Lamennais

[77] Lamennais (spr. lamm'nä), Félicité Robert de, franz. Theolog und Schriftsteller, geb. 19. Juni 1782 zu St.-Malo in der Bretagne als Sohn eines Schiffsreeders, gest. 27. Febr. 1854 in Paris, war zuerst Lehrer der Mathematik und empfing 1816 in Rennes die Priesterweihe. Nachdem er 1808 mit seinen »Réflexions sur l'état de l'église en France« die schriftstellerische Laufbahn betreten und später die Wiedereinsetzung der Bourbonen gefeiert hatte, veröffentlichte er in seinem »Essai sur l'indifférence en matière de religion« (1817–25, 4 Bde.; neueste Ausg. 1885) ein Programm des modernen demokratisch-papistischen Katholizismus, das ihn mit Einem Schlag zu einer schriftstellerischen Größe erhob. In Rom, wohin er sich 1824 begab, wurde er von Leo XII. mit Auszeichnung empfangen; im Vaterland aber zog ihm die weitere Ausführung seiner hierarchischen Ideen in dem Werk »De la religion considérée dans ses rapports avec l'ordre civil et politique« (1825–26, 2 Bde.) eine Verurteilung zu. 1830 gründete er mit Montalembert und Lacordaire die Zeitschrift »L'Avenir«, in der er unter der Devise: »Gott und Freiheit« förmliche Trennung[77] der Kirche vom Staat sowie Religionsfreiheit für alle Bekenntnisse forderte. In Rom, wohin er sich zur Verantwortung begeben, wurden 1832 seine Doktrinen von Gregor XVI. in einer Enzyklika verdammt. L. gab nun zwar sein Journal auf, seine heroische Natur drängte ihn aber bald weiter auf der beschrittenen Bahn eines Propheten und Revolutionärs. Seine »Paroles d'un croyant« (1833, neue Ausg. 1890) proklamierten im Namen der Religion die Souveränität des Volkes. Das Buch, das während weniger Jahre über 100 Auflagen erlebte und in alle europäischen Sprachen übersetzt wurde (deutsch von Börne, Hamb. 1834), ward alsbald vom päpstlichen Bann getroffen. L. antwortete in seinen »Affaires de Rome« (1836–37, 2 Bde.), worin er vollends mit Staat und Kirche brach. Seitdem vom Klerus verketzert und von der weltlichen Macht verfolgt, von der Demokratie aber als Apostel gefeiert, wirkte L. für seine Grundsätze durch Flugblätter und größere Schriften, wie »Le livre du peuple« (1837; deutsch, Leipz. 1905) und »Les Évangiles« (deutsch mit Anmerkungen 1846), die ihn wiederholt in Konflikt mit der Preßpolizei brachten. Nach der Februarrevolution wurde L. in die Nationalversammlung gewählt, zog sich aber nach dem Staatsstreich gänzlich zurück. Seine »Œuvres complètes« erschienen in 11 Bänden (2. Aufl. 1844–47), »Œuvres posthumes« wurden von Forgues herausgegeben (1855–58, 5 Bde.). Andre nachgelassene Werke und Briefe veröffentlichten Blaize (»Correspondance, mélanges religieux et philosophiques«, 1866, 2 Bde.), Du Bois de la Villerabel (»Confidences de L., lettres inédites«, 1886), Forgues (»Correspondance inédite entre L. et le baron de Vitrolles«, 1886; »Lettres inédites de L. à Montalembert«, 1898) und Laveille (»Lettres inédites de L. à Benoit d'Azy«, 1899). Vgl. Blaize, Essai biographique sur M. F. de L. (1858); Janet, La philosophie de L. (1890); Roussel, L. d'après des documents inédits (1892, 2 Bde.) und L. intime, d'après une correspondance inédite (1897); Spuller, L., étude d'histoire politique et religieux (1892); Mercier, L. (1894); W. Gibson, The Abbé de L. and the liberal catholic movement in France (Lond. 1896); Bonet-Maury, Histoire de la liberté de conscience en France (Par. 1900); Boutard, L., sa vie et ses doctrines (das. 1905).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 12. Leipzig 1908, S. 77-78.
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