[359] Talmud (der), d.i. Lehre, Unterricht, heißt bei den Juden neben dem eigentlichen Gesetz ein zweites, aus diesem abgeleitetes Religionsgesetz, das aus einer Sammlung der mündlich überlieferten Aussprüche der Rabbiner besteht, durch welche von diesen das Gesetz erläutert, näher bestimmt und für besondere Verhältnisse anwendbar gemacht wurde. Das religiöse Ansehen des Talmud wird von den Anhängern desselben dem Ansehen des Gesetzes völlig gleich geachtet; er wird als die Summe der göttlichen Lehre, der Inbegriff aller Gelehrsamkeit, die Quelle aller Wissenschaft betrachtet, und er steht zu dem Gesetze in demselben Verhältnisse, in welchem in der röm.-katholischen Kirche die kirchliche Überlieferung zu der h. Schrift steht. Das Alter des Talmud wird in den Sagen der Rabbiner weit über seinen geschichtlichen Ursprung hinaus bis auf Moses zurückgeführt, dem die Lehre desselben auch auf dem Berge Sinai von Gott mitgetheilt worden sein soll, von welchem sie sich dann in mündlicher Überlieferung bis auf die Zeit ihrer Aufzeichnung fortgepflanzt habe. Allein die Entstehungsweise des Talmud gehört erst der spätern Zeit der jüdischen Geschichte an. Als nämlich nach dem Exil unter dem Wechsel der fremden Herrschaft die bürgerlichen Verhältnisse der Juden sich änderten und auch die Denkungsweise des Volkes eine vielfach veränderte Gestalt annahm, so entstand dadurch ein Misverhältniß zu dem väterlichen Gesetz. Es wurde von jetzt an die Bestimmung der Synagogen oder Judenschulen, das Ansehen des göttlichen Gesetzes in den Wechseln der äußern und innern Lage des Volks aufrecht zu erhalten und dasselbe durch erweiterte Auslegungen und neue Zusätze den veränderten Zuständen und Verhältnissen des Lebens anzupassen. Diese Auslegungen und Zusätze zum Gesetz, welche in den Rabbinenschulen, die nach Christi Geburt namentlich in Palästina und Babylon eine hohe Blüte erreichten, aufgestellt worden waren, bildeten die sogenannte mündliche Überlieferung, das traditionnelle Gesetz, denn der Lehrer theilte sie dem Schüler mit und verpflanzte sie also durch die Tradition auf die Nachwelt. Die erste schriftliche Sammlung dieses traditionnellen Gesetzes wurde durch den Rabbi Juda, den Heiligen, nach Einigen im I. 150 n. Chr., nach Andern im Anfange des 3. Jahrh. unter dem Namen Mischna oder zweites Gesetz zu Stande gebracht. Dieselbe fand allgemeinen Beifall, wurde aber, da sich in ihr noch viele Unvollkommenheiten und Dunkelheiten vorfanden, durch andere Rabbiner bald aufs Neue verbessert und vervollständigt. So entstand im I. 250 n. Chr. die im hohen Ansehen stehende Gemara, Vervollständigung, durch den Rabbi Jochanan. Die Mischna und Gemara zusammen bilden den sogenannten jerusalemischen Talmud; in diesem ist die Mischna als der Text, die Gemara als die Auslegung zu betrachten. Als die palästinensischen Schulen in ihrem Ansehen sanken und dagegen sich die babylonischen erhoben, so wurde auch hier von den Rabbinen eine neue Auslegung zur Mischna ausgearbeitet, die man den babylonischen Talmud heißt, und dessen Vollendung im 5. Jahrh. dem Rabbi Jose zugeschrieben wird. Im Ganzen ist der Talmud, da er das ganze innere und äußere Leben der Juden umfaßt, ein Werk der scharfsinnigsten und spitzfindigsten Gelehrsamkeit, das aber neben manchen herrlichen Aussprüchen über Religion und Tugend, viel Kleinliches, Geschmackloses und selbst Unsittliches enthält. So ist es nach ihm erlaubt, einen Nichtjuden zu betrügen, weil im zweiten Buche Samuelis 22, 27 steht: Du sollst rein sein gegen Reine und verkehrt gegen Verkehrte. Für die jüdische Religionsgeschichte, für das Studium der hebr. Grammatik, Exegese und Alterthumskunde ist der Talmud von großer Wichtigkeit. Diejenigen Juden, welche den Talmud annehmen, heißen gewöhnlich Rabbaniten; ihnen stehen die Karaiten und Sadducäer entgegen, die Beide von den Rabbaniten als Ketzer betrachtet und verfolgt werden. Von mehren Päpsten, z.B. von Gregor IX., Innocenz IV., Julius III., Paul IV. und Andern, wurde der Talmud zum Feuer verdammt. Talmudisten heißen nicht blos die Verfasser, sondern auch die Lehrer und Bekenner des Talmud. Je mehr in neuerer Zeit die christliche Bildung Einfluß auf die Juden gewonnen hat, um so mehr ist auch das Ansehen des Talmud bei denselben gesunken, und sollen ihnen die gleichen Rechte der Staatsbürger ertheilt werden, so scheint auch damit die Foderung nothwendig verbunden, daß sie sich von einem großen Theile der talmudistischen Vorschriften ganz lossagen.