Schwanzmenschen

[111] Schwanzmenschen, Personen, bei denen die Fortsetzung des Rückgrats nicht wie gewöhnlich im Gefäßfleisch verwachsen ist, sondern mit gelegentlicher Verlängerung frei hervorragt wie ein Tierschwanz. Im Altertum galten allgemein als geschwänzt die Kalystrier in Indien, Völker im Innern von Afrika, auf drei hinterindischen Inseln und auf einer Insel westlich von Sizilien. Im Mittelalter wurden diese Wundergeschichten gern geglaubt, auch neuere Reisende erzählten von geschwänzten Menschen, deren Schwänze aber lediglich Teile des Kostüms waren. Die Niam-Niamkrieger schmücken sich mit Tierschwänzen, die Bongoweiber mit am Hinterteil herabhängenden Quasten aus Bastfasern, und in ähnlicher Weise erklären sich die meisten dieser Nachrichten. Geschwänzte Völkerschaften gibt es nicht. Dagegen hat man auf Java, Borneo, Ceram, Timor einzelne geschwänzte Menschen aufgefunden, am häufigsten bei Stämmen, die in das Innere der Inseln zurückgedrängt und zu dauernden Heiraten innerhalb des Stammes gezwungen sind, so daß sich die Mißbildung durch Inzucht erklärt. Derartige Fälle kommen aber bei allen Rassen vor und zeigen in der äußern Erscheinung wie in der anatomischen Zusammensetzung des Schwanzes große Verschiedenheiten. Zur Erklärung könnte man, wenn die Schwänze deutlich erkennbare überzählige Wirbel enthalten, an Atavismus denken; solche Fälle wurden aber nur selten beobachtet. Die meisten Vorkommnisse erinnern an Hemmungsbildungen. Der menschliche Embryo ist anfänglich ebenso wie der der übrigen Säugetiere mit einem wirbellosen Schwanz versehen, der anfangs eine relativ recht erhebliche Länge besitzt, dann aber sich zurückbildet und schon in der siebenten Woche nur noch eine kurze Hervorragung, den Steißhöcker, bildet, der den Hinterbacken dicht aufliegt und mit der Körperoberfläche fest verwachsen ist. Als solche Hemmungsbildungen sind mehrere bekannte Fälle von freien Schwänzen oder weniger verwachsenen Steißhöckern aufzufassen. Andre Formen von Menschenschwänzen beruhen auf exzessivem Wachstum der betreffenden Teile in der embryonalen Periode. Sie enthalten Wirbelknochen, jedoch nicht überzählige, da es sich nur um Vergrößerung der normalen Steißbeinwirbel handelt. Die Schwänze bilden kurze Stummel, während die aus Frühzuständen, in denen der embryonale Schwanz noch nicht zurückgebildet war, stammenden langgestreckt, dünn, an der Spitze mehr oder weniger eingerollt sind und keine Wirbel enthalten. Sehr häufig bleibt der Haarwirbel, der im embryonalen Zustande den Steißhöcker bedeckt, bestehen oder wächst weiter aus, so daß ein Haarschwanz in der Gegend des Kreuzbeins hervorspringt. Solche Haarschwänze am Kreuzbein sind besonders häufig in Griechenland, und es ist wahrscheinlich, daß sie den alten Künstlern Anlaß zu den Darstellungen bei ihren Faunen und Satyren gegeben haben. Häufig ist dabei eine Mißbildung (Rückgratsspalte) vorhanden. Vgl. Ecker und Bartels im »Archiv für Anthropologie«, Bd. 12[111] u. 13 (Braunschw. 1879–80) und Eckerim »Archiv für Anatomie und Physiologie«, 1880 (Berl.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 18. Leipzig 1909, S. 111-112.
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