Graf

[339] Graf, ahd. krâvio, grâveo, grâvo, mhd. grâve, etymologisch noch nicht genügend erklärt, s. Waitz, Verf. Gesch. I3, 265, ist der regelmässige Vertreter des Königs bei den Franken; er nimmt hier die Stelle der alten Volksfürsten ein und steht über den Vorstehern der Hunderten, an deren Ernennung fortwährend das Volk einen Anteil hat. Siehe Gau und Hunderte. Seine Gewalt bezieht sich überall auf den Gau, ohne Rücksicht auf städtische und ländliche Bevölkerung; er heisst in der altfränkischen Periode auch judex, praeses und praefectus. Die Pflichten des Grafen sind: Sorge für Recht und Gerechtigkeit, für Frieden und Ruhe, Schutz der Schwachen und Hilfsbedürftigen, Unterdrückung der Missethäter, Erhebung der königlichen Einkünfte, die militärische Gewalt, die Polizei, der Vorsitz am Gericht, die Ladung und Exekution, überhaupt der Bann. Der Graf empfängt seine Befugnisse unmittelbar vom König, für den er auch den Eid der Treue und die Huldigung entgegennimmt; er zieht an der Spitze seines Gaues zu Felde. Als Belohnung für den Dienst empfing er königliches Gut. Die wichtigste Auszeichnung für ihn ist das dreifache Wergeld. Sonst ist sein Recht den Untergebenen gegenüber durch kein Gesetz bestimmt, Recht und[339] Willkür fliessen ineinander. Seine Wahl stand in der Willkür des Königs und war anfangs durchaus an kein Geschlecht gebunden. Die Grafschaft, comitatus, comitia, behielt einen überwiegend öffentlichen Charakter. Innerhalb des Gaues konnte der Graf einzelne Geschäfte durch Stellvertreter vornehmen lassen, eigentliche Unterbeamten heissen vicarii.

Karl der Grosse änderte an diesem alten System nichts, abgesehen davon, dass er in die neueroberten Länder hauptsächlich Franken als Grafen einsetzte. Die Regel war Bestallung auf Lebenszeit. Unter den Karolingern mehrte sich der Umstand, dass sich angesehene und mächtige Familien in der Verwaltung bestimmter Grafschaften erhielten, in der sie angesessen und begütert waren.

War die Grafschaft früher ein Amt, so änderte sich allmählich ihr Charakter dahin, dass dieses ein Beneficium wurde und die damit verbundenen Vorteile in den Vordergrund traten. Der Graf war Vasall des Königs. Die Grafen gehörten stets zu den vornehmsten Männern, und Einzelerhebungen von Männern niedriger Herkunft zu Grafenämtern erregt Aufsehen. Waren schon früher die Grafschaften oft in der Hand angesehener Familien gewesen, so wurde jetzt die Grafschaft erblich.

Dadurch wurde nun auch der frühere engere Zusammenhang zwischen Grafschaft und Gau gelockert, die Grafschaft drängt den Gau zurück, und das Reich zerfällt in Grafschaften wie einst in Gaue; ein Gau kann mehrere Grafen haben, und verschiedene Gaue können unter einen Grafen gestellt sein, oder ein Graf hat in einer Mehrzahl von Gauen, meist nur in einzelnen Teilen eines Gaues oder an einzelnen Orten die Grafschaft. Jeder unter einem Grafen stehende Bezirk oder Landkomplex kann Grafschaft heissen. Hervorgerufen wurde diese Auflösung der alten Gauverfassung am meisten durch die Exemptionen der geistlichen Stifter von den Grafschaften und durch die selbständige Entwicklung der Städte. Der alte Gau verlor überhaupt als Gerichts- und politischer Bezirk seine Bedeutung. Auch die alten Gaunamen verlieren ihre Bedeutung und wie früher vom Gau, so werden die Grafen jetzt nach dem Ort bezeichnet, wo sie regelmässig ihren Sitz hatten, und gewinnen dadurch Familiennamen; auch nach der Provinz findet man sie benannt, der sie angehörten, Grafen von Sachsen, Westfalen, Thüringen, Bayern, Kärnthen, Alamannien, Schwaben, Elsass.

Mit dem Aufhören der Lehnsverfassung gehen die Grafschaften in Territorialherrschaften über, und die Grafen zählen sich jetzt zum hohen Adel; eine grosse Zahl noch übrig gebliebener freier Herren nimmt im 15. Jahrh. ebenfalls den Grafentitel an, und zuletzt wird die gräfliche Würde vom Kaiser, besonders seit Karl V. käuflich durch Diplom an ritterbürtige Familien verliehen. Siehe auch Burggraf, Landgraf, Markgraf und Pfalzgraf. Hauptquelle: Waitz, Verfassungs-Geschichte und zum teil in Opposition dazu Sohm, Fränk. Reichs- und Gerichtsverfassung § 5 und 7.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 339-340.
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