Moral

[238] Moral, lat.-deutsch, Ethik, griech., das Verhalten des Menschen zur sittlichen Weltordnung, dann das den Anforderungen der Sittlichkeit entsprechende Thun, das sittliche Leben, endlich die Lehre od. Wissenschaft von den Grundsätzen des sittlichen Lebens. Näher unterscheidet [238] man 1) eine natürliche M., die Handlungsweise des Menschen, insofern dieselbe durch ererbte Anlagen, Individualität, Volkscharakter und Lebensverhältnisse bestimmt wird. In diesem weiten Sinne ist M. gleichbedeutend mit Handlungsweise, Sitte, Gewohnheit; 2) philosophische M., der Inbegriff der Anschauungen u. Grundsätze, welche sich aus irgend einem philosophischen System als Folgerungen für das sittliche Leben des Menschen ergeben. In keinem Gebiete der Philosophie sind die Widersprüche, in welche sich die vom religiösen Glauben emancipirte Vernunft verwickelt, greller zu Tage getreten als in dem der M. oder Ethik; kein Gebiet ist ferner armseliger angebaut worden und sicher deßhalb, weil es genügt, um die Unhaltbarkeit oder auch Verwerflichkeit der meisten z.B. pantheistischen Systeme der Philosophie augenfällig nachzuweisen, aus den Theorien einfach die Folgerungen zu ziehen, die sich für das sittliche und praktische Leben überhaupt daraus ergeben. Endlich ist die schöpferische Kraft der menschlichen Vernunft u. Unvernunft im Gebiete der M. bereits mit den griech Philosophen zu Grabe gegangen, so daß der nachchristlichen Philosophie nur noch der Rückfall ins Heidenthum im offenen od. verschwiegenen Gegensatz zum Christenthum oder ein Verschmelzen von Ideen der natürlichen, philosophischen u. christlichen M. übrig bleibt. Hirscher findet als Hauptgebrechen der philosophischen M., daß dieselbe ein positiv gegebenes sittliches Ideal u. die höchste Bestimmung des Menschen nicht kennen, sondern erst suchen will u. aus der Menschennatur entwickelt; ferner daß sie vom Erbverderben in der sittlichen Natur des Menschen nichts wissen mag, folglich auch den rechten Weg zur Vereinigung der Menschenseele mit Gott nicht findet und an der Stelle der Demuth die Selbstvergötterung zum Grundton hat; endlich daß sie ihre Ansprüche auf objective Wahrheit nicht zu begründen vermag und aller Kraft und alles Lebens entbehrt, weil sie nur abstracte Lehren anstatt praktischer Vorbilder hat. 3) Die christliche M. als Wissenschaft nennt Hirscher die wissenschaftliche Erkenntniß von der durch Christus vermittelten wirklichen Wiederkehr des Menschen zur Kindschaft Gottes. Die christliche M. steht im engsten Zusammenhange mit der Dogmatik (s. d.) und unterscheidet sich von dieser zumeist nur dadurch, daß sie nicht die Lehre von Gott sondern die Lehre von der Heiligung u. dem geheiligten Leben des Menschen zur Hauptsache macht. Die Liebe Gottes zu den Menschen ist Grundton der Dogmatik, die Liebe des Menschen zu Gott Grundton der M., das Dogma die Seele des sittlichen Handelns im christlichen Sinne. In der Zeit der Kirchenväter geschah Vieles für die M. als Wissenschaft, namentlich sprach Augustinus die Liebe als das Princip derselben schärfer als einer vor ihm aus. Im Mittelalter trennten Abälard und Thomas von Aquin die M. von der Dogmatik u. bearbeiteten erstere selbständig; als M. isten zeichneten sich besonders aus: der Dominikaner Wilhelm Peraldus und Raymund von Pennaforte, durch die Mystiker aber ward die M. unmittelbar im Leben umgesetzt. Seit der Reformationszeit blieb die M. theilweise mit der Dogmatik auch äußerlich verbunden und wurden kirchenrechtliche Untersuchungen ihr angereiht, meist jedoch behandelte man sie als Casuistik u. nicht selten ward sie durch den Probabilismus (s. d.) entwürdigt. Erst Malebranche, der Jansenist Pierre Nicole u. der Oratorianer Bernh. Lamy strebten nach einer bessern Methode. Im 18. Jahrh. reinigten Jos. Lauber, Augustin Zippe, noch mehr Stattler, Schwarzhueber und Danzer die M. von Casuistik u. brachten eine bessere Methode, dagegen ließen sie den Inhalt der christlichen M. mehr oder minder in der Zeitphilosophie aufgehen. Im gegenwärtigen Jahrh. wirkten Stapf, besonders Sailer mit seiner M. theologie (1817) sehr anregend, der Schöpfer einer neuen M. aber wurde Hirscher, indem er es meisterlich verstand, die praktische Seite der Geheimnisse des Glaubens mit den Fortschritten deutscher Wissenschaft zu vereinbaren. – M., die praktische Lehre od. Lebensregel, welche einem Gleichniß, einer Fabel oder Geschichte[239] zu Grunde liegt. – M. ität, die Uebereinstimmung der Gesinnung mit dem Geiste des Gesetzes zum Unterschied von der Legalität, dem blos äußerlich gesetzmäßigen Verhalten. – M. ische Freiheit, die Macht des Willens, sich im gegebenen Falle für diese oder jene Handlungsweise zu entscheiden. – M. ischer Zwang, die Anwendung von Gewaltsmitteln, um dem Menschen die freie Wahl im Handeln zu nehmen. – M. isches Recht, ein nicht äußerlich erzwingbares formelles Recht, sondern ein materielles, das aus m.ischen Verpflichtungen fließt. z.B. der Anspruch, den Eltern auf Unterstützung von Seite ihrer Kinder haben, wenn auch die Landesgesetzgebung nichts davon wissen will.

Quelle:
Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1856, Band 4, S. 238-240.
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