Gedächtnis

[345] Gedächtnis ist die Fähigkeit zu gedenken, d.h. psychische Erlebnisse zu erneuern, zu reproducieren (s. d.). Ein besonderes Gedächtnis-Vermögen gibt es nicht, sondern nur specielle Erinnerungsmöglichkeiten, Dispositionen (s. d.) von Erlebnissen aller Art. Das (genügend intensiv oder wiederholt) Erlebte hinterläßt in der Psyche »Spuren«, d.h. bei gegebenem Anlaß ist die Psyche nun befähigt, ein dem vergangenen mehr oder weniger ähnliches Erlebnis zu producieren. Gedächtnis und Phantasie (s. d.) sind nur graduell verschieden, da es keine unveränderte Reproduction (s. d.) gibt. Physiologisch betrachtet erscheinen die Dispositionen zur Reproduction als moleculare Veränderungen im Nervensystem. Das Gedächtnis tritt in verschiedenen Qualitäten (Sach-, Namen-, Zahlen-, visuelles, auditives u. a. Gedächtnis) und Wertigkeiten auf (Stärke, Umfang, Treue, Sicherheit des Gedächtnisses; mechanisches, judiciöses Gedächtnis). Gedächtnisbilder sind die anschaulichen Erinnerungsvorstellungen. Unter Erinnerung versteht man die actuelle Reproduction eines Erlebnisses mit dem Bewußtsein des Reproducierten. Erinnerungsbilder sind reproducierte Vorstellungen.

In der Geschichte des Gedächtnisbegriffes treten drei Haupttheorien auf: die psychologische, die physiologische und die psycho-physiologische, alle in verschiedenen Modificationen.

PLATO unterscheidet schon Gedächtnis (mnêmê) und Erinnerung (anamnêsis) Die Seele gleicht einer wächsernen Tafel (kêrinon ekmageion) welche die Eindrücke behält (Theaet. 191 C). Das Gedächtnis ist eine Aufbewahrungsstätte der Wahrnehmungen (sôtêria aisthêseôs) Phileb. 34 B). Die Erinnerung ist ein seelischer Act hotan ha meta tou sômatos epasche poth' hê psychê, tout' aneu tou sômatos autê en heautê ho ti malista analambanê, tote anamimnêskesthai pou legomen; ib.). Die anamnêsis (s. d.) hat erkenntnistheoretische Bedeutung. ARISTOTELES erblickt in der phantasia eine Nachwirkung der aisthêsis in der Seele (De an. III, 3), ein Nachbild derselben (Rhetor. I 11, 1370a 28). Die mnêmê beruht auf dem Beharren (monê) des Eindrucks (De memor. 1; Anal. post. II, 19; De an. I 4, 408b 17). Die anamnêsis ist ein Willensact (De memor. 2). Nach STRATON beruht die Erinnerung auf der Bewegung, physischen Spur hypomonê der Empfindung (Plut., Plac. IV, 23); nach Ansicht der Stoiker auf einem Abdrucke (typôsis) in der (materiell gedachten) Seele (l.c. IV, 11; CICERO, Acad. II, 10, 30; EPIKTET, Diss. I, 14, 9). PLOTIN hingegen faßt die Erinnerung als einen geistigen Act auf (Enn. IV, 6, 3). Gott hat kein Erinnern (l.c. IV, 3, 25).

AUGUSTINUS verlegt das Gedächtnis in den Geist. Er nimmt auch ein Gefühlsgedächtnis an (Confess. VIII, 14), unterscheidet sinnliches und intellectuelles Gedächtnis (l.c. X, 7 f.; De quant. an. 33; De trin. IX, 3; XI, 2; XV, 23; De lib. arb. II, 3). So auch die Scholastiker. Das Gedächtnis ist ihnen ein Behalten der »species« (s. d.) seitens der Seele. AVICENNA definiert die »virtus conservativa et memorialis« als »thesaurus eius, quod pervenit ad existimativam de intentionibus in perceptis sensu extra formas eorum sensu perceptas« (bei STÖCKL II, 38). Die Erinnerung ist »actus reflexus in id, quod prius per sensum acceptum est« (bei ALBERTUS MAGNUS, Sum. th. I, 15, 2). ALBERTUS MAGNUS versteht unter »memoria sensibilis« die »recordatio prius accepti« (l.c. I, 15, 2). »Memoria quae mentis est, actum paternum habet ex se formandi intelligentiam, quae est actum reductionis in prototypum« (ib.). »Memoria duplex una est habitus mentis, alia est coacervatio formarum sensibilum[345] prius acceptarum« (l.c. I, 69, 1). Nach THOMAS hat die »memoria« die Function, »conservare species rerum, quae actu non apprehenduntur« (Sum. th. I, 79, 6c), das Gedächtnis ist »thesaurus vel locus conservationis specierum« (l.c. I, 79, 7a). Es gibt »memoria sensitiva« und »intellectiva« (l.c. I, 77, 8 ob. b. 4; I, 79, 6). »Reminiscentia« ist »inquisitio alicuins, quod a memoria exeidit« (Memor. 5 b).

CAMPANELLA sieht in den Gedächtnisbildern abgeblaßte Wahrnehmungen. »Passio autem remanet, abeunte activo, sed languida. Haec autem remansio est memoria« (Univ. phil. I, 6, 4). Nach L. VIVES ist das Gedächtnis ein »receptaculum« (De an. II. p. 50), »facultas animi, qua quasi ea, quae sensu aliquo, externo aut interno, cognivit, in mente continet« (l.c. p. 54). Zu unterscheiden sind: »memoria«, »recordatio«, »reminiscentia« (l.c. p. 55). Functionen des Gedächtnisses sind das »apprehendere« und das »retinere« (ib.). Es gibt verschiedene Arten des Gedächtnisses (für »res«, »verba« u.s.w.) (l.c. p. 56). Die Aufmerksamkeit festigt das Gedächtnis (»memoriam confirmat«, l.c. p. 56).HOBBES definiert die Erinnerung als Bewußtsein des Wahrgenommenhabens: »Sentire se sensisse est meminisse« (De corp. 25, 1). SPINOZA erklärt »memoria« als »quaedam concatenatio idearum, naturam rerum, quae extra corpus humanum sunt, involventium, quae in mente fit secundum ordinem et concatenationem affectionum corporis humani« (Eth. II, prop. XVIII, schol.). Wie schon DESCARTES (De hom. p. 132; Princ. phil. IV, 196), nehmen MALEBRANCHE u. a. »ideae materiales« (S. Ideen) als Vermittler der Erinnerung an. LEIBNIZ nimmt bloß, psychische Dispositionen (s. d.) an. Nach LOCKE ist das Gedächtnis eine Behaltungsfähigkeit (»retentiveness«). Das »Behalten« der Vorstellungen bedeutet nur die Fähigkeit der Reproduction früherer Vorstellungen, wobei die Seele sich bewußt ist, sie gehabt zu haben (Ess. II, ch. 10, § 2; I, ch. 4, § 20). HUME versteht unter Gedächtnis die Fähigkeit der Reproduction von Eindrücken (Treat. I, sct. 3, S. 18). Die Hauptfunction der Erinnerung besteht im Festhalten der Ordnung und wechselseitigen Stellung der Vorstellungen (l.c. S. 19). Nach HARTLEY, BONNET u. a. beruht das Gedächtnis auf Dispositionen (s. d.) im Gehirn (s. Association), so auch nach HOLBACH: »La mémoire est la faculte que l'organe intérieur a de renouveller en lui-même les modifications qu'il a reçue« (Syst. de la nat. I, ch. 8, p. 113). CONDILLAC bemerkt: »Quand une idée se retrace à la statue (s. d.), ce n'est donc pas qu'elle se soit conservée dans le corps ou dans l'âme: c'est que le mouvement, qui en est la cause physique et occasionelle, se reproduit dans le cerveau« (Tr. d. sens. I, ch. 2, § 38; Log. I, ch. 9). Von den Wahrnehmungen bleibt »une impression plus ou moins forte, suivant que l'attention a été elle-même plus ou moins vive« (l.c. § 6). »La memoire est le commencement d'une imagination qui n'a encore que peu de force; l'imagination est la mêmoire même, parvenue à toute la vivacité dont elle est susceptible« (l.c. § 29). DESTUTT DE TRACY erklärt: »La mémoire consiste à sentir les souvenirs des sensations passées« (Elem. d'idéol. I, ch. 3, p. 41).

Nach CHR. WOLF ist »Gedächtnis« »das Vermögen, Gedanken, die wir vorhin gehabt haben, wieder zu erkennen, daß wir sie schon gehabt haben, wenn sie uns wieder vorkommen« (Vern. Ged. I, § 249). »Memoria in facultate ideas reproductas... et res per eas repraesentatas recognoscendi consistit« (Psychol. rat. § 278; Psychol. empir. §175). Erinnerung ist »facultas perceptiones praeteritas mediate reproducendi et recognoscendi« (Psychol. empir. § 230). Es gibt »ideae[346] materiales« (s. d.). BAUMGARTEN definiert: »Memoria est facultas reproductas perceptiones recognoscendi« (Met. § 579). PLOUCQUET: »Memoria est ea vis repraesentandi, qua nexus posteriorum cum prioribus perceptionibus excitatur« (Princ. de subst. p. 75). Nach CRUSIUS ist das Gedächtnis das »Vermögen, die einmal gehabten Begriffe fortzusetzen und bei gewissen Umständen wiederum lebhaft zu denken« (Vernunftwahrh. § 426). PLATNER definiert das Gedächtnis als »Vermögen, mittelst dessen wir vormalige Ideen aufbehalten« (Phil. Aphor. I, § 285). Erinnerung ist das »Vermögen, mit Ideen der Phantasie zu verbinden das Bewußtsein ihrer vormaligen Darstellung« (l.c. § 422). Sich erinnern heißt: »Ideen des Gedächtnisses vergleichen mit ähnlichen Ideen entweder der Sinnen oder des Gedächtnisses« (l.c. § 78). Auf Association (s. d.) führt JAMES MILL die Erinnerung zurück. – KANT erklärt: »Das Gedächtnis ist von der bloß reproductiven Einbildungskraft darin unterschieden, daß es die vormalige Vorstellung willkürlich zu reproducieren vermögend, das Gemüt also nicht ein bloßes Spiel von jener ist« (Anthrop. I, § 32). Es gibt ein mechanisches, ingeniöses, judiciöses Gedächtnis (ib.). Das erstere beruht bloß auf Wiederholung; das ingeniöse Memorieren ist »eine Methode, gewisse Vorstellungen, die an sich (für den Verstand) gar keine Verwandtschaft miteinander haben.... dem Gedächtnis einzuprägen«; das judiciöse Memorieren ist »kein anderes als das einer Tafel der Einteilung eines Systems in Gedanken« (ib.).

FRIES nennt Gedächtnis das Vermögen der Fortdauer unserer Vorstellungen (Syst. d. Log. S. 51 f.). Die Erinnerung besteht darin, daß uns »Erkenntnisse, die wir früher hatten, wieder zum Bewußtsein kommen« (l.c. S. 63). HEGEL erklärt: »Der Name als Verknüpfung der von der Intelligenz producierten Anschauung und seiner Bedeutung ist zunächst eine einzelne vorübergehende Production, und die Verknüpfung der Vorstellung als eines Innern mit der Anschauung als einem Äußerlichen ist selbst äußerlich. Die Erinnerung dieser Äußerlichkeit ist das Gedächtnis« (Encykl. § 460). ES gibt ein »behaltendes« und »reproducierendes« Gedächtnis (l.c. § 462). Erinnerung ist »die Beziehung des Bildes auf eine Anschauung, und zwar als Subsumtion in der unmittelbaren einzelnen Anschauung unter das der Form nach Allgemeine, unter die Vorstellung, die derselbe Inhalt ist; so daß die Intelligenz in der bestimmten Empfindung und deren Anschauung sich innerlich ist und sie als bereits ihrige erkennt, wobei sie zugleich ihr zunächst nur inneres Bild nun auch als unmittelbares der Anschauung, und an solcher als bewährt weiß« (l. c § 454). K. ROSENKRANZ versteht unter »Erinnerung« (im Unterschiede von der »Wiedererinnerung«) das Innerlichmachen der Anschauung als actives Erinnern, Verinnern, wodurch die Anschauung zum »Bilde« wird (Psychol.3, S. 338 ff.). Das »Gedächtnis« entsteht mit der Sprache als »das Erfassen der Sache in der Äußerlichkeit ihrer Bezeichnung. Es verknüpft mit einem Namen eine Sache« (l.c. S. 398 ff.). Die Erinnerung im gewöhnlichen Sinne ist das Werk der »reproductiven Einbildungskraft«, »welche die Vorstellung ohne den äußeren Anreiz einer correspondierenden Anschauung durch die freie Macht der subjectiven Intelligenz plötzlich und unwillkürlich wieder hervorruft« (l.c. S. 347 ff.; Syst. d. Wiss. § 638 f.). Nach HILLEBRAND ist das Gedächtnis »das Streben der Seele, sich an dem zeitlich-bestimmten Denken als einfache freie Selbstheit in continuierlicher Identität mit sich... zu behaupten« (Phil. d. Geist. I, 232). Es bezeichnet »die GedankenContinuität in einem psychischen Individuum« (ib.). Erinnerung ist »die Reproduction eines psychischen[347] Selbstbestimmungsactes mit der Bestimmtheit des abstracten Unterschiedes zwischen dem subjectiven Selbst und dem bezüglichen Objecte« (l.c. I, 229). SCHOPENHAUER erklärt: »Die Eigentümlichkeit des erkennenden Subjects, daß es in Vergegenwärtigung von Vorstellungen dem Willen desto leichter gehorcht, je öfter solche Vorstellungen ihm. schon gegenwärtig gewesen sind, d.h. reine Übungsfähigkeit, ist das Gedächtnis«. »Will man von dieser Eigentümlichkeit unseres Vorstellungsvermögens ein Bild..., so scheint mir das richtigste das eines Tuchs, welches die Falten, in die es oft gelegt ist, nachher gleichsam von selbst wieder schlägt.« »Keineswegs ist... eine Erinnerung immer dieselbe Vorstellung, die gleichsam aus ihrem Behältnis wieder hervorgeholt wird, sondern jedesmal entsteht wirklich eine neue, nur mit besonderer Leichtigkeit durch die Übung« (Vierf. Wurz. C. 7, § 45).

HERBART erklärt das Gedächtnis als »unverändertes Wiedergeben früher gebildeter Vorstellungsreihen« (Umr. päd. Vorles. I, C. 2, § 21). Es gibt kein allgemeines Gedächtnis, sondern jede Vorstellung (s. d.) hat das Streben, nach ihrer Hemmung (s. d.) wieder bewußt zu werden (Lehrb. zur Psychol.3, S. 16; s. Reproduction). Nach VOLKMANN kommt jeder Vorstellung ihr Gedächtnis zu. Man kann »das Streben der Vorstellung nach Unmittelbarer Reproduction deren Gedächtnis im engeren Sinne, jenes, andere zur mittelbaren Reproduction zu bringen, deren Erinnerungskraft nennen und beide unter das Gedächtnis im weiteren Sinne zusammenfassen« (Lehrb. d. Psychol. I4, 490). Die Erinnerung besteht in der »Reproduction der Reihen von einem gemeinschaftlichen Endgliede aus« (l.c. S. 457). Nach BENEKE ist das Gedächtnis jeder Vorstellung die Kraft, mit welcher sie unbewußt (als »Angelegtheit«, »Spur«, (s. d.)) fortexistiert, die »Kraft ihres psychischen Seins« (Pragm. Psychol. I, 190; Lehrb. d. Psychol. § 101 f.). Die Erinnerung ist »fortgesetzte Reproduction« (Lehrb. d. Psychol. § 104). Nach H. RITTER ist Erinnerung »das Bewußtsein einer vergangenen Erscheinung in der Gegenwart« (Syst. d. Log. S. 202). Rein psychologisch erklärt auch GEORGE das Gedächtnis (Lehrb. d. Psychol.), so auch J. H. FICHTE (Psychol. I, 437 ff.) und ULRICI, nach welchen Erinnerung eine Eigenschaft der Seele ist (Leib u. Seele S. 477 ff., 497). Die Reproduction ist vom Gefühl abhängig (l.c. S. 491 f.); so auch HORWICZ (Psychol. Anal. I, 318). RENOUVIER erklärt Gedächtnis und Phantasie für nicht principiell verschieden (Nouv. Monadol. p. 116). Die Erinnerung (»remémoration active«) ist ein Suchen nach der Vorstellung, sie ist »une fonction hégémonique de l'esprit« (l.c. p. 120). L. NOIRÉ betont, wir können uns nur dessen erinnern, was wir wollen (Einl. u. Begr. e. mon. Erk. S. 204). Nach WITTE besteht das Gedächtnis »in der Kraft des Ichs, alle Bewußtseinsinhalte und Vorgänge auf seine eigene schlechthin constante vorempirische Lebenseinheit zu beziehen« (We(s. d.) Seele S. 182). REHMKE bestimmt das Erinnern als »in der Vorstellung etwas als Bekanntes wiederholen« (Allg. Psychol. S. 532). Gedächtnis ist »das Vorstellenkönnen von früher Gehabtes als früher Gehabtes« (l.c. S. 496). M. MÜLLER sieht im »Gedächtnis« einen Namen für die Erhaltung geistiger Kraft; zu erklären ist nur das Vergessen (Das Denken im Lichte d. Sprache S. 63 f.). H. CORNELIUS bestimmt die »Gedächtnisbilder« als Nachwirkungen früherer Erlebnisse. Das »Gedächtnisbild« hat »stets eine von ihm selbst zu unterscheidende Bedeutung«, es gibt sich uns unmittelbar als »Nachwirkung« zu erkennen, enthält den »Hinweis auf ein Nichtgegenwärtiges« (»symbolische Function« der Gedächtnisbilder[348] Einl. in d. Philos. S. 210 ff.). Das Gedächtnis besteht in einer »Fortwirkung der vergangenen Inhalte«. Empfindung und Erinnerungsbild sind inhaltlich verschieden (Psychol. S. 20 ff.). Nach DESSOIR bedeutet »Gedächtnis« im allgemeinen Sinne »die Tatsache, daß Empfindungen, Vorstellungen, Gefühle, Triebe ohne bedeutende Änderung ihres Inhaltes unter gewissen Bedingungen wieder auftauchen« (Doppel-Ich S. 65). Es gibt im Ich zwei »Gedächtnisketten«, eine ober- und unterbewußte (l.c. S. G`).

Nach E. v. HARTMANN beruht die Erinnerung auf unbewußten psychischen Functionen und physischen Dispositionen (Mod. Psychol. S. 134). Nach HERING kommt aller organisierten Materie ein Gedächtnis zu (Üb. d. Gedächtn. 1870); er spricht von Gattungserinnerung durch Vererbung. So auch PREYER (persönliches – phyletisches Gedächtnis) (Seele d. Kind. S. 230). HAECKEL schreibt der Plastidule (s. d.) ein unbewußtes Gedächtnis zu (Perigene(s. d.) Plastid. 1876, S. 38 f.). OSTWALD betrachtet das Gedächtnis als Eigenschaft der lebenden Substanz (Vorles. üb. Naturphilos.2, S. 367 ff.). A. LASSON unterscheidet drei Arten des Gedächtnisses: materielles, seelisches, geistiges Gedächtnis (Phil. Vorträge III. Folge, 2. H. 1894, S. 67). Das leibliche Gedächtnis kommt aller Materie zu (l.c. S. 67, 69 f.). Die Seele hat ein Vermögen der Reproduction (l.c. S. 70). Der Geist reproduciert bewußt-activ (l.c. S. 71). Immer ist das Gedächtnis die Identität mit sich (l.c. S. 66, 72). Nach H. SPENCER ist das Gedächtnis »eine Art von beginnendem Instinct« (Psychol. I, § 199), es beruht auf Bewußtseinszusammenhängen (l.c. § 201); die Erinnerung beruht auf »Assimilierung« (l.c. § 120). SULLY erklärt das Gedächtnis als »Function des Behaltens« (»retentiveness«); Erinnerung ist die »active Seite der Reproduction« (Handb. d. Psychol. S. 180, 183 ff.; Hum. Mind C. 9; vgl. JAMES, Psychol.c. 16, 18; TITCHENER, Outlin. of Psychol.c. 8, 11; STOUT, Anal. Psychol. II). Nach HÖFLER ist das Gedächtnis ein Fall der Übung, nämlich Vorstellungsübung (Psychol. S. 165). JODE erklärt das Gedächtnis als Tendenz des Fortbestehens jeder psychischen Erregung (Lehrb. d. Psychol. S. 460). Das »primäre« Gedächtnis besteht darin, daß alle Wahrnehmungen »mit abgeschwächter Intensität noch in einer gewissen Nähe der Schwelle verharren« (l.c. S. 113). W. JERUSALEM nennt Erinnerungen »Vorstellungen von Ereignissen, die wir uns bewußt sind selbst erlebt zu haben« (Lehrb. d. Psychol.3, S. 91). Das Gedächtnis ist »die psychische Disposition, Erinnerungsvorstellungen zu erleben« (l.c. S. 92). »Die Zahl der Vorstellungen oder die Länge der Reihen, die immer zur Verfügung stehen, bestimmt den Umfang des Gedächtnisses oder seine Stärke. Die Güte des Gedächtnisses ist bestimmt durch die Zahl der Wiederholungen die nötig sind, um eine Vorstellungsreihe zu behalten... Die Treue oder Verläßlichkeit des Gedächtnisses wird bestimmt durch den Grad der Genauigkeit, mit dem wir reproducieren« (l.c. S. 92). Das Interesse kräftigt das Gedächtnis (ib.). Die »Specialgedächtnisse« beruhen auf bestimmten Richtungen des Interesses (ib.). Experimentelle Untersuchungen über die Treue des Gedächtnisses gibt es von EBBINGHAUS (»die Quotienten aus Behaltenem und Vergessenem verhalten sich etwa umgekehrt wie die Logarithmen der verstrichener Zeit«, Üb. d. Ged. 188.5 S. 107), MÜLLER und SCHUMANN (Exper. Beitr. zur Unt. d. Ged., Zeitschr. f. Psychol. d. Sinn. Bd. VI, 1894), W. LEWY (Exper. Unt. üb. das Gedächtn., l.c. VIII, 231), KENNEDY (Experimental Investigat. of Memory, Psychol. Review V). Über Specialgedächtnisse vgl. Phil. Stud. I, II. III, IV, VIII – XII,[349] XV, VIERORDT, Der Zeitsinn 1868, ferner Année psychol. I, 1894, J. COHN (Z. f. Psychol. XV). Über Gedächtnisstörungen: FOREL (Das Gedächtn. u. seine Abnorm.), RIBOT (Mal. de la mémoire 1881). Nach ihm ist das Gedächtnis eine biologische Erscheinung, es beruht auf dynamischen Associationen der Nervenelemente. Es gibt kein Gedächtnis im allgemeinen (ib.). Physiologisch bestimmt das Gedächtnis MEYNERT (»Erinnerungszellen«), ferner ZIEHEN. In Ganglienzellen-Gruppen werden »Erinnerungsbilder« niedergelegt, d.h. »Residuen früherer sensibler Erregungen« (Leitfad. d. phys. Psychol.2, S. 14). Die Erinnerung beruht auf Association (l.c. S. 171 f.). So auch nach WUNDT. Er betrachtet die »Erinnerungsvorgänge« als einen Specialfall der »successiven Association« (s. d.). Erinnerung erfolgt, wenn die Hindernisse sofortiger Assimilation (s. d.), die den Übergang der simultanen in eine successive Association veranlassen, »so groß sind, daß die der neuen Wahrnehmung widerstreitenden Vorstellungselemente... zu einem besonderen Vorstellungsgebilde sich vereinigen, das direct auf einen früher stattgefundenen Eindruck bezogen wird«. Die so zur Apperception gelangende Vorstellung heißt »Erinnerungsvorstellung« (»Erinnerungsbild«) (Gr. d. Psychol.5, S. 289). Die »reproductiv entstandene« Vorstellung ist eine neue Vorstellung (l.c. S. 290). Jeder Erinnerungsvorgang setzt sich aus einer Menge elementarer Processe zusammen (l.c. S. 293). Die Rückbeziehung der Erinnerungsvorstellung auf ein vorangegangenes Erlebnis gibt sich im »Erinnerungsgefühl« zu erkennen (ib.). Die Wirkungen der Erinnerungsassociationen werden unter dem Namen »Gedächtnis« zusammengefaßt (l.c. S. 296). Erinnerungsvorstellungen und Wahrnehmungen »weichen nicht nur qualitativ und intensiv, sondern auch in ihrer elementaren Zusammensetzung durchaus voneinander ab« (l.c. S. 29S). Bei dem »Altersschwund des Gedächtnisses« ist besonders symptomatisch die Abnahme des Wortgedächtnisses, so daß »am frühesten die Eigennamen, dann die Namen concreter Gegenstände der täglichen Umgebung, dann erst die ihrer Natur nach abstracteren Verba und zuletzt die ganz abstracten Partikeln vergessen werden« (l.c. S. 300; Völkerpsychol. I, 1, C. 5; vgl. dazu RIBOT, Mal. de la mémoire: das Neuere wird vor dem Älteren vergessen, »Regressionsgesetz.«). KÜLPE erklärt: »Die Begriffe des Gedächtnisses und der Reproduction, z. T. auch der Erinnerung enthalten den einfachen Hinweis darauf, daß ein Eindruck, der einmal infolge bestimmter Reize stattgefunden hat, nicht schlechthin nach dem Aufhören der letzteren verschwindet, sondern irgendwie aufbewahrt wird und unter gewissen Bedingungen ohne eine Erneuerung des ursprünglichen äußeren Reizes wieder ein merklicher Inhalt des Bewußtseins zu werden vermag« (Gr. d. Psychol. S. 175). Es handelt sich hier um »central erregte Empfindungen« (l.c. S. 176 ff.). Ohne nachahmende, deutende Bewegungen findet keine willkürliche Erinnerung statt (l.c. S. 189). An sich ist nichts eine Erinnerung, es wird es erst »durch ein Urteil, das sich mit ihm verbindet« (1. G. S. 190). Vgl. Disposition, Phantasie, Reproduction, Association.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 345-350.
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