Schamanismus

[689] Schamanismus, das Religionssystem der meisten niedern Naturvölker, deren geistige Führer sich als Zauberer und Herren über die Natur gebärden. Den Namen Schamane, den die Zauberpriester der si birischen Stämme führen, leitet man (nach F. Max Müller fälschlich) von Sramana, der indischen Bezeichnung für buddhistische Büßer, ab. Sie empfangen Offenbarungen über Geheimes, Heilmittel und Zukünftiges, indem sie mit Trommeln und Klappern ihre Gesänge begleiten und sich in einen Zustand nervöser Aufregung versetzen, der sich bis zu krampfhaften Zuckungen steigert, wobei sie angeblich mit den Göttern und den Geistern der Verstorbenen verkehren. Ähnlich wie die Schamanen Sibiriens verfahren die Angekoks der Eskimo, die Medizinmänner Nordamerikas, die Piajes oder Zauberpriester der Südamerikaner, die Fetischmänner oder N'gangas in Afrika und die australischen und papuanischen Kilos. Der Grundgedanke des S. beruht auf der Vorstellung, daß der Mensch mit unsichtbaren Mächten in Verkehr treten und sie zur Folgsamkeit zwingen könne. Beides geschieht durch Anwendung von sinnbildlichen Gebräuchen und geheimnisvollen Kraftsprüchen, auch durch narkotische Tränke und Hypnotisierung. Dieser Selbstbetrug hängt sich an alles Rituelle und Symbolische, wenn man ihm eine zwingende Gewalt beimißt und das Gebet zur Zauberformel erhöht. Der buddhistische Glaube, der den Priestern Macht über die Götter gibt und mit Gebetmaschinen arbeitet, ist reiner S. Auch der Opferdienst, aus dem reinen Gefühl des Dankes entsprungen, vermag schamanistisch zu entarten. Die Gottheit erscheint dann als der beschenkte Teil, und der Geber erwartet für seine Wohltaten eine wohlerworbene Gegenleistung. Nirgends hat ein solcher Selbstbetrug fortgeschrittene Völker so umgarnt wie in Indien, denn an der Spitze aller Schamanen, methodisch geschult, verfeinert durch Gedankentiefe, gestützt auf tausendjährige Übung, stehen die Brahmanen, denen allein der geheime Sinn und die Wirkungskraft der Bräuche und Sprüche bekannt war, und die sich schließlich selb st übermenschliche Eigenschaften beimaßen und zu fleischgewordenen Göttern erhoben. Alle Völker unterlagen auf niedriger Zivilisationsstufe dem S., wenige haben ihn völlig abgestreift; wir selbst sind die Hexenprozesse erst im 19. Jahrh. losgeworden und haben in dem Geisterklopfen und ähnlichem Unfug noch heute Nachklänge. Vgl. Roskoff, Das Religionswesen der rohesten Naturvölker (Leipz. 1880); Radloff, Das Schamanentum und sein Kultus (das. 1885); Priklonskij, Das Schamanentum der Jakuten (in den Mitteilungen der Wiener Anthropologischen Gesellschaft, 1888); Peschel, Völkerkunde (7. Aufl., Leipz. 1897); Achelis, Moderne Völkerkunde (Stuttg. 1896).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 17. Leipzig 1909, S. 689.
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