macht, die diese Erreichbarkeit bedingt und verbürgt. Der Kallus der N. bedient sich dinglicher Mittel, denen dann die ethische Religion den Charakter von Symbolen gibt. Alle N. ist bedingt durch den örtlichen Gesichtspunkt, von dem aus die Naturkräfte und Erscheinungen in Sicht genommen werden; sie umfaßt daher polydämonistisch-magische Stammreligionen und polytheistische Volksreligionen; alle ethischen Religionen schreiten in ihrer Entwickelung über die Volks- und Sprachgrenzen hinweg, weil sie in Erfahrungen wurzeln und Güter schützen wollen, die, als dem Bereiche des persönlichen Lebens angehörend, allgemeinmenschlichen Charakter tragen. Beide Stufen der Religion sind in fließendem Übergang begriffen, und die N. setzt sich bis zu einem gewissen Grad auch in jede ethische Religion hinein fort. Vgl. Religionswissenschaft.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 14. Leipzig 1908, S. 458.
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