Rousseau, Jean Jacques

[492] Rousseau, Jean Jacques. Wenn der Abend seinen Purpurmantel um die weißen Schultern der Alpen faltete und über den Genfer See die Klänge des Kuhreigen verhallten, saßen zu Anfange des 18. Jahrhunderts in einem kleinen Häuschen zu Genf zwei Gestalten einander schweigend gegenüber, jeder nur mit sich und mit den Gebilden beschäftigt, die aus den schwarzen Lettern des Buches aufstiegen, das vor ihm lag. Sie hörten nicht das muntere Leben der Menschen. Ihr Ohr war taub für das Gemurmel des silbernen Rhone, das der Abendwind herüberwehte an die kleinen Fenster. Nur der einförmige Perpendikelschlag vieler Uhren, die an der Wand hingen, unterbrach die Todtenstille. Der Jüngere, fast noch ein Kind, war J. J. R., sein Gefährte dessen Vater. Letzterer war Uhrmacher, arm, aber gebildet, nur zu schwärmerisch, um ein guter Erzieher sein zu können für einen noch schwärmerischeren Sohn, der die Mutter unmittelbar nach seiner Geburt, am 28. Juni 1712, verloren hatte. So blieb er sich und seinen Träumen überlassen. Die frühzeitige Lectüre von Romanen brachte das Gemüth des Knaben in ein völlig verkehrtes Verhältniß zu dem wirklichen Leben, und obschon er im 9. Jahre diese Lectüre mit dem Studium des Plutarch, Bossuet etc. vertauschte, so hatte der Keim des eingesogenen berauschenden Trankes doch Wurzel geschlagen. Durch Plutarch ward sein republikanischer Sinn geweckt und zum leidenschaftlichen Fanatismus gesteigert, Um diese Zeit mußte sein Vater wegen eines Ehrenhandels Frankreich verlassen und der Sohn ward in eine Pension gethan, kam bald darauf zu seinem Oheim und von diesem zu einem Greffier den er aber auch verließ, um zu einem Graveur in die Lehre zu gehen. Hier legte er sich wieder eifrig auf die Lectüre und las eine ganze Büchersammlung durch, bis ihn eine Mißhandlung seines Lehrherrn zur Flucht zwang. R. war jetzt 15 Jahr, irrte in[492] Savoyen umher und kam endlich durch Empfehlungen eines Geistlichen zu Frau von Warrens in Annecy. Diese fand Gefallen an dem jungen R., verzog ihn halb aus Gutmüthigkeit, halb aus sittlicher Schwäche zum Liebhaber, und schickte ihn später nach Turin, wo er katholisch ward. Hier lebte er zwei Jahre in dem Hause eines angesehenen Mannes, verließ dann plötzlich mit einem Abenteurer Turin, zog ein Jahr lang planlos umher, und kehrte dann wieder nach Annecy zurück, wo er nunmehr ordentlich zu studiren begann, vornehmlich aber Musik trieb. Bei alle dem hielt man ihn für sehr schwachköpfig. Ein Jahr später trat er als Musiklehrer auf, und lebte als solcher von 1731–33 in Lausanne und Neufchatel. Später trat er als Erzieher eines sehr jungen Mannes in Dienste, fand keinen Gefallen an seinem Zögling und kehrte wieder nach Chambery zurück, wo ihm Frau von Warrens eine Anstellung verschaffte. Auch hier hielt er jedoch nicht lange aus. versuchte Mehreres, trat nochmals als Erzieher auf und ging 1740 wieder nach Paris. Hier machte ein von ihm erfundenes System der Notenschrift Glück und Aufsehen. Nunmehr begann R. als Schriftsteller aufzutreten, doch, wie es scheint, ohne Glück. Er schrieb über Musik, verfertigte Tragödien, componirte eine Oper. Unzufrieden ging er 1753 als Gesandtschaftssecretair mit Montaigne nach Venedig, wo er 18 Monate blieb, darauf wieder nach Paris zurückkehrte und mit Diderot in Verbindung trat. Die Preisaufgabe der Akademie zu Dijon (über den Einfluß der Künste und Wissenschaften auf die Sitten) veranlaßte ihn, nochmals als Literat aufzutreten. Seine Abhandlung ward 1750 gekrönt und sein Name nun schnell bekannt. Die Sehnsucht der Zeit, dem Raffinement zu entsagen und der Natur sich zu nähern, die sich in R's schwärmerischem Gemüth dis zum Fanatismus der Empfindung ausbildete, vermochte ihn bald darauf öffentlich das zu vertreten, was Andere nur sich schüchtern zu gestehen wagten. Er verließ die Gesellschaft, trug lange armenische Kleider, lebte wie ein neuer Diogenes, schrieb [493] Noten ab für geringen Lohn und lehnte eine Pension ab. Diese Seltsamkeiten im äußern Leben, womit die Paradoxen seiner literarischen Erzeugnisse harmonirten, erweckten ihm Spötter und Neider, zu denen sich bald noch die Intriguen eines seiner früheren Freunde (Grimm's) gesellten. Ungeachtet sich R's Ruhm täglich vergrößerte, ward sein Geist doch verdüstert, und der Gedanke, alle Welt verschwöre sich gegen ihn, begann schon in jener Zeit ihn zu beherrschen. So lächerlich dieser Gedanke war, wurde er doch darin bestärkt durch die Feindschaft, welche ihm seine Lettres la musique franç. zugezogen hatten. R. glaubte sich nicht mehr sicher in Paris, er reiste nach Genf, trat wieder über zur reformirten Kirche und nahm den Titel eines Bürgers von Genf an. Als er später nach Frankreich zurückkehrte, lebte er in der Nähe von Paris auf dem Lande, und hier war es, wo er die größten Werke seines Geistes, die Jahrhunderte überdauern werden, schrieb:, »Nouvelle Heloise,« den, »Contrât social« und den »Emile« (1760–1762). Das letztere Buch ward vom Parlament als gottlos verdammt und ein Verhaftsbefehl gegen R. erlassen. R. entfloh nach der Schweiz und lebte von 1762–1765 im Canton Neufchatel zu Motiers-Travers. Hier bemühte sich Friedrich II., ihm eine Unterstützung zukommen zu lassen. Verfolgt von der Bigotterie eines Geistlichen mußte er auch dieses Asyl verlassen und flüchtete sich in den Bielersee auf die Petersinsel. Aber auch hier war ihm keine lange Ruhe gegönnt. Nach wenigen Monaten sah er sich genöthigt, abermals zu fliehen, wahrscheinlich durch ein sittenloses Mädchen, Therese Levasseur, dazu veranlaßt, mit welcher R. früher lange Jahre in der engsten Verbindung gelebt hatte zu seinem größten Unglücke. Er ging nach Straßburg, bald darauf, durch Hume's Schilderung des unabhängigen, freien Lebens in England berauscht, nach England. Dort miethete er 50 Stunden von London in völliger Einsamkeit ein Landhaus, um ungestört leben und träumen zu können. Allein auch dieses Verhältniß konnte bei seiner[494] Reizbarkeit nicht lange dauern. Er verließ England und kam wieder nach Frankreich, wo er einige Zeit auf dem Schlosse des Prinzen Conti unter dem Namen Renou lebte, bis er 1770 nach Paris ging, um hier seine bereits in England begonnenen »Confessions« zu beendigen, das seltsamste Werk, das je aus eines Mannes Feder geflossen, voll bizarrer Ehrlichkeit, radicaler Tugend und empfindlicher Leidenschaftlichkeit. Um jede Protestation gegen die Wahrhaftigkeit dieser Bekenntnisse noch bei Lebzeiten niederzuschlagen, las er sie an vielen Orten vor. 1778 endlich ging er nach Ermenonville, wo er am 3. Juli – man sagt freiwillig – aus dem Leben schied. R. war der ausgeprägteste Typus seines nach Freiheit seufzenden Jahrhunderts. Er war der Martyrer einer Zeit, die noch nicht zum Verständniß ihrer selbst gekommen, und starb den Tod der Freiheit, die er predigte, aber nicht mehr erlebte. Er war das erste Opfer der noch ungebornen, aber längst gezeugten Revolution.

W......m.

Quelle:
Damen Conversations Lexikon, Band 8. [o.O.] 1837, S. 492-495.
Lizenz:
Faksimiles:
492 | 493 | 494 | 495
Kategorien:

Buchempfehlung

Meyer, Conrad Ferdinand

Gustav Adolfs Page

Gustav Adolfs Page

Im Dreißigjährigen Krieg bejubeln die deutschen Protestanten den Schwedenkönig Gustav Adolf. Leubelfing schwärmt geradezu für ihn und schafft es endlich, als Page in seine persönlichen Dienste zu treten. Was niemand ahnt: sie ist ein Mädchen.

42 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon