[534] Übel (kakon, malum) ist ein Wertbegriff, bedeutet alles als schlecht, unvollkommen, schädlich, unzweckmäßig Gewertete, alles, was dem zwecksetzenden und nach Zwecken beurteilenden Geiste als nicht sein-sollend gilt. Subjectiv ist ein Übel, insofern es auf das Gefühl des einzelnen bezogen wird, objectives Übel ist die durch allgemeingültiges Urteil festgestellte Unzweckmäßigkeit.[534] Beide Arten des Übels sind aber relativ, ein Übel an sich kann es nicht geben, nur in Beziehung zu irgendeinem, sei es individuell-immanenten, sei es universaltranscendenten Zwecke ist etwas gut (s. d.) oder vom Übel. Da aber Zwecke Willensintentionen sind, so ist das Übel mit dem Wollen gesetzt, unter der Voraussetzung, daß eine Vielheit von Willensintentionen besteht. Der Individualwille kommt, im Streben nach Selbsterhaltung, in Conflict mit anderen Willen, und das Product desselben ist das Übel. Die relative Harmonie der Einzelwillen verringert das Übel, und die absolute Harmonie alles Wollens in der Welt müßte das Übel gänzlich aufheben. Vielleicht aber ist der Selbstwille, der Wille zur Individualität, ein ewiges Weltprincip, das niemals durch den Willen zur Einheit des Alls aufzuheben ist, aufgehoben werden soll, weil zur Vollkommenheit des Ganzen gehörend, und dann ist das Übel sowohl eine ewige Folge der Selbstbejahung (der »Urschuld«) als auch ein ewiger Factor der Entwicklung: an sich ein Negatives, eine Privatio (s. d.), wirkt es positiv, durch Reizung des Willens (vgl. GOETHE, Faust I). Das ist die Theodicee, die Concordanz der Tatsache des Übels mit der Idee der Vollkommenheit der höchsten All-Einheit, der Gottheit. – Das mit der Individualität gesetzte ist das metaphysische Übel. davon sind die physischen (z.B. Krankheit), moralischen, socialen Übel zu unterscheiden.
Zunächst einige Erklärungen des Begriffes »Übel«. Nach MICRAELIUS ist das Übel »privatio boni, seu defectus perfectionis debitae inesse«, kein Seiendes (ens) (Lex. philos. p. 615). Es gibt kein »malum metaphysicum«, welches dem Guten entgegengesetzt ist, »quia omne ens quoad essentiam bonum est« (l. c. p. 616. s. unten die Scholastiker). Nach HOBBES nennt der Mensch ein Übel dasjenige, »quod aversionis in ipso et odii causa est« (Leviath. I, 6). SPINOZA definiert: »Id malum vocamus, quod causa est tristitiae, hoc est, quod nostram agendi potentium minuit vel coërcet« (Eth. IV, prop. XXX). In der Natur (an sich) gibt es weder Gutes nach Schlechtes (De Deo II, 4). Nach LOCKE ist ein Übel alles, was Schmerz (Unlust) veranlaßt oder steigert oder Lust mindert oder ein anderes Übel bereitet oder ein Gut entzieht (Ess. II, ch. 20, §2). LEIBNIZ unterscheidet physisches, metaphysisches, moralisches Übel. Alles Übel ist ein Negatives, eine »Beraubung« (s. d.) des Guten (Theod. IB, § 21, 153). CHR. WOLF definiert: »Quicquid nos statumque nostrum sive internum, sive externum, imperfectiores reddit, malum est« (Psychol. empir. § 565). Nach PLATNER ist das Übel »das Leiden lebendiger Wesen« (Philos. Aphor. I, §1089). Nach KANT gibt es »Übel des Mangels (mala defectus) und Übel der Beraubung (mala privationis)«. »Die ersteren sind Verneinungen, zu deren entgegengesetzter Position kein Grund ist, die letzteren setzen positive Gründe voraus, dasjenige Gute aufzuheben, wozu wirklich ein anderer Grund ist, und sind ein negatives Gute« (Vers., den Begr. d. negat. Größ. in d. Weltweish. einzuführ., 2. Abschn., S. 36. vgl. Krit. d. prakt. Vern. I. T1., 1. B., 2. Hptst.). Nach G. E. SCHULZE ist ein Übel »der Gegenstand des Verabscheuens« (Psych. Anthropol. S. 406). HEGEL erklärt: »Das Übel ist nichts anderes als die Unangemessenheit des Seins zu dem Sollen« (Encykl. § 472). Nach SCHOPENHAUER ist ein Übel »alles dem jedesmaligen Streben des Willens nicht Zusagende« (W. a. W. u. V. I. Bd., § 65). Vgl. Böse, Gut.
Über Grund und Bedeutung des Übels bestehen verschiedene Ansichten und mehrfache Versuche einer Theodicee, letztere teils durch Betonung der Subjectivitat[535] und Redativität der Übel, teils durch Hinweis auf die Zugehörigkeit des Übels zum Guten, zur Weltordnung.
HERAKLIT erklärt: tô men theô kala panta kai agatha kai dikaia, anthrôpoi de ha men adika hypeilêphasin, ha de dikaia (Fragm. 61). Nach PLATO ist die Gottheit schuldlos (anaitios) an dem Übel (Tim. 42 D. vgl. Gut). Die Stoiker lehren die vernünftige Ordnung des Alls. das All ist vollkommen, die Übel tragen nur zur Herstellung des Guten bei, sind für das Ganze notwendig. Das Böse stammt nicht von Gott, sondern von den Bösen, und das Schlechte wird von Gott zum Guten gelenkt (vgl. Stob., Ecl. I, 30. SENECA, Ep. 87, 11. MARC AUREL, In se ips. V, 8. VIII, 35. PLUTARCH, Stoic. rep. 44, 6. 35, 1. Diog. L. VII, 96). Eine Theodicee gibt auch PLOTIN. »Die Vernunft... bewirkt das sogenannte Böse selbst vernunftgemäß, indem sie nicht will, daß alles gut sei, gleichwie ein Künstler nicht alles an einem Tier zu Augen macht. Demgemäß machte denn auch die Vernunft nicht alles zu Göttern, sondern teils Götter, teils Dämonen, eine zweite Natur, dann Menschen und Tiere der Reihe nach, nicht aus Neid, sondern mit Vernunft, welche intellectuelle Mannigfaltigkeit in sich hat« (Enn. III, 2, 11). »Die mit Recht über die Bösen verhängten Strafen nun muß man füglich der Ordnung zuschreiben, die da alles gebührend leitet. Was aber den Guten mit Unrecht zustößt, wie Züchtigungen, Armut, Krankheit: soll man das als eine Folge früherer Sünden bezeichnen? Es ist dies ja mit verflochten und kündigt sich im voraus an, so daß es anscheinend gleichfalls nach der Vernunft geschieht. Jedoch geschieht es nicht nach naturnotwendiger Vernunft, und es lag nicht in der Absicht, sondern war eine unbeabsichtigte Folge... Vielleicht ist sogar dieses Unrecht... von Nutzen für den Zusammenhang des Ganzen. Was auf Grund früherer Verhältnisse geschieht, ist doch wohl nichts Unrechtes. Denn man darf nicht glauben, daß einiges in einer bestimmten Ordnung beschlossen, anderes dem eigenen Belieben überlassen ist. Denn wenn alles nach Ursachen und natürlichen Consequenzen, nach einem Gedanken (Grunde) und einer Ordnung geschehen muß, so muß man annehmen, daß auch die kleineren Dinge mit hineingeordnet und verwebt sind« (l. c. IV, 3, 16).
Die mittelalterliche Philosophie betrachtet in der Regel das Übel als ein Negatives, als bloße »Beraubung« des (allein seienden) Guten. So nach GREGOR VON NYSSA. Das Böse hat etwas Gutes an sich (De hom. opif. 20). Nach ORIGENES ist das Böse ein ouk on, eine sterêsis (In Joh. II, 7). Gegen die manichäische (s. d.) Auffassung des Übels (s. Böse) wendet sich AUGUSTINUS. Das Übel trägt zur Schönheit bei, dient dem Guten (De civ. Dei XI, 18. XVII, 11. De ord. I, 18. Enchir. 3). – MAIMONIDES erklärt: »Omne malum in ente aliquo existente existens est privatio boni alicuius e bonis illius« (Doct. perplex. III, 10). Nach ALBERTUS MAGNUS ist das Übel »privatio primae formae boni« (Sum. th. I, 27, 1). Das Übel hat nur eine negative Ursache: »Mali non potest esse aliqua causa nisi deficiens« (l. c. II, qu. 1). Das Übel erhöht das Gute: »Malum iuxta bonum positum eminentius et commendabilius facit bonum« (l. c. II, 62, 2). Nach THOMAS ist das Übel eine »privatio debitae perfectionis« (Contr. gent. I, 71), »privatio eius, quod quis natus est et debet habere« (l. c. III, 7), »privatio« oder »defectus boni« (Sum. th I, 49, l c. 48, 5). Das Übel trägt zur Güte des Ganzen bei: »Bonus totius praeeminet bono partis. Ad prudentem igitur gubernatorem pertinet, negligere aliquem defectum bonitatis in parte, ut fiat augmentum bonitatis in toto« (Contr. gent. III, 71). Es gibt »malum secundum quid« und »malum in se«.[536]
Nach BAYLE kommt das Böse nicht von Gott (Dictionn., »Manichéens«). Eine systematische Theodicee gibt LEIBNIZ. Das physische Übel (Schmerz) dient der Strafe und Besserung, das moralische Übel (die Sünde) ist ein Product der Willensfreiheit, das metaphysische Übel aber gehört zur Weltordnung, es war in der Sphäre der ewigen Wahrheiten als eine Möglichkeit eingeschlossen, mußte verwirklicht werden, als zum Wesen des Endlichen gehörend, dem Gott nicht alle Vollkommenheit mitteilen konnte. Das Übel trägt zur Vollkommenheit des Weltganzen bei, ist eine »Beraubung«, wirkt Gutes (Theodic. I B, § 23 ff., 31 ff., 153). »Tout don parfait venant du père des lumières au lieu que les imperfections et les défauts des opérations viennent de la limitation originale que la création n'a pu manquer de recevoir avec le premier commencement de son être par les raisons idéales qui la bornent« (l. c. I, § 30 ff.). CHR. WOLF erklärt: »Da... alles, was wir Übel und Böses nennen, aus den Einschränkungen der Dinge herstammt, so hat Gott bei dem Übel und dem Bösen nichts mit zu tun, sondern es ist der Creatur ihr eigenes« (Vern. Ged. I, § 1056). Die Relativität der Übel betont R. CUDWORTH (True intell. syst. I, 5). Nach W. KING ist das Übel ein Relatives. Die Unvollkommenheit der Dinge ist notwendig, kein Endliches kann die Vollkommenheit Gottes haben. Die physischen Übel tragen zur Energie des Lebens bei, die moralischen beruhen auf der Willensfreiheit (De origine mali, 1702). Nach JOHN CLARKE liegt das Schlechte in den Schranken unserer Erkenntnis (An Inquir. into the causes and origin of Evil, 1720). Theodiceen geben auch W. DERHAM (Physico-Theology, 1713), JOHN RAY (Three physico-theological discourses, 1721) u. a. Nach PRIESTLEY sind alle scheinbaren Übel in Gott gut (Of philos. necess. 1777, p. VIII). Ähnlich wie Leibniz lehrt ROBINET (De la nat. I, l). Schriften über Theodicee zählen auf: BAUMEISTER (Historia de doctrina de optimo mundo, 1741), WOLFART (Controversiae de mundo optimo, 1745). – FEDER erklärt: »Keine Welt kann ohne Mängel und Einschränkung der einzelnen Teile und Kräfte sein. denn sie bestehet aus endlichen Substanzen. Dies nennt man das metaphysische Übel. Ohne dasselbe kann also keine Welt sein« (Log. u. Met. S. 377. vgl. SULZER, Verm. Schr. S. 323 ff. BILFINGER, De orig. mali. PESSING, Notw. d. Üb.. VILLAUME, Urspr. d. Üb.). PLATNER erklärt: »Das in der Welt zugelassene Übel entsteht teils aus den Unvollkommenheiten der geistigen und materiellen Wesen, teils aus den Verhältnissen und Einschränkungen, welche durch derselben Verknüpfung entspringen« (Log. u. Met. § 519 f.). – Nach KANT ist Theodicee »die Verteidigung der höchsten Weisheit des Welturhebers gegen die Anblage, welche die Vernunft aus dem Zweckwidrigen in der Welt gegen jene erhebt« (WW. VI, 77).
Nach HEGEL wird in der Geschichte das Negative zu einem Untergeordneten und Überwundenen (WW. IX, 19). Nach HILLEBRAND hat das Übel sein Wesen »in dem oppositiv-negativen Verhältnisse der endlichen Dinge gegen die Bedürfnisse der subjectiven Individualität« (Philos. d. Geist. II, 127). CHR. KRAUSE lehrt, daß das Gute selbst an dem Übel der Grundbestand ist, daß »alle einzelnen Grundbeständnisse, Elemente oder Momente des Übels für sich gut sind und nur durch die wesenwidrige Beziehung und Verbindung seiner Grundbeständnisse ein Übel und ein Böses entspringt und wirklich wird« (Allgem. Lebenslehre, S. 96). Grund des Bösen ist die »Ungottinnigkeit« (Vorles. S. 529). Das Böse stammt nicht aus Gottes Willen, sondern aus der Endlichkeit und dem allseitigen Zusammenleben der unvollkommenen Wesen. es wird von Gott aufgehoben (Urb. d. Menschh.3, S. 334). Nach MAMIANI ist das Übel schon[537] mit der Natur des Endlichen gegeben (Conf. II, 107 ff.. vgl. V. COUSIN, Du vrai p. 407 ff.). Nach FECHNER taucht das Übel »nur im Gebiete der Einzelnheiten« auf (Zend. Av. I, 244). Gott selbst wird vom Übel nicht betroffen (Tagesans. S. 50). Das Übel liegt nicht im Willen, sondern in einer »Urnotwendigkeit des Seins«, vermöge der das Sein überhaupt nicht sein konnte, ohne dem Übel zu verfallen (l. c. S. 51 ff.). Von einer »Urschuld« des Alogischen im Absoluten, Unbewußten (s. d.) als Grund des Übels spricht E. v. HARTMANN (s. Pessimismus). E. DÜHRING hält die widerlichen Gebilde und Störungen in der Natur für Nebenabfälle oder Verunstaltungen in der Ausführung des allgemeinen Entwurfs, Verfehlungen von Zwecken (Wirklichkeitsphilos. S. 91). HAGEMANN erklärt das metaphysische Übel als notwendig, da die endliche Welt dem Unendlichen gegenüber unvollkommen, mit Negation behaftet sein muß (Met.2, S. 198 f.). Das physische Übel ist »Privation oder Mangel dessen, was einem Geschöpfe naturgemäß zukommen sollte. Dahin gehören die Leiden, Krankheiten, Defecte der sinnlich-geistigen Menschennatur. Gott hat diese nicht für sich bezweckt, als wenn ihm das Leiden seiner Geschöpfe gefallen könnte, sondern nur als Mittel zu höheren Zwecken, sei es, um das sittlich gute Streben der Menschen zu fördern, sei es, um ihre sittlichen Verkehrtheiten zu strafen und so die moralische Ordnung aufrecht zu erhalten« (l. c. S. 199). Das moralische Übel »haftet nur an dem freien Willen eines geschaffenen Wesens, an dem Eigenwillen desselben, welcher selbstsüchtig sich gegen Gottes heiligen Willen auflehnt. Es gibt also kein Böses als substantielles Sein« Sofern Gott diese Welt und freie Wesen wollte, konnte er nicht umhin, das Böse zu dulden. »Zudem ist es der Weisheit Gottes angemessen, daß er Wesen mit der Freiheit zu sündigen schaffte, damit deren Verähnlichung mit ihm als eine durch angestrengte Willenskraft erworbene, im Kampfe mit dem Bösen erprobte um so wertvoller sei« (ib.). M. PERTY lehrt: »Gottes Werke sind zwar der Idee, der Conception nach vollkommen. aber es können während der Entwicklung z.B. der Organismen oder in deren späterem Leben widrige Umstände eintreten, auf welche die Organismen nicht berechnet sein können. Das läßt dann viele an Gottes Weisheit und Liebe zweifeln. Der Conflict mit der äußeren Welt ist aber zur Entwicklung absolut notwendig, zugleich fördernd und störend« (Die myst. Tats. S. 4). O. CASPARI erklärt: »Übel empfinden nur Wesen, die mit Gefühl und Empfindung begabt sind.« Die Übel entstehen dadurch, »daß Wesen, die von Grund aus individuell und autonom sind, unter bestimmten Constellationen sich gegeneinander verdunkeln, verwirren, aufheben, täuschen, hintergehen und übervorteilen können in der allerverschiedensten Weise. Umgekehrt können freilich auch nur solche Wesen dem gegenüber sich einander wiederum erleuchten, erquicken, hingeben, fördern, lebensvoll erfrischen und ihre tiefste Lebenslust miteinander erhöhen« (Zusammenh. d. Dinge S. 441, 443, 413 ff.). Nach A. DORNER ist das Böse nur am Guten und beruht nur »auf einem falschen Verhältnis an sich guter Factoren. es ist nur Durchgangspunkt der Entwicklung«, wird überwunden, bis es schließlich »durch gottbegeisterte Tätigkeit in seiner völligen Nichtigkeit offenbar wird und in der Gottmenschheit immer mehr verschwindet, in welcher der von Gottes Geist erfüllte Geist zu freier, alle Gegensätze überwindender Tätigkeit belebt wird« (Gr. d. Relig. S. 238 f.. vgl. Eth. S. 116 f., 534 ff.). Vgl. G. SPICKER, Vers. ein. neuen Gottesbegr. S. 217 ff.. ÖLZELTNEVIN, Kosmodicee. RENOUVIER, Nouv. Monadol. p. 454 ff.. L. BOURDEAU, Cause et origine du mal, Rev. philos. T. 50, 1900, p. 113 ff. – Vgl. Böse, Gut, Optimismus, Pessimismus.[538]
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