Eine besondere Art des Gedichts, womit die Neuern die Dichtkunst bereichert haben; denn es scheinet nicht daß den Alten diese Dichtungsart bekannt gewesen sey. Die Erzählung kommt darin mit der äsopischen Fabel überein, daß sie eine kurze Handlung in einem gemäßigten Ton, der weit unter dem eigentlichen epischen zurük bleibet, erzählt; sie geht aber von ihr darin ab, daß sie nicht bedeutend ist, wie die Fabel. Der Dichter hat seinen Endzwek bey der Erzählung erreicht, wenn der Leser blos die erzählte Handlung in dem Lichte, darin er sie hat vorstellen wollen, gefaßt hat, da der Fabeldichter eine Lehre zur Absicht hat. Es läßt sich zwar, wie einer unsrer besten Kunstrichter anmerkt,1 auch aus ihr, wie aus jeder Handlung, irgendwo eine Sittenlehre absöndern. Dennoch ist sie nicht etwan ein in eine sinnliche Geschichte verkleideter Lehrsatz; und das Allegorische ist ihr auf keine Weise nothwendig. Sie ist, sagt er ferner, die heroische oder komische Epopee im kleinen; die erste Anlage dazu, nur die wesentlichsten Bestandtheile derselben in ihrer einfachesten Form. Man kann hinzusetzen, daß sie in dem Vortrag den gemäßigten Ton, der keine Begeisterung kennt, annihmt. Denn es giebt auch dergleichen kleine Epopeen, die in dem hohen lyrischen Ton vorgetragen werden, und deswegen nicht zu dieser Gattung gehören, wie die Romanzen.
Diese Dichtungsart ist in Ansehung des Inhalts einer großen Mannigfaltigkeit fähig; sie kann Handlungen und Thaten, Leidenschaften, herrschende und vorübergehende Empfindungen, ganze Charaktere, Begebenheiten, Glüks- und Gemüthsumstände schildern; und in Ansehung des Tones kann sie pathetisch, sittlich oder scherzhaft seyn. Soll sie aber mehr, als zum Zeitvertreib dienen, und mehr als vorübergehende Aufwallungen verschiedener, angenehm durch einander laufender, Empfindungen erweken, so trift man den Stoff dazu eben nicht auf allen Straßen an. Wenn der erzählende Dichter lehrreich seyn will, wenn seine Absicht ist, nur solche Geschichten oder Thaten zu erzählen, die in dem Verstand der Leser wol bestimmte und auf immer würksame Grundbegriffe oder Grundsätze zurüklassen, so muß er sich weit und mit scharfen Bliken in dem sittlichen Leben der Menschen umsehen. Auch der fleißigste Beobachter der Menschen ist nur selten so glüklich, auf solche claßische Männer seiner eigenen, oder der vergangenen Zeiten zu stoßen, deren Denkungsart und Handlungen, als canonische Lehren für alle Menschen, anzusehen sind. Vernunft und Thorheit, Tugend und Laster zeigen sich zwar überall, aber höchst selten in dem hellen Licht und in der Gestalt, worin sie zur Lehr oder Warnung sich dem Gemüth unvergeßlich und immer würksam einprägen. So müssen aber die Beyspiele seyn, die zu einer vollkommenen Erzählung den Stoff ausmachen. Es wird nämlich hier vorausgesetzt, daß die Erzählung in allen Absichten vollkommen sey, bey welcher jeder Leser von gesunder Einsicht mit völliger Empfindung sagt: so muß ich denken, so muß ich handeln, so muß ich niemal handeln, wenn ich noch etwas auf mir selbst halten soll, und die Erzählung muß unvergeßlich als ein Muster dem Geist eingeprägt werden.
Dergleichen Erzählungen wären denn allerdings sehr schätzbare Werke, und man könnte den Neuern über die Erfindung dieser Dichtart glükwünschen.
Wenn der Inhalt glüklich gefunden oder gewählt ist, so ist noch die Schwierigkeit des guten Vortrags zu übersteigen, die nicht gering ist. Das Erzählen ist überhaupt eine sehr schweere Sache; aber in Versen zu erzählen, zumal wenn der Inhalt einfach ist und wenig Leidenschaftliches hat, ist höchst [354] schweer. Man kann gar zu leicht in das gedähnte, langweilige oder mühesame fallen. Einfalt, Kürze und besonders Naivität sind die Haupteigenschaften dieser Gattung. Man findet daher nur selten Dichter, die sich darin hervorgethan haben. Unter uns haben bey der beträchtlichen Anzahl guter Dichter, nur Hagedorn, Gellert und Wieland sich hierin einen Namen erworben. Aber Wielands moralische Erzählungen machen eine besondere Gattung aus: sie sind meistentheils von zärtlichem und leidenschaftlichen Inhalt, der das Erzählen weniger schweer macht.
Die Araber scheinen einen vorzüglichen Geschmak an dieser Dichtart zu haben, und unter ihren Erzählungen findet man in der That solche, die zu Mustern dienen können. Vielleicht haben die Neuern diesen zweyg der Dichtkunst aus dem Orient nach Europa verpflanzt. Aber die Erzählung von abentheuerlichen Liebeshändeln, darnach die französischen Dichter ihre Contes gebildet haben, scheinen aus Italien herzukommen.
1 | Schlegel in der Abygudl. über die Eintheil. der Poesie. |
DamenConvLex-1834: Epische Dichtkunst · Dichtkunst
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