Mythologie

[348] Mythologie (griech.), die Lehre von den Mythen (s. Mythus), hat zum eigentlichen Gegenstande die aus der Vorzeit überlieferten Erzählungen, in die sich die Vorstellungen von dem Entstehen, dem Leben und den Handlungen der Götter im Verhältnis zueinander und zu den Menschen eingekleidet haben, sie bildet einen Hauptgrund der Götterlehre und damit der Religionsgeschichte. Im weitern Sinn umfaßt die M. auch die Sagen von den Helden der Vorzeit, insofern diese teils ursprünglich Göttergestalten sind, teils als über den gewöhnlichen Menschen und den Göttern näher stehende Wesen galten. Die entwickeltste und schönste M. ist die der Griechen, die hier vorzugsweise in Betracht kommt. Die Entstehung der Mythen ist, wenigstens zum großen Teil, darauf zurückzuführen, daß man die Wirkungen der Naturkräfte willensbegabten Persönlichkeiten zuschrieb, die je nach Art dieser Wirkungen als milde und freundliche oder als zürnende und feindliche Wesen aufgefaßt wurden. Weil aber die Wirkungen der Naturkräfte, also auch die sie hervorbringenden Personlichkeiten weit über menschliche Kraft erhaben waren, so erschienen diese als Gottheiten. Da jedoch der Mensch solche ihn überragende Persönlichkeiten nur als potenzierte Menschen sich vorstellen kann, so müssen sie zwar einen dem menschlichen analogen Ursprung haben und auf menschliche Weise leben und empfinden, aber zugleich, da sie nicht aufhören, sich in der Natur zu offenbaren, unsterblich sein. Diese aus der Naturbetrachtung entstandenen Mythen, die man physische nennen kann, sind die ältesten; sie werden im Fortschritt menschlicher Gesinnung mehr und mehr zu ethischen umgebildet. Der nach physischer Auffassung als der mächtigste erscheinende Gott wird zum Götterkönig, den die ethische Weiterbildung mit Eigenschaften eines guten irdischen Königs ausstattet, also neben Macht und Majestät mit Gerechtigkeit, Milde, Weisheit etc. Aus dem Wesen dieses Charakters leitet die mythenschaffende Tätigkeit in seinem Verhältnis zu andern Charakteren Begebenheiten, Erlebnisse und Konflikte ab, in denen sich der Charakter des Gottes oder eine Seite desselben offenbart. Viele Götter- und Heroengestalten hatten ursprünglich nur lokale Bedeutung und sind erst mit der Zeit Gemeingut geworden, teils mit dem zunehmenden Verkehr, ganz besonders aber durch die Dichter seit Homer und Hesiod. Die griechischen Dichter sind denn auch die Hauptquelle für die Kenntnis der griechischen M., wiewohl sie die ursprüngliche Fassung der Mythen in zahllosen Fällen nach ihren Zwecken umgestaltet haben. Unter den Prosaikern sind besonders wichtig Apollodoros (s. d. 3) mit seiner Bibliothek und Pausanias wegen des großen Reichtums an Lokaltraditionen. Zu den griechischen Schriftstellern treten ergänzend hinzu die von griechischen Quellen abhängigen Römer, wie namentlich Ovid und Hygin. Eine weitere ergiebige Quelle sind die Kunstwerke, die meist die von den Dichtern gebotenen Mythen künstlerisch gestalten, bisweilen aber auch in schriftlicher Überlieferung verlorene vorführen.

Galten für die große Masse des gläubigen Volkes die Mythen bis zum Untergang der antiken Welt als Tatsachen, so fehlte es nicht an solchen, die sie zwar als nicht ohne weiteres verwerfliche Überlieferung anerkannten, sie aber durch rationalistische Betrachtung rechtfertigen zu müssen glaubten, indem sie sie teils, so namentlich die Stoiker, allegorisch als Unterlegung eines physikalischen oder religiösen Sinnes, teils pragmatisch als Niederschlag historischer Geschehnisse erklärten, wie besonders der nach Euemeros (s. d.) benannte Euemerismus. Ähnliche Auffassungen, die bei aller Verschiedenheit das Gemeinsame haben, daß sie in der mythischen Form absichtliche oder unabsichtliche Verdunkelung alter, religiöser, philosophischer oder historischer Wahrheiten sahen, haben bis zum 18. Jahrh. hindurch geherrscht, ja noch im 19. Vertreter gefunden. So die namentlich von Anhängern der romantischen Schule, wie Fr. Schlegel, Görres, auch Schelling, geteilte Vorstellung, von einem Urvolk im Orient (Indien, Ägypten, Hochasien etc.), das im Besitz einer Urreligion, d.h. einer reinen Gotteserkenntnis, gewesen sei, und dessen Urweisheit durch Priester unter den rohen Völkern der Erde, namentlich auch den noch unkultivierten Griechen ausgebreitet worden sei, und zwar wegen deren unzulänglicher Bildung und Erkenntniskraft auf allegorische Weise, in einer absichtlich erfundenen Bildersprache (d.h. Symbolik in der Form des Mythus), während die abstrakte Lehre der reinen Religion sich esoterisch in den Mysterien (s. d.) erhalten habe. Als[348] Begründer der wissen scha stlichen M. ist Ch. G. Heyne (1729–1812) anzusehen, der zuerst die M. als Teil der Realphilologie behandelte und den Mythus als Ausdrucksweise einer bestimmten Zeit betrachtete. Aus seiner Schule ging CreuzerSymbolik und M. der alten Völker«, Leipz. 1810–12, 4 Bde.) hervor, auf den jedoch die Ansichten von Görres (s. oben) und der geistesverwandten Richtungen großen Einfluß gewannen. Eine Reaktion gegen sein System ging von J. H. Voß aus, der in seinen »Mythologischen Briefen« (Stuttg. 1794, 2 Bde.) und in seiner »Antisymbolik« (das. 1824–26, 2 Tle.) die Forderungen der Kritik und der philologischen Methode verfocht, wenn auch nicht ohne Einseitigkeit und nicht frei von Rationalismus. Seine Lichtseiten zeigt in stärkerm Maße Lobecks berühmtes Werk »Aglaophamus, sive de theologiae mysticae Graecorum causis« (Königsb. 1829). Auf die neuern Ansichten über M. hat O. Müller (namentlich mit seinen »Prolegomena zu einer wissenschaftlichen M.«, Götting. 1825) besondern Einfluß gewonnen. Auf Grund des Prinzips der Autochthonie aller griechischen Entwickelung führte er den volkstümlichen Ursprung und Inhalt der M. zuerst systematisch durch und gelangte zu der Annahme einer mythenproduzierenden Zeit, in der das griechische Volk nach innerer Notwendigkeit seiner damaligen Bildungszustände in den Mythen die natürlichen Formen seines Denkens und Dichtens besaß. Ziemlich dieselbe Richtung findet sich bei ButtmannMythologus«, Berl. 1828), nur daß er das lokale Gepräge, auf das Müller in erster Linie ausgeht, weniger berücksichtigt, dafür aber bereits historische Mythenvergleichung übt. Auch Welcker vertritt einen verwandten Standpunkt, namentlich in seiner »Griechischen Götterlehre« (Götting. 1858–60, 3 Bde.), desgleichen Preller (»Griechische M.«, Berl. 1854, 2 Bde.; 4. Aufl., besorgt von Robert, 1887–93, Bd. 1).

Vom Standpunkte der neuern Philosophie und Theologie ward die M. der Alten betrachtet von Solger, Hegel, Weiße, Stuhr. Mehr in theologischer Beziehung ist Baurs vom Schleiermacherschen Standpunkt bearbeitete »Symbolik und M., oder die Naturreligion« (Stuttg. 1824–25, 2 Tle.) wichtig. An unberechtigter Hineintragung des christlichen Standpunktes in die griechische M. leiden die Ansichten von Nägelsbachs »Homerischer Theologie« (3. Aufl., Nürnb. 1884) und »Nachhomerischer Theologie« (das. 1857); demselben Fehler verfällt auch LasaulxStudien des klassischen Altertums«, Regensb. 1854), der von einer nahen Verwandtschaft der antiken Religionsideen mit denen der Offenbarung des Alten und Neuen Testaments ausgeht.

Eine Tochter der vergleichenden Sprachwissenschaft ist die vergleichende M., als deren eigentlicher Vater A. Kuhn (s. d. 2) anzusehen ist. Die von ihm begründete und namentlich von Max Müller (s. d. 21) fortgesetzte Richtung geht von der Annahme aus, daß bei den indogermanischen Völkern, besonders den Indern und Griechen, nicht nur die mythischen Grundbegriffe der der Trennung vorausliegenden Urzeit entstammten, sondern auch die sprachlichen Benennungen. Diese seinerzeit sehr verbreitete Richtung hat sich indes durch die Willkür und Gewaltsamkeit, mit der sie die Zahl der Vergleichungspunkte zu vermehren suchte, das Vertrauen der Forscher verscherzt und hat jetzt wenig Geltung mehr. Man hat erkannt, daß die sichern sprachlichen Übereinstimmungen auf diesem Gebiet sich auf eine verschwindend kleine Zahl von Fällen beschränken, die auch keineswegs allgemein sind, und daß nicht Namen und Wörter, sondern nur Vorstellungen und Begriffe Hauptgegenstand der Vergleichung sein können, ein Standpunkt, den besonders W. Mannhardt (s. d. 2) und H. Usener (»Griechische Götternamen« u.a.) vertreten. Auch die Annahme einer umfänglichen Mythenentlehnung aus dem Orient (besonders Gruppe, Griechische M., Münch. 1897–1905) findet erheblichen Widerspruch.

Ein nicht zu unterschätzendes Hilfsmittel für die Rekonstruktion der indogermanischen Religion und zugleich ein Korrektiv für die vergleichende M. bietet die Ethnologie, insofern sie von dem religiösen und sittlichen Zustand andrer noch auf gleicher oder ähnlicher Stufe befindlicher Völker Kunde gibt und zeigt, wie unter ähnlichen Umständen überall und allezeit ähnliche Mythen entstehen. Nach dieser Seite sind außer Mannhardts und Schwartz' Arbeiten besonders BastianAllgemeine Grundzüge der Ethnologie«, Berl. 1884) und Andrew LangCustom and myth«, 3. Aufl., Lond. 1890) fruchtbar geworden.

Was war es nun, was zuerst die religiösen Empfindungen und deren Äußerungen bei den Indogermanen anregte? Die Untersuchung der Götternamen und Göttersagen bei den verwandten Völkern gibt in Übereinstimmung mit der Ethnologie die Antwort, daß dies die Vorgänge in der Natur waren: die Erscheinungen der Sonne und des Mondes, der Morgen- und Abendröte, des Blitzes und Donners, des Sturmes und Windes. Die Menschen fühlten sich abhängig von der Macht dieser Naturerscheinungen und stellten sich diese Naturwesen belebt und zwar, ihrer kindlich-naiven Anschauung folgend, als Wesen wie sie selbst oder wie die Wesen ihrer Umgebung, nur, den Wirkungen entsprechend, mit übermenschlicher Kraft ausgestattet vor. Wie das Leben der Menschen auf jener Stufe ein nur von natürlichen, nicht von sittlichen Prinzipien getragenes war, so ließen sie auch die Naturgötter rein nach natürlichen Trieben, nicht mit sittlichem Bewußtsein handeln. Zwar blieb der sittliche Fortschritt nicht ohne Einfluß auf die Vorstellungen von den Göttern, insofern auch diese allmählich mehr und mehr in sittlicher Beziehung vervollkommt wurden; aber alle jene uralten Züge von natürlicher Roheit zu verwischen, ist keinem Fortschritt gelungen. Mit der Trennung der arischen Völkerfamilie ist die Periode der Mythenbildung nichts weniger als abgeschlossen gewesen, vielmehr, nur in andern Formen, stetig fortgeschritten. Mit Recht erkennt es daher die Wissenschaft der M. als ihre Aufgabe, die verschiedenen Mythenschichten zu scheiden und die Frage nach ihrem Eintritt und Alter aufzu werfen. Mithin wird es auch fortgesetzte Aufgabe der Wissenschaft bleiben, sich in die M. jedes einzelnen der stammverwandten Völker zu versenken, und dieser Zweig der Forschung wird durch die Mythenvergleichung in keiner Weise beeinträchtigt, im Gegenteil gefördert. Aber auch noch eine besondere Art der Mythenvergleichung muß Pla tz greifen. Es steht nämlich fest, daß die Trennung der arischen Völker nicht mit einemmal, sondern allmählich und gruppenweise erfolgt ist, wenn auch über das Wie und Wann der Trennung bei weitem noch keine Sicherheit herrscht, nicht einmal darüber, ob Griechen und Italer mit oder ohne Kelten nach der Trennung von den Germanen und Slawo-Letten noch eine Einheit gebildet haben. Gerade hier vermag vielleicht eine in dieser Richtung angestellte Mythenvergleichung der Sprachforschung in die Hände zu arbeiten, und jedenfalls ist die insbes. von W. H. Roscher (s. d.) gepflegte Vergleichung[349] griechischer und italischer Mythen als sehr verdienstvoll zu bezeichnen. Was den Inhalt der Mythen betrifft, so ist es auch nach der Trennung und nach der erfolgten Sonderexistenz der Völker die Natur gewesen, die ihrem Mythentrieb die mächtigsten Impulse gegeben hat. Nicht nur die mitgebrachten Naturanschauungen wurden auf die neuen Wohnsitze übertragen, wobei größere oder kleinere Veränderungen derselben eintraten, sondern auch die neuen Wohnsitze selbstriefen durch die Besonderheit ihrer landschaftlichen und klimatischen Verhältnisse neue Mythen hervor. Da diese Verhältnisse aber von den unsrigen vielfach abweichen, so ist es für ein Eindringen in das Wesen dieser Mythenschicht unerläßlich, womöglich durch eigne Beobachtung sich die größtmögliche Bekanntschaft mit jenen Verhältnissen zu verschaffen. Dadurch sind die Arbeiten von Forchhammer und Aug. Mommsen besonders wichtig. E. Curtius, H. D. Müller, v. Wilamowitz, Crusius, E. Meyer, E. Bethe u.a. haben, O. Müllers Anregung folgend, die Aufhellung und Wanderung der Mythen der einzelnen griechischen Stämme und Städte unternommen, während die Arbeiten von B. Schmidt (»Das Volksleben der Neugriechen und das hellenische Altertum«, Leipz. 1871; »Griechische Märchen«, das. 1877) und UsenerLegenden der heil. Pelagia«, Bonn 1879; »Religionsgeschichtliche Untersuchungen«, das. 1888) der Aufdeckung des Nachlebens griechischer und römischer Mythen in Legenden, Sagen und Gebräuchen der Jetztzeit gewidmet sind. Dem Nachweis des bedeutenden Einflusses des Seelenkultes und des Unsterblichkeitsglaubens auf die Sagen und Gebräuche der Alten ist E. Rohdes ausgezeichnetes Werk »Psyche« (Freib. i. Br. 1890–93, 2 Bde.; 3. Aufl. 1903) gewidmet. Neue Grundlagen der mythologischen Forschung bietet Wundts »Völkerpsychologie« (Bd. 2: »Mythus und Religion«, 1. Teil, Leipz. 1905).

Für die griechischen Kunstwerke als Quelle der M. sind zu nennen: Overbeck, Griechische Kunstmythologie (besonderer Teil, Bd. 1–3, Leipz. 1871–89); Conze, Heroen und Göttergestalten der griechischen Kunst (Wien 1874–75); C. O. Müller und F. Wieseler, Antike Denkmäler zur griechischen Götterlehre (4. Ausg. von Wernicke u. Graef, Leipz. 1899 ff.). Populäre Zwecke verfolgen: Seemann, M. der Griechen und Römer (4. Aufl. von Engelmann, Leipz. 1895); Stoll, Die Götter und Heroen des klassischen Altertums (7. Aufl., das. 1885) und Handbuch der Religion und M. der Griechen und Römer, für Gymnasien (6. Aufl., das. 1875); Göll, Illustrierte M. (8. Aufl., das. 1904). Auch in Baumeisters »Denkmälern des klassischen Altertums« (Münch. 1884–88, 3 Bde.) ist ein beträchtlicher Raum der M. gewidmet. Die ausschließlich auf römische M. und auf die germanische Mythenwelt bezüglichen Werke sind unter den Artikeln »Römische Mythologie«, »Deutsche Mythologie« und »Nordische Mythologie« angeführt. Ein »Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen M.« gibt Roscher im Verein mit Birt, Crusius u.a. heraus (Leipz. 1884 ff.). Durch dieses sind die ältern Werke, unter denen das »Handwörterbuch der griechischen und römischen M.« von Ed. Jacobi (Koburg 1830–35, 2 Bde.) das beste war, beinahe überflüssig gemacht worden. Ein Organ für das ganze Gebiet der Mythenforschung ist das »Archiv für Religionswissenschaft« in seiner Neugestaltung (Leipz. 1904 ff.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 14. Leipzig 1908, S. 348-350.
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