[696] Lamennais (Lammenä), Hugues Felicité Robert, Abbé de, theol.-polit. Schriftsteller, hervorragend durch glänzendes Talent u. merkwürdig durch die Verirrungen desselben, wurde geb. 1782 zu St. Malo und durch die Eindrücke, welche J. J. Rousseaus Schriften und die Revolution auf ihn machten, dem [696] Glauben zwar nur vorübergehend entfremdet, aber in seinem Grundgedanken: daß die Mehrzahl der Menschen schon hienieden glücklich sein könnte und daß die Kirche für Volksbeglückung auch äußere Mittel aufbieten müsse, dauernd bestärkt. Dieser Zweck erheischt zunächst, daß die Kirche äußere Freiheit u. Macht besitze und von den Völkern als das Heilmittel der socialen Uebelstände erkannt und verehrt werde, daher trat L. für die kirchliche Freiheit (Réflexions sur lʼétat de lʼéglise en France etc., 1808. Tradition de lʼéglise sur lʼnstitution des évêques, 1814, De la religion considérée dans ses rapports avec lʼordre publique et civile, 1826) und wo möglich mit noch mehr Begeisterung und Beredsamkeit gegen die Gleichgiltigkeit in religiösen und kirchlichen Fragen (Essai sur lʼndifférence en matière de religion, 1818 bis 1823, 4 B.; Défense de lʼessai sur lʼindifférence, 1821) in die Schranken. Konnte Napoleon I. sich mit keiner Art von Freiheit, am wenigsten mit der der Kirche vertragen, so waren die legitimen Bourbonen um so weniger gesonnen, etwas von ihrer gallikanischen Freiheit abzugeben, weil viele französ. Bischöfe mit der Pariser Universität in diesem Punkte auf ihrer Seite standen. L.s Leben war daher ein beständiger Kampf; 1811 zog er sich nach St. Malo als Lehrer der Mathematik zurück, die 100 Tage sahen ihn als Flüchtling in England, 1817 empfing er die Priesterweihe, 1821 wurde er wegen eines Artikels in der Zeitschrift Drapeau blanc gemaßregelt. 1826 rettete ihn Berryers glänzende Beredsamkeit nicht vor Strafe, für welche er in Rom durch ausgezeichnete Aufnahme beim Papste Leo XII. entschädigt wurde. Wie viel Wahres L. den Bourbonen 1821 in der Schrift: Progrès de la révolution et de la guerre contre lʼéglise gesagt, erfuhren dieselben durch die Julirevolution. Nach diesem Sieg der Demokratie in der Form des Liberalismus gründete L. mit Lacordaire. Montalembert u.a. einen Verein für religiöse Freiheit sowie die Zeitschrift lʼ Avenir, welche kühn u. beredt die Hierarchie aufforderte, sich von den zerfallenden Staatsgewalten loszureißen, die Concordate zu vergessen, das arme Leben Jesu Christi zu führen u. auf Grund der Freiheit des Cultus und des Unterrichtes mit der siegreichen Demokratie sich zu verbinden. Die Juliregierung stutzte, der französ. Klerus trat im Ami de la religion gegen die extremen Ansichten des lʼ Avenir auf, die Herausgeber hielten es für räthlich, in Rom die Entscheidung zu holen. Bekanntlich sprach Papst Gregor XVI. gegen die Grundsätze des kathol.-demokratischen lʼAvenir, ebenso bekannt ist, daß die Herausgeber sich dem Ausspruche Roms fügten, L. allein nur zögernd. vorbehaltlich, am Ende gar nicht. Die Paroles dʼun croyant verkündigten 1834 im Prophetenton L.s Bruch mit der Kirche, in den Affaires de Rome (1836) setzte er denselben das Nähere auseinander u. bitter u. immer bitterer schrieb er für sein republikanisch-communistisches Christenthum, dessen Widersprüche mit dem wahren in der früh begonnenen, aber erst 184143 erschienenen Schrift Esquisse dʼune philosophie mitunter grell zu Tage treten. Die Schrift: Le pays et le gouvernement (1840) brachte dem Verfasser 1 Jahr Gefängniß, das Gefängniß keine bessere Einsicht, im Gegentheil trat er immer entschiedener als Revolutionär gegen alles Bestehende in Kirche und Staat auf: Discussions critiques et pensées diverses sur la religion et la philosophie, 1841, Du passé et de lʼavenir du peuple, 1842, Politique à lʼusage du peuple de lʼesclavage moderne u.a.m. Die Revolution von 1848 sah L. in der constituirenden u. gesetzgebenden Versammlung auf der Seite der Rothen, das 2. Kaiserthum gab das Signal zu seinem Verstummen und unversöhnt mit der Kirche st. L. am 27. Febr. 1854. Sämmtliche Werke, Paris 184447, 20 B.; Ausgaben u. Uebersetzungen der bekanntesten einzelnen sind Legion, ebenso die Zahl derer, die für und gegen L. schrieben (die Italiäner Nobili u. Vinc. Gioberti, der Spanier Cortes y Sexti, die Franzosen Guillon, Robinet, Lahaye, Loménin, Barbier, Quérard u.s.f.).