Schreibkunst und Schrift

[902] Schreibkunst und Schrift. I. Zubereitung des Stoffes. Über den Stoff vergleiche man die Artikel Pergament und Papier. Die erste Thätigkeit des abendländischen Schreibers bestand in der Instandsetzung des nur sehr roh gearbeiteten Pergamentes, damit es überall die Tinte annehme; es wurde abgeschabt, dann mit Bimsstein geglättet, Risse und Löcher verklebt oder zusammengenäht. Dann wurde das Pergament liniiert, wozu man ihm zuerst mit dem Zirkel eine Anzahl genau abgemessener Stiche beibrachte. Das in allgemeinstem Gebrauch des Altertums stehende Schreibwerkzeug war das Schreibrohr, calamus; es wurde auch im Mittelalter angewendet und war aus Italien zu beziehen; doch kommt seit dem 5. Jahrhundert die Feder mehr und mehr auf; scrîbmezer oder scriptral heisst das Federmesser; neben den echten Federn kommen auch solche von Metall vor; auch Bleistifte werden für die Schrift auf Tafeln erwähnt. Die Tinte ist in den alten Handschriften von vorzüglicher Beschaffenheit; später, als man seit dem 13. Jahrhundert mehr schrieb, wird sie schlechter; an Tintenrezepten, wobei immer Galläpfel und Vitriol die Hauptsache sind, mangelt es in mittelalterlichen Quellen nicht; gewöhnlich wird Wein dazu genommen.[902] Das Tintenfass war häufig ein einfaches Horn, welches durch eine Öffnung des Schreibpultes gesteckt wurde; das Schreibzeug, schrîpziuc, war häufig dazu eingerichtet, auch Rohre und Federn aufzunehmen. Rote Farbe zur Hervorhebung der Abschnitte war schon den alten Ägyptern bekannt; im Mittelalter war die Sitte allgemein verbreitet, nicht nur die Abschnitte durch rote Rubriken hervorzuheben, sondern oft auch jedes irgend bedeutendere Wort mit einem roten Strich zu bezeichnen; es giebt Handschriften, wo die Daten rot geschrieben sind; oft der Text neben dem schwarzen Kommentar; vom 13. Jahrhundert an sind rote und blaue Farbe regelmässig für die Anfangsbuchstaben und sonstige Verzierungen in Gebrauch. Goldschrift war namentlich im byzantinischen Reiche, aber auch im Abendlande beliebt; bald schrieb man ganze Handschriften in Gold, bald nur die ersten Seiten oder die Überschriften, den übrigen Text häufig in Silber. Gern erhöhte man den Glanz des Goldes durch purpurnes Pergament.

II. Das Schreiben. Der altgermanische Ausdruck dafür ist got. vreitan, ahd. rîzan, angels. vrîtan, englisch to write, in Reissbrett, Reissblei, Riss erhalten; es wurde verdrängt durch das lat. scribere, ahd. scrîban. Der Schreiber sitzt auf der cathedra, dem schrîbstuol; das Brett desselben heisst schrîbbret. Vor sich hat der Schreiber das exemplar. Um die Zeilen nicht zu verfehlen oder mit dem Suchen die Zeit nicht zu verlieren, hatte der Schreiber die cavilla, den durluog; oft hält er vermittelst eines gekrümmten, von der linken Hand gehaltenen Messers, das Pergament fest. Sehr häufig sind in den Unterschriften der Schreiber Bemerkungen über die grosse Mühsal ihrer Arbeit, wobei der Vergleich mit dem Erreichen des Hafens am Ende der Arbeit namentlich beliebt ist. Oft heisst es:


Scribere qui nescit, nullum putat esse laborem,

Tres digiti scribunttotum corpusque laborat.


Ein St. Galler schreibt: Sicut aegrotus desiderat sanitatem, ita desiderat scriptor finem libri. Der Schwäche der Augen wurde seit dem 14. Jahrhundert durch Brillen nachgeholfen. Die Zeit einer Abschrift hing natürlich von der Geübtheit des Schreibers und der Art der Schrift ab; Notkers Psalmenübersetzung wurde einmal in 14 Tagen abgeschrieben; ein prächtiges neues Testament von 278 Blättern in gross Folio in sechs Monaten. Die Kostbarkeit des Schreibmaterials führte zu Abkürzungen, deren Übermass oft das Lesen sehr erschwert; Johann von Tilbury versuchte im 12. Jahrhundert eine Zeichenschrift zu erfinden, mittelst deren man im stande sein sollte, alle Vorlesungen nachzuschreiben und sich so alle Weisheit anzueignen; er kam aber nicht damit zu stande.

III. Schreiber. In der römischen Periode pflegten professionelle Kalligraphen die Bücher zu schreiben, im Mittelalter wurden die Mönche die eigentlichen Bücherabschreiber, welche mehr und mehr darin einen wesentlichen Teil ihres Berufes fanden. Schon Hieronymus empfiehlt den Mönchen: scribantur libri; aber erst Cassiodor führte grundsätzlich in die Klöster die ihnen bis dahin fremden gelehrten Studien ein (siehe Geschichtschreibung); er gab zu dem Zwecke seinen Mönchen eine Sammlung von Schriften über Orthographie, die er 93jährig zu ihrem Gebrauch exzerpierte, zugleich Buchbinder und Musterbände. St. Benedikts Regel setzt die Existenz einer Bibliothek im Kloster voraus, aus welcher jeder Mönch Bücher zum Studium erhält. Eine[903] eigentlich gelehrte Thätigkeit entwickelt sich jedoch erst in den Klöstern neubekehrter Länder, wo auf den Mönchen die ganze Last der vorhandenen Bildung ruhte, zunächst in Irland und England, wo massenhaft und sehr schön geschrieben wird. Aber auch die Schottenmönche teilten vielfach die barbarische Verwilderung der Zeit, und erst Karl der Grosse brachte eine bleibende Besserung zuweg; seit jener Zeit fehlte es in keinem gut eingerichteten Kloster an einer Schreibstube, Scriptorium; immer wenn ein Kloster einen neuen Aufschwung nimmt, erkennt man diesen auch aus den Arbeiten seiner Schreiber; das ist auch noch bei den Cluniacensern und den Karthäusern der Fall; auch Nonnen übten die Kunst, dagegen war sie in einigen alten Benediktinerklöstern im 13. Jahrhundert so gut wie ausgestorben, so in St. Gallen und Murbach. Die Bettelorden verlegten sich mehr auf Abschriften ihrer eigenen Kompilationen und scholastischer Schriften als auf die Vervielfältigung älterer Werke. Manche vorher verfallenen Benediktinerklöster erlebten um die Mitte des 15. Jahrhunderts einen neuen Aufschwung der gelehrten Studien. Die Brüder vom gemeinsamen Leben machten aus dem Abschreiben ein Gewerbe, unterschieden sich aber von den Lohnschreibern durch ihre genossenschaftliche Organisation und durch ihre Bestrebungen für Unterricht, Gelehrsamkeit und Erbauung.

Eine weitere Schreiberklasse des Mittelalters sind die Kanzleibeamten. Aus Italien, wo sie sich aus der alten Zeit erhalten hatten, verbreitete sich der Stand der weltlichen Notare nach dem 13. Jahrhundert auch in andere Länder. Zwar hatten die Merovinger noch weltliche Kanzleibeamte gehabt; aber unter den Karolingern fielen Kapelle und Kanzlei zusammen, und viele Jahrhunderte hindurch wurden seitdem ausserhalb Italiens alle Urkunden von Geistlichen geschrieben; ganz besonders war auch alle Korrespondenz in geistlichen Händen. Jeder Mann von einiger Bedeutung musste seinen clericus, pfaff haben, der seine Briefe las und schrieb; es war dies für die Kleriker zugleich der Weg zu Ansehen und Ehre; die Vorsteher der königlichen Kanzlei (siehe den Artikel Kapelle) wurden Bischöfe, den übrigen fielen geringere Pfründen zu. Die Anleitung zum Briefschreiben bildete deshalb seit alter Zeit einen wichtigen Teil des Unterrichts, man nannte es dictare, einen brief dihten.

Lohnschreiber gab es in Italien ebenfalls seit alter Zeit, sie erhielten sich hier durch das ganze Mittelalter und wurden später von den Universitäten als Zugehörige unter ihre Jurisdiktion und ihren Schutz aufgenommen. Im fränkischen Reiche gab es ohne Zweifel viele Geistliche, welche als Lohnschreiber ihren Lebensunterhalt fanden, doch werden sie selten erwähnt. Auch schrieben wohl Mönche für einen auswärtigen Besteller um Lohn ab, während sie natürlich für die eigene Bibliothek umsonst schrieben. Rechtshandschriften wurden auf deutschem Boden früh von Laien abgeschrieben; vom 13. Jahrhundert an werden eigentliche gewerbsmässige Schreiber aus dem Laienstande häufiger und übertreffen an Zahl die geistlichen; sie heissen cathedrales oder stuolschriber. Auch Frauen kennt man, die um Lohn abschreiben, und Schulmeister; Graf Hugo von Montfort (gest. 1423) liess seine Minnelieder durch seinen Knappen niederschreiben und mit Weisen versehen. Bürgerliche Schreiber beschäftigten sich vorzüglich mit Büchern in den Volkssprachen; kirchliche und gelehrte Bücher fielen noch immer vorzugsweise der Geistlichkeit und dem entstehenden Gelehrtenstand[904] zu. Die erste gedruckte Schreibekunst verfasste der Nürnberger Anton Neudörffer.

IV. Entwicklung der Schrift. Die Hauptgattungen der lateinischen Schrift sind:

1. Kapitalschrift heisst die Majuskelschrift in den vollen schönen Formen des lateinischen Alphabetes, wo jeder Zug, sei er geradlinig oder rund, wesentlich ist. In ganzen Handschriften erscheint die sonst der römischen Bildung angehörige Schrift bis ins 6. Jahrhundert; später behielt man sie nur noch für Überschriften und für die ersten Seiten von Prachthandschriften bei, vorzüglich in karolingischer Zeit.

2. Unicalschrift, ist aus der Kapitalschrift hervorgegangen, deren gerade geometrische Züge nach Bequemlichkeit bei ihr durch runde ersetzt sind; einzelne Buchstaben reichen schon über und unter die Zeilen. Diese Schrift bestand Jahrhunderte lang völlig ausgebildet neben der Kapitalschrift. Man kann in den Handschriften diese Schrift mit zunehmender Entartung vom 4. bis ins 8. Jahrhundert verfolgen.

3. Die altrömische Kursivschrift ist aus der Unicalschrift hervorgegangen; die Buchstaben hängen zusammen und werden ineinander gezogen; einzelne Züge treten über und unter die Linie; diese Schrift repräsentiert zugleich die Entstehung der Minuskel. Anfänglich für den Schulgebrauch und das bürgerliche Leben bestimmt, wird diese Schrift vom 4. Jahrhundert an auch zu neu verfassten Handschriften angewendet.

4. Die Nationalschriften. Auf der gemeinschaftlichen Grundlage der römischen Kursive, verbunden mit Elementen der Unicalschrift, haben sich nun verschiedene Nationalschriften entwickelt; anfangs dem Charakter der Völkerwanderung gemäß ausserordentlich verwildert, wurden sie mit der Zeit kalligraphisch weiter ausgebildet. Es gehören dahin die langobardische, die westgotische und die merowingische Schrift.

5. Die irische Schrift. Das Hauptland der Kalligraphie war vom 6. Jahrhundert an Irland; es bildeten sich hier mehrere grössere und kleinere Schriftgattungen aus. Vorzüglich liebten die Iren den reichsten Farbenschmuck und verzierten die Initialen und ganze Seiten mit der künstlichsten Verflechtung von Spiralen und schmalen farbigen Bandern. Mindestens wurden die grossen Buchstaben mit Reihen roter Punkte umgeben, namentlich charakteristisch aber sind die überall angebrachten Schlangen- und Vogelköpfe. Irische Mönche, die man in Deutschland Schottenmönche heisst, verbreiteten ihre Schrift über den ganzen Kontinent.

6. Die angelsächsische Schrift empfing Einflüsse teils von der irischen, teils von der römischen und wirkte wie die irische ebenfalls auf das fränkische Schriftwesen ein.

7. Die karolingische Minuskel. Die Bemühungen Karls des Grossen um die Reorganisation der öffentlichen Bildung richteten sich ausser der verwilderten Orthographie und Interpunktion auch auf die Pflege der Handschrift. Für Prachtstücke kehrte man zur alten Unicalschrift zurück; für den gewöhnlichen Gebrauch wurde eine Minuskel ausgebildet, die wesentlich eine Reform der merowingischen Schrift darstellt; ihr Ausgangspunkt ist Alkuins berühmte Schule im Martinskloster zu Tours; von hier wurde die neue Schreibart durch das ganze Frankreich verbreitet. Die karolingische Schrift ist rundlich, stark mit kursiven Elementen und einzelnen Unicalbuchstaben gemischt; charakteristisch sind besonders die keulenförmig nach oben verdickten Langstriche. Neben der Arbeit für den täglichen Gebrauch war die Richtung dieser Zeit vorzüglich der[905] Verfertigung von Prachtstücken zugewandt; Purpurnes Pergament, Gold, Silber, Kapitalschrift, nach den besten alten Inschriften kopiert, verschiedene Unicalformen, Ornamente und Bilder nach antiken und byzantinischen Mustern ausgewählt, vereinigte sich zur Herstellung staunenswerter Kunstwerke.

8. Die ausgebildete Minuskel. Die fränkische Schrift kam mit der Zeit zur Alleinherrschaft. Ihr Entwicklungsgang besteht darin, dass sie bis zum 12. Jahrhundert zu immer grösserer Regelmässigkeit fortschreitet; jeder Buchstabe hat seine bestimmte Form und steht unabhängig neben dem andern, die Striche sind scharf und gerade, die Worte vollständig getrennt. Gegen den Ausgang des 12. Jahrhunderts beginnen an den früher gerade abgeschnittenen untern Enden der Buchstaben starke Abschnittslinien bemerklich zu werden; dann biegen sich die Striche selbst unten nach vorn in die Höhe und geben dadurch der ganzen Schrift ein verändertes Aussehen; man schreibt viel mehr und deshalb viel rascher und nachlässiger. Um Platz für ihre ungeheuer umfänglichen Produkte zu schaffen, treiben namentlich die Bettelmönche den Gebrauch der Abkürzungen auf die Spitze. Im Verlaufe des 14. Jahrhunderts wird die Schrift immer eckiger und es bildet sich die gitterartige Schrift aus, die man gotisch oder Mönchsschrift nennt. In den Verzierungen herrschen die im 13. Jahrhundert aufkommenden abwechselnd roten und blauen vor. Dazu kommen die reichen Blattverzierungen, namentlich das Dornblattmuster, im 15. Jahrhundert ganze Pflanzen, Blumen und Früchte, mit Käfern und Schmetterlingen auf Goldblattgrund. Die Humanisten kehrten endlich zur reinen Minuskel des 12. Jahrhunderts zurück. Nach Wattenbach, das Schriftwesen im Mittelalter, zweite Aufl., Leipzig 1875 und ebenderselbe, Anleitung zur lateinischen Paläographie; zweite Aufl. Leipzig 1872.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 902-906.
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