Ist die Nachahmung einer interessanten Handlung durch den Tanz. Einigermaaßen ist es eine durch den Tanz hervorgebrachte allegorische Handlung. Den Raub der Helena erzählt der epische Dichter; im Drama wird er mit allen dabey vorgefallenen Intrigen und Reden nachgeahmt; durch das Ballet wird der Geist dieser Handlung und die Aeusserung der verschiedenen dabey vorkommenden Leidenschaften durch bloße Stellung, Gebehrden und Bewegung vorgestellt. Man ist zwar gewohnt, jedem figurirten Tanz auf der Schaubühne den Namen des Ballets zu geben; aber hierüber verdient Noverre, der seine Kunst mit dem Aug eines Philosophen beleuchtet hat, gehört zu werden. Er hält jeden Tanz, der nicht eine bestimmte Handlung, mit Verwiklungen und Auflösungen deutlich und ohne Verwirrung vorstellt, für eine bloße Lustbarkeit.1
Der gemeine Tanz ist eine Lustbarkeit für die tanzenden Personen, und braucht nichts, als dieses zu seyn: das Ballet ist ein Tanz, der die Zuschauer intereßiren soll. Es muß also nothwendig etwas anders seyn, als der gemeine Tanz. Es ist ein Schauspiel, oder macht einen Theil desselben aus. Also muß es den allgemeinen Charakter des Schauspiels an sich haben.2
Wie die Ballette auf der Schaubühne gegenwärtig sind, verdienen sie schweerlich unter die Werke des Geschmaks gezählt zu werden; so gar nichts geistreiches und überlegtes stellen sie vor. Man sieht seltsam gekleidete Personen, mit noch seltsamern Gebehrden und Sprüngen, mit gezwungenen Stellungen und gar nichts bedeutenden Bewegungen, auf der Schaubühne herum rasen, und niemand kann errathen, was dieses Schwärmen vorstellen soll. Es ist nichts ungereimteres, als nach einer ernsthaften dramatischen Handlung eine so abgeschmakte Lustbarkeit auf der Bühne zu sehen. Es scheinet also kaum der Mühe werth, daß diese Materie in einem ernsthaften Werk in besondre Ueberlegung genommen werde.
Da es aber nicht unmöglich ist, diesen Theil der Schauspielkunst zu veredlen, und dem Ballet einen ansehnlichen Rang unter den Werken des Geschmaks zu geben, wenn es nur Balletmeister gäbe, die, wie Noverre, dächten, so wollen wir es hier nicht ausschließen. Die Mittel, welche der Mahler hat, wichtige Werke des Geschmaks hervorzubringen, hat auch der Balletmeister, und noch dazu in einem weitern Umfange. Der Mahler und der Schauspieler bringen Scenen aus dem moralischen Leben vor unsre Augen, die sehr wichtige Eindrüke auf uns machen; dergleichen Vorstellungen hat auch der Balletmeister in seiner Gewalt.3 Er verdienet also eben so gut, als jene, daß die Critik ihm zu Hülfe komme.
Daß jede interessante Handlung durch ein blos stummes Spiel könne so vorgestellt werden, daß der Zuschauer einen starken Antheil daran nimmt, beweisen die historischen Gemählde. Diese stellen einen einzigen Augenblik einer solchen Handlung vor; das Ballet aber kann eine Folge solcher Vorstellungen enthalten, wo alles ein ganz anders Leben bekommt. Die Musik, von welcher es beständig begleitet wird, verstärkt die Empfindung, vermehrt den Antheil an der Handlung, und vertritt dabey die Stelle der Sprache.
Aber warum soll man eine interessante Handlung durch ein stummes Spiel vorstellen, da das Drama sie vollkommener vorstellen kann? wer wird nicht lieber jede Handlung, so wie sie geschehen ist, als durch den Tanz nachgeahmt sehen? wozu kann also das Ballet nützen? Wenn diese Zweifel nicht könnten gehoben werden, so müßten wir das [122] Ballet von den Werken der schönen Künste ausschließen.
Man kann verschiedenes zur Beantwortung dieser Zweifel anführen. Vors erste giebt es sehr interessante Handlungen, die sich zum eigentlichen Drama nicht schiken, weil es ihnen an der Größe oder Ausdehnung fehlt. Valerius Maximus erzählt eine Anekdote von dem ältern Scipio, dem Afrikaner, der in seinem Landhause von Straßenräubern besucht worden, die man nicht ohne den Wunsch lesen kann, die Hoheit dieses großen Mannes, und die, selbst Räubern, dadurch erwekte Ehrfurcht, in Minen, Gebehrden und Bewegung vorgestellt zu sehen.4 Diese Handlung schikt sich nicht für das Drama; aber zum Ballet hätte sie gerade die rechte Größe. Die Geschichte enthält sehr viel Handlungen dieser Art.
Hiernächst giebt es Empfindungen und Leidenschaften, deren Aeußerungen eben nicht nothwendig in einer großen Handlung brauchen vorgestellt zu werden, wo so viel Nebendinge die Aufmerksamkeit zu sehr zerstreuen; die man besser empfindet, wenn alles, was geschieht, sich ganz allein und unmittelbar darauf bezieht. Wer würde nicht gern einen Helden in dem Augenblik sehen, da er von einem Siege, wodurch er ein Volk gerettet, unter seine Bürger zurük kömmt, und von diesen mit der Freude, dem Dank und der Ehrfurcht, die er verdient, empfangen wird? dergleichen Vorstellungen können auf keine beßre Weise, als durch den Schauspieltanz, nachgeahmt werden. Aber freylich gehört etwas ganz anders dazu, als künstliche Sprünge und manierliche Schritte.
Es ist gar nicht zu leugnen, daß unsre heutigen Sitten, die alle öffentliche Feyerlichkeiten, als würkliche bürgerliche Handlungen, aufgehoben haben, dergleichen Vorstellungen bey nahe unmöglich machen. Die heutigen Schauspiele haben nicht die geringste Beziehung auf öffentliche Nationalsitten. Doch hebt dieses die Hoffnung nicht ganz auf, daß Männer von außerordentlichem Genie nicht sollten, wenigstens bey gewissen Gelegenheiten, dem Schauspiel überhaupt, und einzeln Veranstaltungen desselben eine wichtigere Wendung geben können.
Inzwischen könnten die Schauspiele, als bloße Privatanstalten betrachtet, so wie sie gegenwärtig sind, durch würklich gute Ballete dennoch merklich gewinnen, wenn diese in eine wahre Verbindung mit der Hauptvorstellung gebracht würden. Der Tänzer hat gerade das in seiner Gewalt, wodurch die Leidenschaften sich am kräftigsten äußern. Wenn er nach geendigtem Drama, oder zwischen den Aufzügen, die Eindrüke, die alsdenn die stärksten seyn müssen, durch die Mittel, die er hat, unterhält, und den Gegenstand, der nun den Geist oder das Herz beschäfftiget, in neuen Gesichtspunkten zeiget, so kann er sehr viel zur Würkung des Stükes beytragen. In so fern also die Schauspiele überhaupt wichtig seyn können, kann es auch das Ballet seyn. Aber freylich müßte es eine andre Form bekommen, als es gegenwärtig hat. Diese zu erfinden ist keine geringe Sache.
Die Versuche müßten von dem, was das leichteste ist, anfangen. Das sittliche scheinet leichter, als das leidenschaftliche zu seyn. Ballete, die blos einen allgemeinen sittlichen Charakter haben, die Fröhlichkeit, oder Ernsthaftigkeit, oder lieblichen Anstand der Sitten ausdrüken, ohne eine besondre Handlung vorzustellen, sind das leichteste. Wenn man uns nach einem interessanten Drama, je nachdem es einen lustigen, oder fröhlichen, oder traurigen Ausgang gehabt hat, in einem Tanze diese Empfindungen überhaupt, nach dem besondern Gepräge der Sitten des Volkes, bey dem die Handlung geschehen ist, vorstellt, so thut ein solcher Tanz seine gute Würkung.
Aber besondre Handlungen in dem Ballet vorzustellen ist höchst schweer, weil es gar zu leicht ins abgeschmakte fällt. Es soll nicht die Handlung selbst, sondern gleichsam eine Allegorie derselben seyn. Hat der Balletmeister eine bestimmte Handlung gewählt, so muß er, wie der Mahler, die vorzüglichen Augenblike derselben zuerst aufsuchen. So viel deren in der Handlung sind, so viel Absätze [123] oder Perioden muß sein Ballet haben. Denn muß er auf eine geschikte mahlerische Vorstellung solcher Augenblike denken, welche eigentlich die Hauptsache seiner Vorstellung ausmachen. Was zwischen diesen Augenbliken liegt, ist von gemäßigtem Inhalt, wozu er schikliche Bewegungen und Tänze erfinden muß, die dem Charakter und den Sitten der Personen gemäß sind. Dabey sollten die zur Mode gewordenen symmetrischen Stellungen und Bewegungen der Personen eben so sorgfältig vermieden werden, als der Mahler sie vermeidet. Es kann nichts helfen, wenn alle Personen einerley Bewegung und Stellung haben, und so aussehen, wie eine einzige tanzende Person, die man durch ein vielseitiges Glas zehenfach sieht.
Man hat in dem vorigen Jahrhundert an einigen Höfen Schauspiele aufgeführt, die den Namen Ballete gehabt. Sie waren aber mit Gesang und mit Reden untermengt. Durch Recitative wurd so viel, als zum Verstande der Handlung nöthig schien, gesagt, und das Tanzen wurd durch Arien unterbrochen. Davon hat Menestrier ein besonders Werk geschrieben.5 Verschiedene sehr wichtige Anmerkungen darüber kann man bey Rousseau finden.6 Es läßt sich aus den verschiedenen Nachrichten, die wir von den Balleten der alten Griechen haben, muthmaßen, daß sie auch bey ihnen von zweyerley Gattung gewesen; daß einige als Schauspiele einer besondern Art aufgeführt; andre aber, als Theile der dramatischen Vorstellungen auf der Bühne vorgestellt worden. Die Ballete der alten waren ganz charakteristisch; einige stellten Nationalhandlungen oder Gebräuche vor; andre waren Nachahmungen besondrer Begebenheiten.
1 | Tout ballet – – qui ne me tracera pas avec uetteté et sans embarras l'action, qu'il représente; dont je ne pourrois deviner l'intrigue; tout ballet, dont je ne sentirai pas le plan, et qui ne m'offrira pas une exposition, un noeud, un denouement, ne sera plus qu'un fimple divertissement de danse. V. Lettres sur la danse par Mr. Noverre. |
2 | S. ⇒ Schauspiel. |
3 | S. ⇒ Tanzkunst. |
4 | Valer. Max. L. II. c. 10. Haec postquam domestici Scipioni retulerunt, fores reserari eosque intromitti jussit: qui postes ianuae tamquam aliquam religiosissimam aram, sanctumque templum venerati, cupide Scipionis dextram apprehenderunt; ac diu deosculati, positis ante vestibulum donis, quae Deorum immortalium numini consecrari solent, laeti, quod Scipionem vidisse contigisset, ad lares revertunt. – – Hostis iram admiratione sui placavit; Spectaculo praesentiae suae, latronum gestientes oculos obstupesecit. |
5 | Traitté des Ballets par le P. Menestrier. |
6 | Dictionaire de Musique Article Ballet. |
Buchempfehlung
Therese gibt sich nach dem frühen Verfall ihrer Familie beliebigen Liebschaften hin, bekommt ungewollt einen Sohn, den sie in Pflege gibt. Als der später als junger Mann Geld von ihr fordert, kommt es zur Trgödie in diesem Beziehungsroman aus der versunkenen Welt des Fin de siècle.
226 Seiten, 8.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.
424 Seiten, 19.80 Euro