[508] Tragisch ist 1) objectiv: der Untergang des Großen, Starken, Heldenhaften, besonders nach durchgeführtem Kampf mit dem Geschick, mit der Umwelt, 2) subjectiv: der Complex von Gefühlen, Affecten, der durch die (ästhetische) Anschauung des tragischen Ereignisses hervorgerufen wird. Im subjectiv Tragischen liegen zwei Momente: eine seelische Depression, ein Gefühl der Trauer, Wehmut, Furcht, des »Mit-Leidens«, ausgelöst durch die »innere Nachahmung« (B. d.) der Niedergangserlebnisse des »Helden«, und ein Zustand der Aufrichtung, Erhebung: formal auf der Besinnung, daß es sich um ein (kunstvolles) »Spiel« handelt, beruhend, material aber auf dem Bewußtsein, daß sich hier (im Kampfe, im Heroismus) die Kraft, die Würde des Menschen, des Edlen in ihm, in uns überhaupt bewährt, daß zwar eine (unvollkommene) Lebensform dahinsinkt, daß aber doch das (vollkommnere, kommende, ewig sich fortentwickelnde) Leben und die ihm zugrunde liegende Idee obsiegt. Die Lust[508] am Tragischen ist teilweise eine aus functioneller Bedürfnisbefriedigung entspringende (s. Katharsis).
Die Erklärungen des Tragischen sind teils rein speculativ, teils rein psychologisch, teils beide Methoden verbindend. bald wird mehr das materiale, bald mehr das formale Element hervorgehoben. Nach ARISTOTELES bestehen die tragischen Gefühle in »Furcht und Mitleid«, durch deren Ablauf eine Katharsis (s. d.) des Zuschauers bewirkt wird. Die Definition der Tragödie lautet: »eine nachahmende Darstellung einer bedeutungsvollen, in sich abgeschlossenen und maßvollen Handlung, in schöner, den Teilen der Dichtung entsprechender Sprache, durch handelnde Personen und nicht mittelst Erzählung, zum Zwecke, durch Mitleid und Furcht die Reinigung solcher Affecte zu bewirken« (estin oun tragôdia mimêsis praxeôs spoudaias kai teleias, megethos echousês, hêdysmenô logô chôris hekastô tôn eidôn en tois moriois, drôntôn kai ou di' apangelias, di' eleou kai phobou perainousa tên tôn toioutôn pathêmatôn katharsin. Poët. 6). – Die Lust am Tragischen erklären aus der starken Erregung der Seele J. DUBOS (Réflex. crit. sur la peinture et la poésie6, 1755, I, p. 5 ff.), NICOLAI, MENDELSSOHN, LESSING u. a. Nach SCHILLER ist die Tragödie dazu bestimmt, »die Gemütsfreiheit, wenn sie durch einen Affect gewaltsam aufgehoben worden, auf ästhetischem Weg wiederherstellen zu helfen« (Üb. naive u. sentiment. Dicht., Philos. Schrift. S. 244 f.). Moralische Zweckmäßigkeit (Herrschaft der sittlichen Idee) freut uns, auch wo die physische fehlt (Üb. d. Grund d. Vergnüg. an trag. Gegenst. WW. XI, 1836, 520 ff.). Der Zustand des Affects selbst hat etwas Ergötzendes für uns (Üb. d. trag. Kunst S. 531 ff.. vgl. S. 538 ff.).
SCHELLING bemerkt: In der Tragödie »erscheint in den Stürmen blind gegeneinander wütender Leidenschaften, wo für die Handelnden selbst die Stimme der Vernunft verstummt und Willkür und Gesetzlosigkeit immer tiefer sich verwickelnd zuletzt in eine gräßliche Notwendigkeit sich verwandeln – mitten unter allen diesen Bewegungen erscheint der Geist des Dichters als das stille, allein noch leuchtende Licht, als das allein oben bleibende, in der heftigsten Bewegung selbst unbewegliche Subject, als weise Vorsehung, welche das Widerspruchsvollste doch zuletzt zu einem befriedigenden Ausgang zu leiten vermag« (WW. I 10, 118). Ohne wahre (sittliche) Schuld wird die tragische Person notwendig, durch Verhängnis schuldig (Philos. d. Kunst, S. 695). Nach HEGEL bewährt sich im Tragischen die »ewige Gerechtigkeit«, die mit dem Untergang der sie störenden Individualität die »sittliche Substanz und Einheit« wiederherstellt (Vorl. üb. Ästhet. 111, 530). SOLGER erklärt: »Die Willkür und Zufälligkeit des Einzelnen und die Gesetze der allgemeinen Notwendigkeit geraten in einen Kampf, worin zwar das Besondere unterliegt, aber nur insofern alles ganz endlich und zeitlich ist, während das Ewige und Wesentliche, wodurch eben dasselbe mit sich selbst in diesen unaufhörlichen Widerspruch verwickelt ist, sich betätigt und verherrlicht« (Vorles. üb. Ästhet. S. 309 ff.). So auch ZEISING (Ästhet. Forsch. S. 322 ff., 341 ff.). Nach HEBBEL vermag das Einzelleben nicht Maß zu halten. gegenüber der Idee gerät es in Schuld (»dramatische Schuld«) (WW. X, 13 ff.). Diese Schuld ist mit dem (individuellen) Leben selbst gesetzt (l. c. X, 35). Durch das Drama wird der beleidigten Idee Satisfaction verschafft (l. c. X, 36), der Lebensproceß selbst dargestellt (l. c. X, 13). So ist die Kunst »realisierte Philosophie« (l. c. X, 34, 56). »Das Drama soll den jedesmaligen Welt- und Menschenzustand in seinem Verhältnis zur Idee, d.h. hier zu dem alles bedingenden sittlichen Centrum... veranschaulichen« (l. c. X, 43. vgl. A. Scheunert,[509] Der Pantragism. als Syst. d. Weltansch. u. Ästhet. Fr. Hebbels 1903). Nach VISCHER gerät das sich überhebende Große in Conflict mit der sittlichen Weltordnung, der es nicht gewachsen ist. An dem allsiegreichen Götterwillen richtet sich unser Geist auf (Ästhet. I, 175). »Wenn das einzelne Schöne gerade seiner Größe nach mit dem Absoluten dadurch in Conflict gerät, daß es nicht durch Selbstaufopferung, sondern durch Selbstsucht mit ihm eins werden will, wenn es ein besonderes Gut zum alleinigen und höchsten macht und damit andere Pflichten verkennt und hintansetzt, so wird es tragisch« (l. c. S. 195). »Das wahrhaft Erhabene ist das Tragische, das Bild des Verschwindens jeder endlichen Größe vor dem unendlichen Geiste, das Bild davon, wie kein Mensch schuldlos bleibt, wie ihn das Schicksal an dieser Schuld packt und ihm dafür Leiden bereitet, wie jede menschliche Größe vor der Majestät des Allgeistes verschwindet« (Das Schöne u. d. Kunst2, 1898, S. 180). Nach TH. ZIEGLER ist im Endlichen »alles relativ, also auch das Recht des Willens. wer das verkennt und auch nur durch sein Schicksal., seine Art zu existieren, zu verkennen scheint, setzt sich damit in Widerspruch mit der Vernünftigkeit des Endlichen, die eben in der Anerkennung dieses seines Charakters als eines bloß Relativen besteht« (Das Gef.2, S. 138). 1) Der Untergang des Helden erscheint uns zwar traurig, aber doch eine traurige Notwendigkeit, als ein Act der immanenten, vor allem der sittlichen Weltordnung. und daher das Gefühl der Befriedigung und Erhebung. 2) Der Held zeigt sich als Held des Sieges im tiefsten Leiden selbst. 3) Der Held fällt als Träger der Idee, des großen Wollens und Strebens. Glaube an das Fortleben dessen, was groß gewollt war (l. c. S. 140 f.). BACKHAUS bemerkt: »Das tragische Moment liegt wesentlich nicht darin, daß der Held leidet, kämpft und untergeht und die Bosheit oder die Dummheit oder der blinde Zufall triumphiert, sondern darin, daß der Held als Vertreter einer erhabenen Idee, für die seine Zeit nicht reif ist, also in einem unlösbaren Conflict untergeht, indem er als sittlicher Charakter für ihren dereinstigen Sieg würdevoll kämpft, leidet und stirbt« (Wes. d. Hum. S. 112).
Daß sich im Tragischen der Unwert des Lebens darstelle, lehrt (vgl. WEISSE, Syst. d. Ästhet., 1830, II, 323 f.) SCHOPENHAUER. Zweck des Trauerspiels ist »die Darstellung der schrecklichen Seite des Lebens«, die Vorführung des Jammers der Menschheit, des Triumphes der Bosheit. »Es ist der Widerstreit des Willens mit sich selbst, welcher hier, auf der höchsten Stufe seiner Objectivität, am vollständigsten entfaltet, furchtbar hervortritt. Am Leiden der Menschheit und er sichtbar.« Der eine Wille tritt in den Individuen bald gewaltig, bald schwächer hervor, bis endlich nach Durchschauung des Scheincharakters der Individualität der auf diesem beruhende Egoismus erstirbt und Resignation, Aufgeben des Willens zum Leben eintritt. »Der wahre Sinn des Trauerspiels ist die tiefere Einsicht, daß, was der Held abbüßt, nicht seine Particularsünden sind, sondern die Erbsünde, d.h. die Schuld des Daseins selbst« (W. a. W. u. V. Bd. I, § 51). »Der Zweck des Dramas überhaupt ist, uns an einem Beispiel zu zeigen, was das Wesen und Dasein des Menschen sei.« Bei der tragischen Katastrophe wenden wir uns vom Willen zum Leben selbst ab. »Im Augenblick der tragischen Katastrophe wird uns, deutlicher als jemals, die Überzeugung, daß das Leben ein schwerer Traum sei, aus dem wir zu erwachen haben« (W. a W. u. V. II. Bd., C. 37. Neue Paralipom. § 469). Nach J. BAHNSEN zeigt uns das Tragische die Entzweiung im innersten Sein aller Wesen (Das Tragische als Weltgesetz, 1877). Von Schopenhauer ist auch R. WAGNER, der in[510] seinen Musikdramen die Erlösung des leidenden Lebenswillens darstellt, beeinflußt. so auch NIETZSCHE in seiner frühesten Periode. Die griechische Tragödie geht aus dem dionysischen Chor hervor, stellt zuerst nur die Leiden des Dionysos dar. In der Neuzeit erwacht der dionysische Geist der Tragödie aus der Musik (bei R. Wagner). Der tragische Tod ist das »Zerbrechen« und Einswerden des Individuums mit dem Ursein, das ewige (und zugleich leidende) Leben des Urwillens (das »Dionysische«) (Die Geburt d. Tragöd. aus d. Geist. d. Mus. 1872. WW. I, 62 ff.). Später erklärt NIETZSCHE: »Die Tapferkeit und Freiheit des Gefühls vor einem mächtigen Feinde, vor einem erhabenen Ungemach, vor einem Problem-, das Grauen erweckt – dieser siegreiche Zustand ist es, den der tragische Künstler auswählt, den er verherrlicht. Vor der Tragödie feiert das Kriegerische in unserer Seele seine Saturnalien« (Götzendämmer. WW. VIII, 136). – Nach E. V. HARTMANN ist die Abkehr des Willens vom Einzeldasein die Lösung des tragischen Conflicts (Philos. d. Schönen S. 378 ff.. Gesamm. Stud. u. Aufs. S. 304 ff.). Nach L. ZIEGLER ist das tragische Problem letzten Endes eine metaphysische Principienfrage, ist verkettet mit dem religiösen Problem (Zur Met. d. Tragischen S. VII). Die tragische Schuld ist »nichts anderes als die notwendige Willensüberspannung eines individuellen Princips«, die »Alogicität des immanenten Willens« (l. c. S. 15), die »Verkehrung einer an sich logischen Absicht in eine überwiegend alogische« (l. c. S. 41). Der tragische Tod ist nur »das Symbol, welches die Vernichtung des Individualwillens und all seiner Begehrungen ankündigt« (l. c. S. 45). Dieser Tod ist »die unbewußte Endabsicht des tragischen Schicksals« (l. c. S. 48 f.). Das Dasein »als Mehrheit von Willensconflicten, welche durch die übergreifende Einheit einer Zweckvorstellung ad absurdum geführt wird«, ist ein nicht-sein-sollendes Sein. Der tragische Proceß ist »die Überwindung des Willens durch die Idee« (l. c. S. 55). Im Tragischen enthüllt der Urwille seine Absicht, sich selbst zu erlösen (l. c. S. 57). Weil wir den tragischen Tod als logisch empfinden, erregt er uns neben Unlust auch Lust (l. c. S. 59 ff.). Das Tragische ist ein »Daseinsgesetz von kosmischer Bedeutung« (l. c. S. 104).
Eine Phänomenologie des Tragischen gibt VOLKELT. Er unterscheidet als Grundformen das Tragische der abbiegenden und das Tragische der erschöpfenden Art (Ästhet. d. Trag. S. 52 ff.). Im Tragischen tritt die Welt uns »nach ihrer rätselhaft furchtbaren Seite entgegen«. »Das Tragische spricht zu uns von dem Angelegtsein der Welt auf Zerrüttung und Vernichtung des außerordentlichen Menschen« (l. c. S. 98 ff.). Eine Schuld ist für das Tragische nicht notwendig (l. c. S. 148 ff.). »Die Loslösung des Gemütes vom Leben ist ein erhebendes Moment von beträchtlicher Wirkung« (l. c. S. 221 ff.). Elemente des Tragischen sind, außer der Lust der erhebenden Momente, die Lust des Mitleids, der starken Erregung, die Lust an der künstlerischen Form (l. c. S. 388 f.. vgl. Pessimismus. vgl. HERZOG, Was ist ästhet.? S. 151 ff.). – Nach LAZARUS kann alle dramatische Handlung unter der Form eines Kampfes angesehen werden (Reize d. Spiels S. 157. vgl. S. 142 ff.). K. GROOS sieht im »Kraftgefühl der Kampflust« die wichtige Lust am Tragischen (Spiele d. Mensch. S. 318). Dazu kommt die »Bewunderung der unbeugsamen Tapferkeit dem Entsetzlichen gegenüber« (l. c. S. 320), sowie die Lust an starken Reizen (Gemütserschütterungen) (l. c. S. 315 ff.. vgl. Einl. in d. Ästhet. S. 375). – Nach J. COHN ist tragisch »das Erhabene in Leid und Untergang oder, näher bestimmt, das Leiden einer wertvollen Person, die ihre Größe im Leiden bewährt«[511] (Allg. Asthet. S. 190). Nach W. STERN wirkt die Tragödie sittlich erziehend dadurch, daß der Zuschauer »zur Nachahmung von Handlungen angeregt, also an Handlungen gewöhnt wird, die, trotzdem daß sie mit einem Opfer oder Unlustgefühl verbunden sind, dennoch vom Helden vollzogen werden«, ferner auch durch Erregung von Mitleid (Wes. d. Mitl. S. 45 f.). Vgl. R. ZIMMERMANN, Üb. d. Tragische, 1866. A. W. BOHTZ, Die Idee d. Tragischen, 1836. M. CARRIERE, Ästhet. I, 187 ff.. TH. LIPPS, Das Wesen der Tragödie, 1892. Z. BEÖTHY, Das Tragicum, 1885. K. LANGE, Wes. d. Kunst II, 112 ff.. R. HAMANN, Das Probl. des Tragischen, Zeitschr. f. Philos. Bd. 117, S. 231 ff.. Bd. 118, S. 89 ff. Vgl. Katharsis.
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