[491] Temperament (tempero, mische. krasis) bedeutet eine typische Gemütsdisposition in bezug auf Qualität, Intensität, Beweglichkeit des Gemütslebens, der Affecte und Handlungsbereitschaft.
Schon EMPEDOKLES lehrt die Abhängigkeit der Erkenntnisschärfe von der Mischungsweise des Blutes (Theophr., De sens. 11, Dox. 502). Begründer der[491] Temperamentenlehre ist HIPPOKRATES (De nat. hom. 4). Nach ihm bestehen die Temperamente in Mischungsweisen der vier »Säfte« (humores) bezw. Qualitäten. je nach dem Überwiegen eines dieser Säfte oder einer Säftecombination ist die Gemütsart verschieden (s. unten bei Galen). Mischungsverhältnisse der Elemente (s. d.) zieht PLATO zur Erklärung von geistigen Eigenschaften heran (Tim. 86 A. Sympos. 188 A. Polit. 306 squ.. Republ. III, 411). Auf die Temperamentenlehre beziehen sich mehrfach ARISTOTELES (De part. an. I, 1 squ.. Problem. 30, l), ferner die Stoiker (SENECA, De ira II, 18 squ.), LUCREZ (De rer. nat. III, 288 squ.), PLUTARCH (Quaest. nat. 26), THEMISTIUS u. a. – Die Lehre des Hippokrates bildet GALEN aus. Gelbe Galle (cholê, »calidum siccum«), schwarze Galle (melaina cholê, »frigidum siccum«), Schleim (phlegma, »frigidum humidum«), Blut (»sanguis«, »calidum humidum«) und binäre Combinationen bedingen acht bis zwölf Temperamente (Intemperamente, dyskrasiai. dazu die eukrasia), von denen besonders einseitig sind das cholerische, melancholische, phlegmatische, sanguinische Temperament (vgl. De temp. I, 5. 8. II, 609. IX, 331. vgl. SIEBECK, G. d. Psychol. I 2, 284. VOLKMANN, Lehrb. d. Psychol. I 4, 208). – Diese Lehre findet sich auch im Mittelalter, so bei dem Byzantiner JOHANNES (De spir. I, 14. 17), bei den »lauteren Brüdern«, AVICENNA, AVERROËS u. a. Später auch bei MELANCHTHON, nach welchem das Temperament »congenita qualitatum primarum inter se convenientia vel excessus« ist (vgl. De an. f. 116 ff.. vgl. MICRAELIUS, Lex. philos. p.1057 f.. WALCH, Philos. Lex.. BUDDEUS, Histor. doctr. de temp.). Anstatt der »Säfte« zieht PARACELSUS die Principien Salz, Schwefel, Mercur heran (vgl. CHR. THOMASIUS, Ausüb. d. Sittenlehre C. 7). Vier Temperamente unterscheidet J. BÖHME. Nach STAHL beruhen die Temperamente auf dem Verhältnis der festen zu den flüssigen Teilen des Leibes (sanguinisches, cholerisches, phlegmatisches, melancholisches Temperament. De temper.). so auch FR. HOFMANN, RÜDIGER (Phys. div. I, 3, sct. 6 f.) u. a. Nach ROHR ist Temperament »eine Vermischung des Geblütes und der übrigen flüssigen Teile in dem menschlichen Körper, vermöge dessen nicht allein unterschiedene natürliche Wirkungen in unserem Leibe, sondern auch moralische in der Seele gezeugt werden« (Unterr. von d. Kunst, das menschl. Gemüt zu erforschen, 1714. Dessoir, G. d. n. Ps. I2, 479). HALLER leitet die vier Temperamente aus der Stärke und Reizbarkeit der Nervenfibern ab (Elem. physiol. II, 5, sct. 2). Nach HOLBACH ist das Temperament des Menschen, »l'état habituel où se trouvent les fluides et les solides dont son corps est composé« (Syst. de la nat. I, ch. 9, p. 121). Nach FEDER gibt es sechs Temperamente (Üb. d. menschl. Will. II). Eine neue Temperamentenlehre stellt PLATNER auf. Problem der, »psychologischen Temperamentenlehre« ist: »Wie entstehen aus den materiellen Verschiedenheiten des ersten Seelenorgans und aus seinen verschiedener Verhältnissen mit dem andern die verschiedenen Richtungen und Grade des Erkenntnis- und Willensvermögens« (Philos. Aphor. II, § 579). Vom Willensvermögen sind die Verschiedenheiten des Erkenntnisvermögens größtenteils abhängig (l. c. § 580). Im Menschen mischt sich Geistiges und Körperliches (Tierisches) in verschiedenen Verhältnissen: »Viel geistige Kraft, wenig tierische. wenig geistige, viel tierische. viel geistige und viel tierische zugleich. wenig geistige und wenig tierische Kraft.« Daraus entstehen vierlei Haupt-Temperamente, »Hauptbestimmungen der menschlichen Natur« (l. c. § 586 f.). Diese sind: Das attische (geistige), lydische (tierische), römische (heroische), phrygische (kraftlose). Außer Stärke und[492] Schwäche sind Lebhaftigkeit, Leichtigkeit, Geschwindigkeit wichtig, und so entstehen Unterarten von Temperamenten (l. c. § 590 ff.).
KANT unterscheidet Temperamente des Gefühls und der Tätigkeit, deren jedes mit Erregbarkeit (intensio) oder Abspannung (remissio) der Lebenskraft verbunden ist, so daß daraus die vier bekannten Temperamente resultieren (Anthropol, II, § 87. vgl. WW. IV, 415 ff.). »Physiologisch betrachtet versteht man, wenn vom Temperament die Rede ist, die körperliche Constitution (den schwachen oder starken Bau) und Complexion.« »Psychologisch aber erwogen, d. i. als Temperament der Seele (Gefühls- und Begehrungsvermögens), werden jene von der Blutbeschaffenheit entlehnten Ausdrücke nur als nach der Analogie des Spiels der Gefühle und Begierden mit körperlichen bewegenden Ursachen (worunter das Blut die vornehmste ist) vorgestellt« (Anthropol. II, § 87). Ähnlich lehren JAKOB (Erfahrungsseelenl. § 299), FRIES (Psych. Anthropol. § 64) u. a. – Auf der Gemütsdisposition beruht das Temperament nach DIRKSEN (Üb. d. Temperam. 1804), BIUNDE (Empir. Psychol. II, 120. Betonung des Moments der Reizbarkeit, l. c. S. 122 f.), E. REINHOLD (Psychol. S. 271), nach welchem Temperament ist »die von gewissen Beschaffenheiten der leiblichen Complexion und Constitution abhängige Art und Weise, wie unmittelbar das Gemüt und demnach mittelbar der Wille und die Tatkraft zur Erregbarkeit und zum Festhalten der aus der Anregung entstandenen Wirkung geeignet sind,« ferner LINDEMANN, ESSER (Psychol.) u. a. (dagegen J. F. FLEMMING, Beitr. zur Philos. d. Seele, 1830, I, 149). – Nach HEINROTH beruhen die Temperamente auf dem Überwiegen des lymphatischen, venös-biliösen, arteriellen, venösen Blutes (kaltblütiges, schwerblütiges, leichtblütiges, warmblütiges Temperament) (Anthropol. S. 135. Psychol. S. 262 ff.). So auch LICHTENFELS, nach welchem Temperament ist »der gemeinsame (beharrliche) psychische Ausdruck (Typus) aller Bestrebungen, Gefühle und Vorstellungen eines und desselben Individuums« (Gr. d. Psychol. S. 23), das »permanente Verhältnis der psychischen Spontaneität und Receptivität des Individuums« (l. c. S. 24).
Nach C. G. CARUS beziehen sich die Temperamente auf Fühlen, Wollen und Erkennen. Zu den vier Temperamenten kommen das psychische und das elementare hinzu (Symbol. S. 30 ff.). MEHRING betrachtet das Temperament als Verhältnis der Erhöhung und Stumpfheit von Sinn und Trieb (Selbsterk. I, 183). Nach BURDACH ist das Temperament die feste Constitution des Selbstgefühls (Blicke ins Leb. I, 92). Nach TROXLER ist das Temperament der »turgor vitalis« der Lebensgeister, das Persönlichkeitsbildende (Blicke in d. Wes. d. Mensch. S. 152 ff.). Nach STEFFENS sind in den Temperamenten »die Elemente der Erde, nicht bloß im ganzen, sondern für sich ewig geworden« (Grdz. d. philos,. Naturwiss. S. 194). Er unterscheidet südliches, nördliches, östliches westliches (sanguinisches etc.) Temperament (l. c. S. 194 f.). »Das erscheinende Temperament ist eine Abweichung von dem Normaltemperament, welches nur in der Totalität der Menschenorganisation zu schauen ist« (l. c. S. 196). SCHUBERT bezieht die Temperamente auf Receptivität und Activität (Lehrb. d. Menschen- u. Seelenkunde S. 117). Nach STEFFENS ist das Temperament etwas rein Psychisches. er unterscheidet genießendes, sehnsüchtiges, leidendes Temperament (Schriften II, 137 f.). Nach SUABEDISSEN ist Temperament die innere Beschaffenheit des Lebens, die den Menschen geneigt macht, auf gewisse Weise zu empfinden, zu fühlen, zu begehren, sich zu äußern. »Das Wesen dieser Beschaffenheit kann aber nichts anderer rein als die besondere Weise, wie in[493] einem Menschen das geistige und das leibliche Leben und die Haupttätigkeiten des geistigen und des leiblichen Lebens unter sich und miteinander geeinigt sind« (Grdz. d. Lehre von d. Mensch. S. 317 f.). Das Temperament kann nicht aus der Leibesbeschaffenheit erklärt werden. Jeder Mensch hat sein besonderes Temperament, es gibt aber Temperamentsarten (l. c. S. 318). Es gibt geistiges, sinnliches, leidendes, strebendes Temperament (ib.). Ein rein geistiges, leibliches und ein Vereintemperament unterscheidet CHR. KRAUSE (Psych. Anthrop. S. 242). – SCHLEIERMACHER gründet die Temperamente auf die Gegensätze von Wechsel und Dauer, Receptivität und Spontaneität (Psychol. S. 301 ff., 304 f., 314), In eine Gefühlsdisposition setzt das Temperament GEORGE (Psychol.). Ahnlich HERBART (vgl. Klein. philos. Schrift. II, 553 ff.. vgl. SCHILLING, Psychol. S. 202). Auf die Art des Handelns bezieht das Temperament HEGEL, (Encykl. § 395), MICHELET auf die »festen Unterschiede des Benehmens« gegenüber der Außenwelt (Anthropol. S. 137 ff.), ähnlich SCHALLER (vgl. Psychol. I, 197), K. ROSENKRANZ. Nach ihm ist Temperament »das eigentümliche Verhältnis der Systeme des Organismus in ihm und die dadurch erzeugte totale Temperatur seines physischen und geistigen, d. i. eben psychischen Lebens« (Psychol.3, S. 75). Es handelt sich um das Übergewicht des sensiblen, irritablen, reproductiven oder vegetativen Systems (ib.). Receptivität und Spontaneität sind hier von Bedeutung (l. c. 76 S. ff.). – Nach JESSEN gibt es irritables und phlegmatisches Temperament, mit Unterabteilungen (Psychol. II, S. 302). Nach JOH. MÜLLER ist das Temperament der permanente Zustand der Wechselwirkung von Seele und Leib (Handb. d. Physiol. d. Mensch. II, 575). – Die überkommene Temperamentenlehre lehnt G. E. SCHULZE ab. Sehr viele Menschen besitzen aus allen Temperamenten etwas (Psych. Anthropol. S. 520 ff.). BENEKE setzt an Stelle der Temperamente »angeborene Eigentümlichkeiten der Urvermögen« (Lehrb. d. Psychol. § 344. vgl. Pragmat. Psychol. I, 85 ff.).
LOTZE versteht unter Temperamenten die »formellen und graduellen Verschiedenheiten der Erregbarkeit für äußere Eindrücke, der größeren oder geringeren Ausdehnung, mit welcher die angeregten Vorstellungen andere reproducieren, der Schnelligkeit, mit welcher die Vorstellungen wechseln, der Stärke, mit welcher sich an sie Gefühle der Lust oder Unlust knüpfen, endlich der Leichtigkeit, mit der sich an diese innern Zustände auch äußere Handlungen schließen« (Grdz. d. Psychol. S. 85). Es gibt reizbare und apathische Temperamente, beide mit schwachen oder starken Reactionen (Med. Psychol. S. 562. Mikrok. II2, 366. vgl. HARLESS, in Wagners Handwörterb. III 1, 531 ff.). Nach J. H. FICHTE ist das Temperament »die quantitative Seite, das ursprüngliche Kraftmaß jedes individuellen Seelenlebens« (Psychol. II, 149). Rein psychisch bestimmt die (vier) Temperamente ULRICI (Leib u. Seele II2, 131 f.). Nach VOLKMANN hat der Begriff des Temperamentes »nur eine höchst beschränkte Verwendbarkeit für die exactere Auffassung des Seelenlebens, denn wenn auch immerhin dieses letztere in seiner Gesamtheit unter ein bestimmtes Schema von Intensitäts- und Rhytmenbestimmungen gebracht werden kann, so sind diese in den verschiedenen Regionen des Seelenlebens so verschieden, daß die Gesamtbestimmung nur den Wert eines schwankenden, beiläufigen Durchschnittes besitzen kann« (Lehrb. d. Psychol. I4, 206 ff.). Nach v. KIRCHMANN bezeichnen die Temperamente nur Unterschiede in der Empfänglichkeit für die Gefühle neben dem Unterschied in der Beharrlichkeit derselben (Grundbegr. d. Rechts u. d. Mor. S. 41). Nach HAGEMANN ist das Temperament die »verschiedene Art der Erregbarkeit des [494] Gemütes oder die Weise, wie die Seele zum Fühlen oder Streben gestimmt (temperiert) ist« (Psychol.3, S. 170). Nach G. H. SCHNEIDER besteht jedes Temperament in einer einseitigen Disposition (Menschl. Wille, S. 392). Nach TH. ZIEGLER ist Temperament »die Art, wie der Mensch zu Stimmungen disponiert ist« (Das Gef.2, S. 205). Nach SULLY ist das Temperament die Summe der angeborenen Neigungen (Handbuch d. Psychol. S. 320). Nach W. JERUSALEM ist es Gefühlsdisposition, Affectanlage (Lehrb. d. Psychol.3, S. 179 f.). Nach KREIBIG ist Temperament im weiteren Sinne »die Besonderheit eines Subjects hinsichtlich des Vorwiegens einer Gefühlsqualität und der dadurch ausgelösten Willensintensität« (Werttheor. S. 193). Im engern Sinne ist es »die Besonderheit eines Subjects hinsichtlich seiner Affectdispositionen und der damit verknüpften Willensenergie« (ib.). Zu unterscheiden ist: »a. Neigung zu lebhafter Lustreaction, verbunden mit starkem Willen (teilweise mit sanguinisch sich denkend). b. Neigung zu lebhafter Unlustreaction, verbunden mit starkem Willen (teilweise mit cholerisch sich deckend). c. Neigung zu lebhafter Lustreaction, verbunden mit schwachem Willen (verwandt mit phlegmatisch). d. Neigung zu lebhafter Unlustreaction, verbunden mit schwachem Willen (mit melancholisch verwandt)« (ib.). Nach WUNDT sind Temperamente »die eigentümlichen individuellen Dispositionen der Seele zur Entstehung der Gemütsbewegungen«. Sie lassen sich unterscheiden mit Bezug auf Stärke und Schwäche, Schnelligkeit und Langsamkeit der Gefühle:
(Grdz. d. physiol. Psychol. II4, 519 ff.). Nach HÖFFDING sind die Temperamente abhängig von der größeren oder geringeren Leichtigkeit, mit welcher die Centralorgane der Sinneswahrnehmung und der Bewegung in Tätigkeit gesetzt werden (Psychol.2, S. 477). Lust – Unlust, Stärke – Schwäche, Geschwindigkeit – Langsamkeit lassen acht Temperamente resultieren (l. c. S. 478). – Als Haupttypen von Charakteren unterscheidet B. PEREZ die »vifs«, »lents«, »ardents« und gemischte Typen (Le caractère de l'enf.), A. FOUILLÉE die »sensitifs«, »intellectuels«, »volontaires« (Tempéram. et caractère 1895. vgl. BAIN, Study of character, 1861), RIBOT 1) »amorphes« und »instables«, 2) eigentliche Charaktere: »sensitifs« oder »affectifs« (humbles, contemplatifs, emotionnels), »actifs« (actifs médiocres, grands actifs), »apathiques« und Mischtypen (Psychol. d. sent. p. 371 ff.). Vgl. Charakter, Naturell.
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