Widerspruchs, Satz des

[738] Widerspruchs, Satz des, (»principium contradictionis«), ist das logische Denkgesetz, daß zwei einander contradictorisch (s. d.) entgegengesetzte Urteile nicht zugleich, im gleichen Sinne und in der gleichen Beziehung, von der gleichen Sache ausgesagt werden dürfen, gelten können (A nicht = Non-A). Es ist ein Postulat, eine Norm für jedes logische Denken, sich nicht selbst untreu zu werden, nicht um so viel aufzuheben, als es erst setzt, weil es sonst überhaupt nicht vom Fleck kommt. Das Denksubject kann und will (bewußt) sich nicht widersprechen, da es seine Einheit in allen seinen Actionen, also auch in seinen Denkacten bewahren will. Der logische Denkwille bedingt kategorisch die Vermeidung von Widersprüchen resp. die Beseitigung, Elimination solcher, die intra- oder intersubjectiv im Denken auftauchen.

Der Satz des Widerspruchs wird verschieden formuliert, bald in bezug auf die Denkacte, bald mehr in bezug auf die Denkobjecte. Bei PARMENIDES findet sich der Satz in der Form: estin ê ouk estin (Mull., Fragm. v. 72. Simpl. ad Phys. f. 31 B). PLATO: mêdepote enantion esti heautô to enantion (Phaed. 103 C). Nach ARISTOTELES kann etwas nicht zugleich (in der gleichen Beziehung) sein und nicht sein: legô d'apodeiktikas tas koinas doxas, ex hôn hapantes deiknyousin, hoion hoti pan anankaion ê phanai ê apophanai, kai adynaton [738] hama einai kai mê einai (Met. III 2, 996 b 28 squ.). to gar auto hama hyparchein te kai mê hyparchein adynaton tô autô kai kata to auto (Met. IV 3, 1005 b 19). adynaton gar hontinoun tauton hypolambanein einai kai mê einai, kathaper tines oiontai legein Hêrakleiton (Met. IV 3, 1005 b 23). – Vgl. AMMONIUS, In de interpret. f. 94. PHILOPONUS (axiôma tês antiphaseôs, In Anal. post. f. 30 b squ.). – ALBERTUS MAGNUS bestimmt: »Contraria non possunt esse simul in eodem secundam idem et per se« (Sum. th. II, 114, 1). FR. MAYRONIS erklärt: »De quolibet dicitur affirmatio vel negatio et de nullo ambo simul« (vgl. Prantl, G. d. L. III, 287). J. BURIDAN bestimmt: »Quodlibet est vel non est.« »Nihil idem est et non est.« »Idem inesse et non inesse simul eidem secundum idem – est impossibile« (vgl. Prantl, G. d. L. IV, 19).

DESCARTES formuliert den Satz (der eine »ewige Wahrheit« ist): »Impossibile est idem simul esse et non esse« (Princ. philos. I, 49). LOCKE hält den Satz des Widerspruches für ableitbar (Ess. I, ch. 2). Dagegen hält ihn für angeboren (s. d.) und bezieht ihn aufs Urteil LEIBNIZ. Er bedeutet, daß »de deux propositions contradictoires l'une est vraie, l'autre fausse« (Nouv. Ess. IV, ch 2, § 1. Theod. I, § 44). »Nos raisonnements sont fondés sur deux. grands principes, celui de la contradiction, en vertu duquel nous jugeons faux qu' en enveloppe, et vrai ce qui est opposé ou contradictoire au faux« (Monadol. 31. Gerh. VI, 612). CER. WOLF bestimmt: »Eam experimur mentis nostrae naturam, ut, dum ea iudicat aliquid esse, simul iudicare nequeat, idem non esse« (Ontolog. § 27). »Fieri non potest, ut idem simul sit et non sit« (l. c. § 28). »Es kann etwas nicht zugleich sein und auch nicht sein« (Vern. Ged. I, § 10). Nach BAUMGARTEN ist nichts zugleich A und Non-A (Met. p. 3). Nach CRUSIUS besagt das Gesetz, »daß nichts in ganz einerlei Verstande und zu einerlei Zeit sein und auch nicht sein könne« (Vernunftwahrh. § 13 ff.). H. S. REIMARUS formuliert: »Ein Ding kann nicht zugleich sein und nicht sein« (Vernunftlehre, § 14). Nach FEDER ist es unmöglich, »daß dasselbe zugleich sei und nicht sei«. Ein widerspruchsvoller Satz ist für uns absolut undenkbar, gibt keinen Begriff (Log. u. Met. S. 224 f.). BASEDOW bezieht den Satz des Widerspruchs auf die Worte (Philaleth. II, § 143). Nach LAMBERT ist der Satz auf einfache Begriffe nicht anwendbar (Architekt. I. Hpst., § 7). PLATNER erklärt: »Widerspruch ist in einem Begriffe, wenn seine Prädicate einander aufheben« (Philos. Aphor. I, § 820). »Wo in einem Begriffe Widerspruch ist, da wird gesetzt, daß etwas zugleich sei und auch nicht sei. Der Grundsatz Es ist nicht möglich, daß etwas zugleich sei und auch nicht sei heißt der Satz des Widerspruches« (l. c. § 821).

KANT bestimmt: »Keinem Subjecte kommt ein Prädicat zu, welches ihm widerspricht« (WW. II, 302). »Keinem Dinge kommt ein Prädicat zu, welches ihm widerspricht.« Dieser Satz ist »das allgemeine und völlig hinreichende Principium aller analytischen Erkenntnis« (Krit. d. rein. Vern. S. 151 f.. vgl. Wahrheit). KRUG bezeichnet das Gesetz als Grundsatz der Setzung oder des Nicht-Widerspruchs (Log. S. 45). FRIES erklärt: »Jedem Dinge kommt ein Begriff entweder zu oder er kommt ihm nicht zu« (Syst. d. Log. S. 121. vgl. S. 190). G. E. SCHULZE formuliert: »Widersprechendes ist ungedenkbar« (Gr. d. allg. Log.3, S. 28). Nach BOUTERWEK ist der Widerspruch »das directe Gegenteil der Einheit des Denkens. und nur in dieser Einheit sind alle Gedanken ein Eigentum des Ich oder des denkenden Wesens selbst« (Lehrb. d. philos. Wissensch. I, 36).[739]

J. J. WAGNER erklärt, die Vereinbarkeit von Subject und Prädicat im einen und einfachen Denkacte sei das Principium identitatis. fällt diese Vereinbarkeit weg, wird im Prädicate aufgehoben, was im Subjecte gesetzt worden, so ergibt das den Widerspruch (Organ. d. menschl. Erk. S. 163). – Nach J. G. FICHTE setzt das Ich (s. d.) schlechthin sich entgegen ein Nicht-Ich. Aus diesem Satze entsteht durch Abstraction der »Satz des Gegensatzes«: – A nicht = A (Gr. d. g. Wiss. S. 15 ff.). ESCHENMAYER erklärt: »Aus dem Satz des Selbstbewußtseins: Wissen und Sein sind einander entgegengesetzt entsteht die logische Formel: B = non C oder C = non B« (Psychol. S. 296. vgl. CHR. KRAUSE, Vorles. S. 269 f.). – CALKER zerlegt das Widerspruchsprincip in mehrere Sätze. Der »Grundsatz der Denkbarkeit« lautet: »Kein Ding ist das, was es nicht ist. oder jedes Ding widerspricht seinem Gegenteil.« Der »Grundsatz der Denktätigkeit« ist: »Eine Vorstellung und ihr Gegenteil dürfen nicht zugleich gesetzt werden« (Denklehre, S. 452). BIUNDE erklärt: »Widersprechende Begriffe (Bestimmungen) können nicht miteinander zu einer Totalvorstellung, einem Begriffe verbunden werden« (Empir. Psychol. I 2, 102). BACHMANN formuliert: »Reine Position und Negation, Setzen und Aufheben (+ A – A) in einem Denkacte unmittelbar verbunden, vernichten sich, weil sie einander rein entgegengesetzt sind« (Syst. d. Log. S. 43. vgl. HILLEBRAND, Gr. d. Log. S. 127 ff., u. a. Logiker). Nach E. REINHOLD sagt das Widerspruchsprincip, »daß von den unter jeder Grundbestimmung einander entgegengesetzten Determinationen immer nur eine zu gleicher Zeit in gleicher Beziehung auf die nämliche Seite seiner Eigentümlichkeit dem Subjecte beigelegt werden darf« (Lehrb. d. philos. propäd. Psychol. u. d. form. Log.2, S. 416). – HEGEL verlegt den Widerspruch in das objective Sein (vgl. Log. I, 77. s. Dialektik, Gegensatz). Alles ist, als sein Entgegengesetztes sowohl habend als ausschließend, in sich selbst widersprechend. so lehrt auch u. a. H. F. W. HINRICHS (Grundlin. d. Philos. d. Log. S. 49 f.). AD. LASSON erklärt: »Nicht gegen sich selber richtet sich die Dialektik des Begriffs, sondern gegen das Daseiende, welches nicht imstande ist, den Begriff völlig in sich auszuprägen oder festzuhalten. Dialektisch ist die Reihenfolge der Stufen des sich entwickelnden Realen wegen des Widerspruchs, den das Einzelne, Endliche an sich trägt als Zeugnis seines Mangels und seiner Unvollkommenheit, und den nicht etwa erst das Denken in seine Gegenstände hineinträgt. Der Widerspruch aber hat keine Macht des Seins. er ist nur im Werden und als das Werden selbst« (Üb. d. Satz vom Widerspr. S. 222). – HERBART formuliert: »Entgegengesetztes ist nicht einerlei« (Lehrb. zur Einl.5, S. 80). Der Satz bezieht sich nur auf Begriffe. Daß er nur formal sei, betont u. a. auch PLANCK (Testam. ein. Deutsch. S. 315). Nach ROSMINI enthält der Satz des Widerspruchs mehrere Principien (Log. § 337 ff.). Nach ULRICI ist er die negative Umkehrung des Identitätsprincips (Log. S. 96). Nach E. v. HARTMANN ist er das Grundprincip der logischen Determination (Kategorienlehre S. 311).

BAIN formuliert das Gesetz so: »The same thing cannot be A and Not-A« (Log. I, 7. vgl. HODGSON, Philos. of Reflect. I, 373 ff.. u. a.). E. DÜHRING: »Etwas ist nicht seine Verneinung« (Log. S. 37). HAGEMANN erklärt: »Kein Denkobject darf als sein Gegenteil genommen werden.« »Zwei Gedanken, von denen der eine zu derselben Zeit, nach derselben Seite, in derselben Beziehung das verneint, was der andere bejaht, sind widersprechende Gedanken, und solche lassen sich in einem Denkobjecte nicht einheitlich zusammenfassen. Das [740] Gesetz des Widerspruches verbietet daher, irgend einem Gegenstande widersprechende Bestimmungen beizulegen, überhaupt etwas Widersprechendes zu denken« (Log. u. Noet. f3. 23). Nach WUNDT ist es ein Gesetz der Urteilsbildung, »daß das Prädicat dann in verneinender Form dem Subjecte verbunden werden müsse, wenn eine Verbindung der Begriffe für unser Denken nicht vorhanden sei«. Der Satz des Widerspruches fordert, abweichende Merkmale zu sondern, Verschiedenheiten anzuerkennen und festzuhalten (Log. I2, 561 ff.. Syst. d. Philos.2, S. 70 ff.). Nach BRADLEY sagt das »principle of contradiction«, »that the disparate is disparate, that the exclusive, despite all attempts to persuade it, remains incompatible«. »Do not try to combine in thought what is really contrary. When you add any quality to any subject, do not treat the subject as if it were not altered. When you add a quality, wich not only removes the subject as it was, but removes it altogether, then do not treat it as if it remained« (Log. p. 135 f.).

ÜBERWEG formuliert das Widerspruchsprincip so: »Contradictorisch einander entgegengesetzte Urteile können nicht beide wahr, sondern das eine oder andere muß falsch sein« (Log.4, § 77). Nach SIGWART bezieht sich das Gesetz auf das »Verhältnis eines positiven Urteils zu seiner Verneinung« (Log. I., 182). Als Naturgesetz sagt es, »daß es unmöglich ist, mit Bewußtsein in irgend einem Moment zu sagen A ist b und A ist nicht b« (l. c. S. 385). Nach H. CORNELIUS bedeutet der Satz des Widerspruchs, »daß nicht dasselbe Urteil sowohl bejaht als verneint werden kann, daß es aber entweder bejaht oder verneint werden muß« (Einl. im d. Philos. S. 288).

Nach J. ST. MILL ist der Satz des Widerspruchs eine der frühesten Verallgemeinerungen aus der Erfahrung. Glaube und Unglaube schließen einander aus (Log. II, ch. 7, § 4. vgl. Examin.5, ch. 21, p. 491. vgl. hingegen HUSSERL, Log. Unters. I, 81 ff.: nicht psychologischer, sondern logischer Zwang constituiert die Denkgesetze, S. 89 ff.). Nach F. A. LANGE ist das Widerspruchsprincip ein durch unsere Organisation bedingtes Gesetz der Unvereinbarkeit von Widersprüchen. es wirkt vor aller Erfahrung (Log. Stud. S. 27 f., 49). Nach FOUILLÉE ist eine Grundfunction alles Bewußtseins die Apperception einer gewissen Identität in der Verschiedenheit. Das Gesetz der Identität oder des Widerspruches ist »la loi de l'experience même« (Psychol. d. id.-forc. II, 146). Seine letzte Quelle hat es im WillenPosition de la volonté et sa résistance a l'opposition des autres choses«, l. c. p. 148). »En repoussant de soi la contradiction, la pensée la repousse par là même de ses objets« (l. c. p. 149). – Nach SCHUBERT-SOLDERN zerfällt der Satz des Widerspruches in zwei Sätze: »Der eine spricht die einfache Tatsache aus, daß es unvereinbare und untrennbare Inhalte gibt. der andere ist die Negation selbst und als solche an die Identität geknüpft, indem er mit ihr die Unterschiedenheit der Inhalte ausmacht. In beiden Fällen besteht aber der Widerspruch nur in der Form einer unausführbaren Forderung« (Gr. ein. Erk. S. 173). – Vgl. O. LIEBMANN, Gedank. u. Tatsachen 1. H., 1882, S. 25 ff.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 2. Berlin 1904, S. 738-741.
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