Naturphilosophie

[718] Naturphilosophie (»philosophia naturalis« schon bei SENECA, physikê »physica«, »cosmologia«, »natural philosophy« = Naturwissenschaft) ist die Metaphysik (s. d.) der Natur, die letzte, einheitliche, die allgemeinen Ergebnisse der Naturwissenschaft (s. d.) nach allgemeinen, erkenntniskritischen Principien[718] bearbeitende, deutende, verbindende Theorie des Wesens der Naturobjecte und Naturprocesse.

Im Altertum ist die Naturphilosophie eins mit der Naturwissenschaft, so bei den ionischen Naturphilosophen (s. d.), bei den Atomistikern (s. d.), bei den Eleaten, bei PLATO, ARISTOTELES, THEOPHRAST, STRATO, bei den Stoikern (s. d.), Epikureern (s. d.), bei LUCREZ (De nat. rer.) u. a. Die Scholastik pflegt die Naturphilosophie im Sinne des Aristoteles. Zu neuem Leben erwacht sie von der Zeit der Renaissance an, bei PARACELSUS, CARDANUS, TELESIUS (De natur. rer. 1586), PATRITIUS, CAMPANELLA (De sens. rer.), G. BRUNO, VAN HELMONT, SIMON PORTA (De rer. natural. princ. 1698), als quantitative Naturauffassung bei NICOLAUS CUSANUS, KEPLER, KOPERNIKUS, GALILEI, LEONARDO DA VINCI (vgl. EDM. SOLMI, Studi sulla filosofia naturale di L. da Vinci 1898), F. BACON, HOBBES, DESCARTES, GASSENDI, LEIBNIZ, NEWTON, HOLBACH, ROBINET u. a. Nach F. BACON zerfällt die Naturphilosophie in »speculative« (Physik, Metaphysik) und »operative« Naturphilosophie (Mechanik, »magia naturalis«) (De dignit. III, 3). RUDIGER stellt der mechanischen eine »göttliche« Naturphilosophie gegenüber (Physica divina 1716).

Eine dynamische, phänomenalistische (s. d.) Naturphilosophie lehrt KANT. Er unterscheidet allgemein Natur- (theoretische) und Moral- (praktische) Philosophie (Krit. d. Urt. I, Einleit.). Die Naturphilosophie im engern Sinne besteht in der »Zurückführung gegebener, dem Anscheine nach verschiedener Kräfte auf eine geringere Zahl Kräfte und Vermögen, die zur Erklärung der Wirkungen der ersten zulangen, welche Reduction aber nur bis zu Grundkräften fortgeht, über die unsere Vernunft nicht hinaus kann« (Met. Anf. d. Naturwiss. S. 104). Im Kantschen Sinne lehrt u. a. BENDAVID (Vorles. üb. d. met. Anf. d. Naturwiss. 1798).

Die Blütezeit der Naturphilosophie, als einer von der empirischen Naturwissenschaft unterschiedenen begrifflich-constructiven, aprioristischen, metaphysischen Speculation über die letzten Principien der Natur, ist das erste Drittel des neunzehnten Jahrhunderts, in der SCHELLINGschen Schule. SCHELLING erklärt: »Mit der Naturphilosophie beginnt, nach der blinden und ideenlosen Art der Naturforschung, die seit dem Verderb der Philosophie durch Baco, der Physik durch Boyle und Newton allgemein sich festgesetzt hat, eine höhere Erkenntnis der Natur; es bildet sich ein neues Organ der Anschauung und des Begreifens der Natur.« »Das, wodurch sich die Naturphilosophie von allem, was man bisher Theorien der Naturerscheinungen genannt hat, unterscheidet, ist, daß diese von den Phänomenen auf die Gründe schlossen, die Ursachen nach den Wirkungen einrichteten, um diese nachher aus jenen wieder abzuleiten. Abgerechnet den ewigen Zirkel, in dem sich jene fruchtlosen Bemühungen herumdrehen, konnten Theorien dieser Art doch, wenn sie das Höchste erreichten, nur eine Möglichkeit, daß es sich so verhalte, dartun, niemals aber die Notwendigkeit... In der Naturphilosophie finden Erklärungen so wenig statt als in der Mathematik: sie geht von den an sich gewissen Principien aus, ohne alle ihr etwa durch die Erscheinungen vorgeschriebene Richtung, ihre Richtung liegt in ihr selbst, und je getreuer sie dieser bleibt, desto sicherer treten die Erscheinungen von selbst an diejenige Stelle, an welcher sie allein als notwendig eingesehen werden können, und diese Stelle im System ist die einzige Erklärung, die es von ihnen gibt« (Naturphilos. I, 83 f.). Die Naturphilosophie geht den »Potenzen« (s. d.) des Absoluten auf den verschiedenen Stufen der Naturentwicklung nach.[719] Sie betrachtet die Natur, wie sie in Gott ist (Philos. Schrift. 1809, I, S. 429). Nach L. OKEN ist die Naturphilosophie »die Wissenschaft von der ewigen Verwandlung Gottes in die Welt« (Lehrb. d. Naturphilos. I 1, S. VII). In der Schrift »Übersicht des Grundrisses des Systems der Naturphilosophie« (1803) wird die Begründung der Naturwissenschaft auf mathematischer Basis gefordert. STEFFENS bemerkt: »Die Naturphilosophie hat für das Erkennen die Priorität, denn sie ist als das Erkennen des Erkennens oder als das potenzierte Erkennen zu betrachten« (Grdz. d. philos. Naturwiss. S. 16). »Das wissenschaftliche Bestreben aller Naturforschung geht dahin, in der Relativität der Form des Einzelnen die Absolutheit des Wesens zu erkennen.« »Es ist der Zweck aller Naturwissenschaft, den trügerischen Schein der endlichen Anschauung, durch welchen ein jedes Einzelne von dem Ganzen verschlungen wird..., aufzuheben. Das wahre Sein des Ganzen ist nur dann, wenn die Ewigkeit des Einzelnen gesichert ist« (l.c. S. 57). Zur Schellingschen Richtung gehören auch NEES VON ESENBECK (Naturphilos. 1841), ESCHENMAYER (Grundr. d. Naturphilos. 1832), BURDACH, SCHUBERT, CARUS, OERSTED, teilweise auch J. J. WAGNER (Von d. Natur d. Dinge 1803), TROXLER (Elem. d. Biosophie 1807; Blicke in d. We(s. d.) Mensch. 1812). – Aprioristisch, constructiv (s. d.) ist auch die Naturphilosophie HEGELS, nur daß das Phantasiemäßige hinter dem Logischen, Begrifflichen mehr zurücktritt, da der Panlogismus (s. d.) die Naturprocesse als Momente (s. d.) der Selbstentwicklung der Idee (s. d.) dartun will. Die Naturphilosophie betrachtet als »rationelle Physik« (Naturphilos., Einl. S. 5) das Allgemeine der Natur »für sich« »in seiner eigenen immanenten Notwendigkeit nach der Selbstbestimmung des Begriffes« (l.c. S. 11). »Die Naturphilosophie nimmt den Stoff auf, bis wohin ihn die Physik gebracht hat, und bildet ihn wieder um, ohne die Erfahrung als die letzte Bewährung zugrunde zu legen; die Physik muß so der Philosophie in die Hände arbeiten, damit diese das ihr überlieferte verständige Allgemeine in den Begriff übersetze, indem sie zeigt, wie es als ein in sich selbst notwendiges Ganzes aus dem Begriff hervorgeht« (l.c. S. 18). Die Naturphilosophie gewährt dem Geiste die Erkenntnis seines Wesens in der Natur (l.c. S. 23). »Die denkende Naturbetrachtung muß betrachten, wie die Natur an ihr selbst dieser Proceß ist, zum Geiste zu werden, ihr Anderssein aufzuheben, – und wie in jeder Stufe der Natur selbst die Idee vorhanden ist« (l.c. 24; Encykl. § 245 ff.). »Der Geist, der sich erfaßt, will sich auch in der Natur erkennen, den Verlust seiner wieder aufheben. Diese Versöhnung des Geistes mit der Natur und der Wirklichkeit ist allein seine wahrhafte Befreiung, worin er seine besondere Denk- und Anschauungsweise abtut. Diese Befreiung von der Natur und ihrer Notwendigkeit ist der Begriff der Naturphilosophie« (Naturphilos. S. 697). Ähnlich K. ROSENKRANZ, MICHELET, G. BIEDERMANN (Philos. als Begriffswiss. II, 1 ff.). u. a.

Eine Zeitlang lehnt die Naturwissenschaft jede Naturphilosophie ab und stellt höchstens eine materialistische (s. d.) Naturtheorie auf. Dann kommt es zu einer neuen Naturphilosophie auf Grundlage der Naturwissenschaften, die, anfangs noch stark speculativ, immer mehr den Charakter einer abschließenden Theorie der allgemeinen Naturwissenschaft annimmt. Der Darwinismus (s. d.) hat der Naturphilosophie einen neuen Impuls gegeben. – Das Speculative überwiegt noch bei HERBART (Allg. Metaphys.). Die Naturphilosophie, die in einen synthetischen und in einen analytischen Teil zerfällt (Lehrb. zur Einl.5, S. 287), ist nicht auf idealistische Weise bloß aus den Gesetzen unseres Vorstellens abzuleiten[720] (l.c. S. 309), sondern beruht auf Bearbeitung der Begriffe der Naturwissenschaft. SCHOPENHAUER, ein Gegner der Schellingschen »Hyperphysik«, meint, die durch Schelling eingeführte Naturansicht, »das Nachspüren des nämlichen Typus, der durchgängigen Analogie und der inneren Verwandtschaft aller Naturerscheinungen«, werde »eine ganz richtige Philosophie der Natur sein, sobald sie gereinigt wird von aller Schellingschen Hyperphysik«. »Das einzig Brauchbare und Bleibende, was aus der Naturphilosophie unserer Tage hervorgehen wird, wird sein eine Philosophie der Naturwissenschaft: d.h. eine Anwendung philosophischer Wahrheiten auf Naturwissenschaft« (Neue Paralipom. § 71). In mehr oder minder starker Anlehnung an die Naturwissenschaften lehren Naturphilosophie J. H. FICHTE, ULRICI, M. CARRIERE, E. V. HARTMANN, PLANCK (Testam. ein. Deutsch. 1881), FECHNER, WUNDT, E. HAECKEL (Natürl. Schöpfungsgesch., Welträtsel), H. SPENCER, RENOUVIER, MAGY, H. MARTIN, PESCH (Die groß. Welträtsel), SECCHI (Einf. d. Naturkräfte 1876), O. SCHMITZ-DUMONT (Naturphilos. als exacte Wissensch. 1895), P. CARUS, N. S. SHALER (The Interpretat. of Nature 1893) u. a. Vgl. HUMBOLDT, Kosmos 1845; SCHALLER, Gesch. d. Naturphilos. 1831/46; F. A. LANGE, Gesch. d. Materialism. 6. A., 1898; FR. SCHULTZE (Philo(s. d.) Natur. I u. II), der unter »Philosophie der Natur« die »Theorie des Wissens von der Natur oder eine natürliche Erkenntnistheorie« versteht. Sie ermöglicht erst eine wahre Naturphilosophie (l.c. I, 12). Vgl. Natur, Naturwissenschaft, Hylozoismus, Atomistik, Körper, Materie, Energie, Kraft, Princip, Dynamismus, Quantitativ, Mechanistisch, Leben, Lebenskraft, Organismus, Evolution, Selection, Vitalismus, Welt, Teleologie u.s.w.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 718-721.
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