[512] Juden heißt das gesammte israelit. Volk seit seiner Rückkehr aus der babylon. Gefangenschaft, weil es größtentheils Angehörige des ehemaligen Reichs Juda waren, die seit 536 auf die Erlaubniß des Cyrus (s.d.) nach Palästina zurückkehrten. Dem ersten von Esra (s.d.) geführten Haufen, der mit Weibern, Kindern und Sklaven nicht über 50,000 Seelen zählte, folgte später unter Nehemia (s.d.) ein zweiter minder zahlreicher. Der größere Theil der Israeliten blieb am Euphrat und in Ägypten zurück, den Genuß des neuerrungenen Lebensglücks dem Anbaue des verwüsteten Vaterlandes vorziehend. Unter ihren begeisterten Führern begannen die Zurückgekehrten den Wiederaufbau Jerusalems und des Tempels, doch nicht ohne Hindernisse, da sich demselben die Samariter (s.d.) entgegenstellten, welches den Grund zu dem tiefgewurzelten Hasse beider Nationen legte. Die von Esra und Nehemia getroffenen bürgerlichen und gottesdienstlichen Anordnungen machten den neugegründeten Staat in Allem zu einem treuen Nachbilde der Mosaischen Gesetzgebung. Derselbe war im Innern der Leitung eigner Hoherpriester und Ältesten überlassen und blieb unter der Oberherrschaft der Perser, bis Alexander, der Besieger des Morgenlandes, den Tempel Jehova's 330 betrat. Die Geschichte dieses Zeitraums, minder bedeutend durch den Druck der fremden Herrschaft, legte den Grund zu dem später so schroff hervortretenden eigenthümlichen Charakter des Volks. Die während einer mehr als 50jährigen Heimatlosigkeit überstandenen Drangsale hatten das Volk zu der Überzeugung gebracht, daß Untreue gegen Jehova und Abfall vom väterlichen Gesetz zum Unglück führen müsse. Mit frommem Eifer wurden die alttestamentlichen Schriften gesammelt und in das Heiligthum des Tempels gestellt. Die Synagogen entstanden, Bet- und Lehrsäle wurden in jeder größern Ortsgemeinde eingerichtet und unter die Aufsicht frommer und schriftkundiger Männer gestellt, damit dem Volke, welches indeß die chaldäische Mundart angenommen hatte und nicht mehr seine heiligen Schriften verstand, der Geist der Frömmigkeit und Gesetzlichkeit eingeprägt und Israel zu neuer Macht und Größe geführt würde. Aber die allzu ängstliche Gewissenhaftigkeit des hierbei beobachteten Verfahrens ließ diese Anstalten nur wenig ihrem Zweck entsprechen. Der religiös-sittliche Inhalt des Gesetzes ging dem Volke durch die meist spitzfindige und oft chaldäische Weisheit einmischende Deutungsweise der Gesetzlehrer verloren. Wie schlimm es um den kräftigen religiösen Sinn stand, zeigte vor Allem der Verfall der Dichtkunst seit dem Exil. Während so der erneuerte Eifer für das Gesetz wenig gute Früchte brachte, ließ er zugleich die daran geknüpften Hoffnungen auf irdische Größe und Macht unerfüllt. Stark im Glauben an eine besondere Vorliebe Gottes, mußten die Juden doch fortwährend ihre Ohnmacht in der Abhängigkeit von fremder Herrschaft empfinden. Nach Alexander's Tode standen sie unter Ägypten 323–221, dann waren sie abwechselnd Unterthanen bald der ägypt., bald der seleneidisch-syrischen [512] Könige, bis sie um das Jahr 180 unter Seleukus Philopator dem syrischen Reiche ausschließend zufielen. Das Schwanken der auswärtigen Herrschaft konnte dem Volke im Ganzen nicht frommen; verderblich aber wurde es, da die Kämpfe zwischen Ägypten und Syrien auf paläst. Boden ausgefochten wurden, oder Truppenzüge, welche das Land aussogen, veranlaßten. Der Versuch des Antiochus Epiphanes, dem ausgeplünderten und mit Steuern und Abgaben belasteten Volke griech. Sitten und Religion aufzudringen, brachte dasselbe zur Verzweiflung. Unter dem priesterlichen Heldengeschlechte der Makkabäer (Hämmerer) kämpfte es seit 167 für Religion und Nationalität, und der Kampf endete 141 mit dem Sturze der syr. Herrschaft und der Wiederherstellung der nationalen Unabhängigkeit. Simon, der letzte Makkabäer (die zwei andern Brüder waren, der eine, Judas, den Heldentod gestorben, der andere, Jonathan, durch Meuchelmord umgekommen) eröffnete eine Reihe selbständiger Fürsten, die zugleich die Hohepriesterwürde bekleideten und die von dem Urvater der Familie, Hasmon, insgesammt den Namen der Hasmonäer (Erlauchte) führten. Fast ununterbrochene Thronstreitigkeiten in Ägypten und Syrien ließen die Juden ihre Unabhängigkeit genießen. Simon befestigte das Reich durch ein Bündniß mit den Römern, und Johannes Hyrkanus, sein Sohn und Nachfolger (136–105), erweiterte es durch Eroberungen und Siege, von denen der Sieg über die Samariter durch die Zerstörung ihres Tempels auf Garizim 129 eine Befriedigung des Nationalhasses wurde. Der um diese Zeit entstandene Sanhedrin, der hohe Rath, bildete den obersten Gerichtshof in Religionssachen und diente zugleich als Unterbehörde über Policei und Rechtspflege. Die fortgeschrittene Bildung zeigte der Handel, der neben der Beschäftigung mit Landbau eine zweite Haupterwerbsquelle der Nation geworden war. Die Neigung zu demselben war bei den Israeliten schon im Exil erwacht, durch die vermehrte Bevölkerung des Landes und dessen für den erweiterten Völkerverkehr vortheilhafte Lage wurde sie jetzt noch besonders unterhalten und begünstigt. Auch die Verbindungen mit den auswärtigen ägypt. und babyl. Juden, die jetzt noch fortwährend durch freiwillige Auswanderer in das griech.-röm. Ländergebiet vermehrt wurden, führten zu Reichthum und Kenntnissen, da jene eine Steuer an den Tempel entrichteten und zur Zeit der hohen Feste in zahlreichen Karavanen nach dem Heiligthume wallfahrteten. Aber der im Innern unbefriedigte Sinn des Volks trat in den Parteien der Sadducäer, Pharisäer und Essäer hervor, von denen die beiden ersten den Kampf ausländischer Sitte und Geistesbildung mit nationaler Absonderung und religiöser Bevorzugung unterhielten, die letztern, als zerfallen mit dem bürgerlichen und religiösen Gemeinwesen, in frommer Stille sich der Öffentlichkeit entzogen. Parteihaß und ärgerliche Zwistigkeiten, die in der fürstl. Familie selbst ausbrachen, bezeichnen die nachfolgenden Regierungen. Judas Aristobulus (105–104) legte sich den Königstitel bei und Alexander Jannai (104–79) eroberte in einem glücklichen Kriege gegen Ägypten die Grenzfeste Gaza. Unter dem Beistande der Pharisäer regierte die Königin Salome Alexandra. Als sie 69 gestorben, machten ihre beiden Söhne Hyrkanus und Aristobulus sich die Krone streitig. Der Römer Pompejus, von der schwächern Partei zur Vermittelung herbeigerufen, vermittelte nach röm. Grundsätzen durch allgemeine Unterjochung 63. Judäa wurde eine von der Provinz Syrien abhängige Ethnarchie (Volksfürstenthum) und Hyrkanus in derselben zum Hohenpriester und Ethnarchen eingesetzt, während Aristobulus mit seinen Söhnen und Töchtern den Triumphzug des Pompejus in Rom verherrlichen sollte. Seine und seiner Söhne Entweichung aus der Gefangenschaft brachte neue Kriegsunruhen über das Land. Nach blutigem wechselvollen Kampfe gelang es dem Antigonus, Aristobulus' zweitem Sohne, die röm. Partei zu verdrängen. Jubelnd begrüßte in ihm das Volk (40) noch einmal einen freien jüd. König. Aber schon im dritten Jahre seiner Regierung wurde ihm der Thron durch den röm. Günstling und Halbjuden Herodes entrissen und er selbst, der letzte Sprosse der Hasmonäer, am Schandpfahle schmachvoll hingerichtet. Des Herodes halb jüd. und halb röm. Gesinnung sicherte ihm die Herrschaft. Unter ihm entartete die Nation Jüdische Große wurden röm. Schwelger und das Volk sollte über glänzenden Bauten, Theatern und Kampfspielen das allgemeine Unglück vergessen. In seine Regierung fiel drei Jahre vor seinem Tode die Geburt Jesu. Von dem unter seine vier Söhne getheilten Reiche erhielt Archelaus Judäa mit Samarien. Aber seine Unzuverlässigkeit brachte ihn nach Vienna in die Verbannung, sein Gebiet kam zur Provinz Syrien und wurde seit dem zehnten Jahre n. Chr. durch Procuratoren verwaltet. Die Habsucht und Härte dieser, wie die nicht minder gewinnsüchtigen Zollpächter machten dem verachteten Volke die röm. Herrschaft zu einer unerträglichen Last. Röm. Strenge wurde von jüd. Hartnäckigkeit herausgefodert. Schwer gereizt durch die Gewaltthätigkeiten des Procurators Cassius Florus begann das Volk im Jahre 66 n. Chr. den Krieg, weniger in der Hoffnung des Siegs, als in der Verzweiflung an aller irdischen Wohlfahrt. Das Kriegsglück, anfangs den Verzweifelten günstig, wandte sich auf die Seite der Römer, als Vespasian 67 und nach seiner Erhebung zum Kaiser Titus (70) eine große Streitmacht gegen Jerusalem führte, welches unterging. (S Jerusalem.) Der Krieg, der bald in den Gebirgen Judäas austobte, hatte einer Million Menschen das Leben gekostet. Die Übriggebliebenen mußten gezwungen auswandern, oder wurden als Kriegsgefangene theils hingerichtet, theils in die Bergwerke nach Oberägypten geschickt, theils auf die Sklavenmärkte gebracht, theils für die Kampfspiele aufbewahrt, die zur Feier des Sieges die Römer zu Cäsarea, Berytus und an andern Orten aufführten. Die Juden hörten auf, ein selbständiges Volk zu sein, ihrer harrte fortan das Leben in der Zerstreuung, die eine allgemeine wurde und sich bald über die ganze bekannte alte Welt erstreckte In dem weiten Ländergebiete des röm. Reichs waren die Juden mit der Übertragung der Tempelsteuer an den Schutzgott des Reichs, Jupiter Capitolinus, nach den bestehenden Religionsgesetzen geduldet, doch drückte sie der Volkshaß, der sie mit dem Namen des scheußlichsten Volks bezeichnete. Dessenungeachtet gewannen sie durch ihre angebildete Umsicht und eine meist auf Handel gerichtete Betriebsamkeit ein schnelles Emporkommen, und der treu bewahrte Glaube an. die ewige Dauer ihres Volks und seines Gesetzes erwuchs sogar unter der duldsamen Regierung Hadrian's in einem von dem falschen Messias Bar Cochba erregten Aufstande zu dem [513] kühnen, aber mislungenen Versuche, Palästina wieder zu erobern. Eine Annäherung an das Christenthum verhinderte die ihnen eigne Abneigung gegen dasselbe. Doch brachten die von Konstantin den Christen gewährten großen Begünstigungen viele Juden zum Abfall. Der allen Religionsparteien, nur nicht den Christen günstige Kaiser Julian (s.d.), erlaubte ihnen den Wiederaufbau des Tempels in dem von Hadrian auf der Stelle des alten Jerusalem unter dem Namen Aelia capitolina erbauten Stadt. Das Unternehmen wurde durch den schnellen Tod des Kaisers verhindert. Von größerm Erfolge, als das Streben nach Wiederherstellung der äußern Selbständigkeit, war im Innern der der Religion gewidmete Bildungseifer. Die Stadt Tiberias war durch ihre Schule der Sitz eines geistigen Jerusalems geworden. Sie beherrschte, ausgezeichnet durch den Geist und die sittlichen Vorzüge ihrer Rabbinen (Gesetzlehrer) als oberster Gerichtshof (Sanhedrin) unter einem Vorsteher, der Nasi, Fürst der Gefangenschaft, hieß, sämmtliche Juden des Abendlandes bis 429. Gleiches Ansehen behaupteten bei den östl. Juden Schulen in Babylonien, deren Blüte bis tief ins Mittelalter hinausreichte. Ein Werk derselben war die Sammlung der durch Überlieferung fortgepflanzten Auslegungen und Zusätze zum A. T., welche um 200 von Rabbi Jehuda dem Heiligen veranstaltet, um 500 vollendet und unter dem Namen Talmud den Juden fast aller Zeiten feststehende Glaubensnorm geworden ist.
Im Mittelalter waren die Juden im Allgemeinen ein überall fremdes, überall heimisches, immer unterdrücktes, verfolgtes, verbanntes, immer von Neuem auftauchendes, verachtetes Volk. Die Päpste, wenige Ausnahmen abgerechnet, begünstigten sie, soweit es sich einigermaßen mit ihrer christlichen Oberherrlichkeit vertrug. Venedig schloß sie von seinem Meerhandel aus. In Spanien wurden sie von den Westgothen hart, desto milder von ihren Halbbrüdern, den erobernden Arabern, behandelt, mit denen sie sich schon in Asien und Afrika befreundet hatten. Daß sie den Aussatz mit nach Frankreich gebracht hatten, setzte sie besonders in Burgund heftigen Verfolgungen aus. Karl der Große bewies sich duldsamer und noch mehr Ludwig der Fromme. Der Ruhm, den sie seit dem 10. Jahrh. in allen Künsten und Wissenschaften, besonders als Mathematiker, Astronomen und als die geschicktesten Ärzte der Erde an den vorzüglichsten europ. Höfen, bis zum 16. Jahrh. sogar an dem päpstlichen behaupteten, milderte nicht den Haß, den die Christen gegen sie als eine besondere, durch Wucher und Unterhändlergeschäfte gleichsam zum allgemein nothwendigen Übel gewordene Partei hegten. Gegen Ende des 12. Jahrh. ermordete das aufrührische Volk Castiliens die schöne jüd. Geliebte seines Königs Alfons IX., und der König, welcher seiner Unterthanen zum Siege von Tolosa bedurfte, wagte nicht, den Frevel zu bestrafen. In Frankreich entstand das Märchen von einer wunderthätigen Hostie, welche die Juden gestohlen haben sollten, und diente zum Vorwande, die Synagogen zu zerstören. Den blutigsten Verfolgungen waren die Juden durch die Kreuzzüge ausgesetzt, ungeachtet sie zu denselben hatten steuern helfen müssen. Die während derselben an ihnen verübten Grausamkeiten waren Jahrhunderte hindurch den Gemeinden lebendiger Ausdruck des Schreckens, und sie dauerten auch nach ihrer Beendigung noch fort, da die Pest, welche den Kreuzfahrern nach Europa folgte, von Vergiftung der Brunnen durch die Juden abgeleitet wurde, und andere gehässige Gerüchte, daß sie Christenkinder mordeten und geweihete Hostien erkauften und durchstächen, Vorwände zu einem blutigen Verfahren gegen sie wurden. Aus dem südwestl. Deutschland gewaltsam verdrängt, wanderten sie nach Mähren und Polen und gründeten die dortigen zahlreichen Gemeinden. Durch Handelsvortheile gereizt und dem fürstl. Eigennutze unentbehrlich, kehrten sie später in die verlassenen Länder und Städte, in denen sie in abgelegenen Gassen, Judengassen genannt, zusammenwohnen mußten, wieder zurück; aber der neue Aufenthalt war mit dem Verluste aller Menschenrechte und der Erlegung schwerer Abgaben verbunden und wurde ihnen an manchen Orten noch besonders dadurch verbittert, daß sie zur allgemeinen Verspottung ein äußeres Kennzeichen an sich tragen, jährlich einmal gewisse entehrende Arbeiten verrichten oder zum eignen Ärger in die Kirchen der Christen gehen und mit Demuth eine gehässige Predigt anhören mußten. In Italien, wo man sie drückte, gaben sie doch Anlaß zur Errichtung von Leihhäusern, auch waren sie im Besitze berühmter Druckereien, besonders zu Sancino, Neapel und Venedig. Die Päpste blieben ihnen mehrentheils gewogen. Seit dem Anfange des 11. Jahrh. bis jetzt erscheinen sie bei jeder päpstlichen Thronbesteigung, überreichen ihr Gesetzbuch und, als Tribut an die Kammer, ein Pfund Pfeffer und zwei Pfund Zimmt. In Spanien trieben sie im friedlichen Zusammenwohnen mit den Mauren alle Künste und Wissenschaften, und selbst die Dichtkunst blieb ihnen nicht fremd; aber 1492 traf sie das, auf Anregen des Großinquisitors Torquemada, von Ferdinand und Isabella gegen sie erlassene Verbannungsedict. Nie ward ein Gesetz unbarmherziger vollzogen; selbst Die, welche sich zum Christenthume bekehrten oder bekehrt zu sein vorgaben, wurden mit unerhörter Ungerechtigkeit behandelt. Die reichsten und vornehmsten der Verbannten entwichen nach Portugal. Die geringere Menge rettete sich nach Afrika und lebte dort in Armuth und Knechtschaft. Aber auch aus Portugal wurden sie, auf Ferdinand's Antrieb, unter König Emanuel 1507 vertrieben. Die Flüchtigen nahm größtentheils Italien und Konstantinopel auf; doch behauptete noch gegen Ende des 18. Jahrh. ein vielverbreitetes Gerücht, es befänden sich unter den ersten Familien Portugals und Spaniens solche, die äußerlich Christen schienen und im Innern ihres Hauses den Glauben und Dienst ihrer jüdischen Väter bewahrten. Die holländ. Juden waren seit der Errichtung des Freistaats durch unermeßliche Reichthümer berühmt; die poln. und russ., nicht befriedigt durch einen ausgedehnten Handel, brachten noch den Bier- und Branntweinschank an sich, ja selbst zu Posthaltern wußten sie sich hier und dort emporzuschwingen; dagegen den beschränktern deutschen Juden Armuth und ein nur mittelmäßiger Wohlstand zu Theil ward. Aber darin waren sich die Juden aller Länder gleich, daß sie, ohne Antheil am staatsbürgerlichen Leben, an Ehre, Vaterland und Freiheit, überall als Fremdlinge lebten und jeden Ruhm eines gemeinnützigen Wirkens einem niedrigen Eigennutze zum Opfer bringen mußten. Diese Schmach der Niedrigkeit begann erst seit der Mitte des 18. Jahrh. sich in einen allmälig verbesserten Zustand für die Juden umzuändern, seitdem die fortgeschrittene Bildung ihnen nicht mehr den Besitz der Menschenrechte streitig machte und sie selbst, [514] angeregt durch hochgebildete und geistvolle Volksgenossen, auf jede Weise den Foderungen der Zeit nachzukommen suchten. So wurde die Volkserziehung verbessert, die talmudischen Satzungen verloren ihr Gewicht und beim Gottesdienste kam die Landessprache in Gebrauch. Das natürliche Ergebniß dieses Zustandes war die Foderung der vollen bürgerlichen Gleichstellung mit den Christen. Das Losungswort des Liberalismus: bürgerliche und religiöse Freiheit für alle Welt! gewann dieser Emancipation eine mächtige Partei. Napoleon vollzog die bürgerliche Erlösung der Juden 1806, die auch in Holland und Belgien gültig blieb; in Nordamerika gehörte sie zum Wesen des Staats. Auch in deutschen Landen ist der bürgerliche Zustand der Juden seit Joseph II. mannichfach gebessert worden, aber gegen ihre vollkommene Gleichstellung, die nur unter der franz. Herrschaft vorübergehend stattfand, erinnerte eine sonst nicht illiberale Partei, daß die Juden dem Vaterlande doch nur Fremdlinge seien, denen daher die höchste Gastfreundschaft, aber kein Staatsbürgerrecht gebühre, und daß die europ. Staaten auf christlichen Grundlagen ruhen, die durch bürgerliche Gleichstellung der Juden zwar nicht erschüttert, doch verleugnet würden. Aber es ist ein harter Widerspruch, von den Juden bürgerliche Gesinnung und Gesittung fodern und sie dennoch von dem Genusse bürgerlicher und politischer Rechte ganz oder zum Theil ausschließen. – Versuche zur Bekehrung der Juden sind auch in neuerer Zeit vielfach gemacht worden, scheitern aber zumeist an dem Mangel an Glauben unter den Christen selbst. In Rußland sind den Juden, welche sich zum Christenthume bekehren und welche israelitische Christen heißen, besondere Vortheile eingeräumt. Sie können sich für jedes christliche Bekenntniß bestimmen, erhalten Ländereien, Gewerbefreiheit, Bürgerrecht, können sich durch selbstgewählte Obere regieren, sind von allen Staatsdiensten befreit und treten erst nach 20 Jahren mit den übrigen Unterthanen in gleiche Verpflichtungen.
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