Fabrikgesetzgebung [1]

[529] Fabrikgesetzgebung, die Gesamtheit der auf Fabriken und ähnliche größere gewerbliche Unternehmungen sich beziehenden staatlichen Anordnungen zum Schutz der in solchen Unternehmungen beschäftigten Arbeiter gegen die besonderen Gefahren und Nachteile, die für sie aus dem Arbeitsverhältnis entstehen können.

Die Notwendigkeit der Anordnung von Schutzbestimmungen ergab sich zuerst da, wo die Verwendung von Maschinen die Zuhilfenahme schwächerer menschlicher Arbeitskräfte (Frauen- und Kinderarbeit) gestattete und wo besondere Mißbräuche in der Ausnutzung der menschlichen Arbeitskraft zutage traten, d.h. in Fabriken. Später machte sich eine Ausdehnung der Schutzbestimmungen auf andre Unternehmungen erforderlich, die Fabrikgesetzgebung wurde zur Arbeiterschutzgesetzgebung. Beide Bezeichnungen werden daher auch wohl durcheinander gebraucht, wenngleich der Begriff der Arbeiterschutzgesetzgebung sich nicht nur auf den Schutz der in Fabriken beschäftigten Arbeiter beschränkt, sondern sich allgemein auf die in Unternehmungen beschäftigten Arbeiter bezieht. – Die Fabrikgesetzgebung befaßt sich insbesondere mit der Regelung der Arbeitszeit (Sonntagsarbeit, Nachtarbeit) und der Arbeitsdauer, mit dem Schutz gegen eine das Leben, die Gesundheit, die Sittlichkeit oder das Familienleben gefährdende Arbeit, mit der Art der Lohnzahlung (Bestimmungen gegen die Ausbeutung der Arbeiter durch Ablöhnung mit Waren [Trucksystem], Regelung der Lohnabzüge und Lohneinbehaltungen u.s.w.), mit der Aufsicht auf die einzelnen Betriebe (Fabrikinspektion), mit der Frage der Wohnung der Fabrikarbeiter, mit derjenigen der Haftpflicht der Unternehmer.

Die Fabrikgesetzgebung. wurde zuerst und am weitgehendsten in England ausgebildet, wo die Zustände in der Textilindustrie zu Beginn des vorigen Jahrhunderts die ersten gesetzlichen Bestimmungen zum Schütze der jugendlichen Arbeiter veranlaßten. In der Folgezeit erfuhr die englische Fabrikgesetzgebung eine mannigfache Ausdehnung durch zahlreiche Bestimmungen. Eine Zusammenfassung derselben fand statt in dem Fabriken- und Werkstättengesetz vom 27. Mai 1878 mit Zusatzgesetzen von 1883 und 1889 und sodann in dem neuen Fabriken- und Werkstättengesetz von 1901 mit weitgehenden Schutzbestimmungen. – Die Regelung der Fabrikgesetzgebung in Deutschland beruht zurzeit in der Hauptsache auf der Reichsgewerbeordnung, nachdem schon früher in Preußen und andern Einzelstaaten Arbeiterschutzbestimmungen erlassen worden waren. Die Bestimmungen der Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869 wurden erst durch die Novellen vom 17. Juli 1878, vom 1. Juni 1891, 26. Juli 1897 und 30. Juni 1900 sowie durch das Gesetz vom 30. März 1903, betreffend Kinderarbeit in gewerblichen Betrieben (s. Kinderschutz) zu umfassenderen Arbeiterschutzbestimmungen ausgestaltet. § 18 der Gewerbeordnung bestimmt, daß bei der Genehmigung von gewerblichen Anlagen (s. Bd. 1, S. 219). nach § 16 ff. u.a. diejenigen Anordnungen zu treffen sind, die zum Schütze der Arbeiter gegen Gefahr für Gesundheit und Leben notwendig sind. Tit. VII. der Gewerbeordnung, der die Verhältnisse der gewerblichen Arbeiter (Gesellen, Gehilfen, Lehrlinge, Betriebsbeamte, Werkmeister, Techniker, Fabrikarbeiter) regelt, behandelt in dem in der Hauptsache auf dem Gesetz vom 1. Juni 1891 beruhenden Abschn. IV die Verhältnisse der Fabrikarbeiter im besonderen (§§ 134 bis 139 a): Beschränkung der Vereinbarung der Lohnverwirkung für den Fall rechtswidriger Auflösung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeiter; Einrichtung von Lohnzahlungsbüchern für minderjährige Arbeiter, um Eltern oder Vormündern zu ermöglichen, sich über den Verdienst des Arbeiters Auskunft zu verschaffen (§ 134); Erlaß von Arbeitsordnungen (§§ 134 a–134 h) (s.d.), Einrichtung von Arbeiterausschüssen (§§ 134 b, 134 d, 134 h) (s.d.), Schutzbestimmungen für Kinder, junge Leute und Arbeiterinnen (§§ 135–139 a, s. Kinderschutz, Arbeiter, jugendliche, und Arbeiter, weibliche). Neben den Bestimmungen des Abschn. IV finden auf die Fabrikarbeiter auch die allgemeinen Arbeiterschutzbestimmungen[529] der §§ 105–120 e Anwendung (Freiheit des Dienstvertrags vorbehaltlich der durch Reichsgesetz begründeten Beschränkungen), Sonntagsruhe (s.d.), Schutzbestimmungen für jugendliche Arbeiter (s.d.), Arbeitsbücher (s.d.), Lohnbücher oder Arbeitszettel zur Verhütung von Streitigkeiten über den Betrag des verdienten Lohns, Verpflichtung der Gewerbetreibenden, die Löhne ihrer Arbeiter in Reichswährung zu berechnen und bar auszubezahlen, Verbot des Kreditierens von Waren an die Arbeiter, Regelung der Lohneinbehaltungen, Fürsorge für die Fortbildung der Arbeiter, Schutz gegen Gefahren für Leben und Gesundheit, Fürsorge für Aufrechterhaltung der guten Sitten und des Anstandes im Betriebe. In Ergänzung der gesetzlichen Vorschriften sind verschiedene Bekanntmachungen des Bundesrats ergangen (s. darüber die Kommentare zur Reichsgewerbeordnung). Weiter finden Anwendung § 139 b (Aufsicht, s. Fabrikinspektoren), sodann nach näherer Maßgabe des 134 Abs. 1 und 2 die §§ 121–125 (Verhältnisse der Gesellen und Gehilfen, Regelung des Arbeitsvertrags, Kündigung, Folgen des Vertragsbruchs [s. Vertragsbruch]) und, soweit die Fabrikarbeiter als Lehrlinge anzusehen sind, die Bestimmungen der §§ 126–128 (Lehrlingsverhältnisse). § 154 der Gewerbeordnung gibt Vorschriften über die Ausdehnung der für Fabriken geltenden Bestimmungen auf andre Betriebe (Hüttenwerke, Zimmerplätze und andre Bauhöfe, Werften, Ziegeleien, über Tage betriebene Brüche und Gruben, Werkstätten mit Motorbetrieb und sonstige Werkstätten sowie Bauten). Nach § 154 a finden diese Bestimmungen zum größten Teil auch auf Bergwerke, Salinen, Aufbereitungsanstalten und unterirdisch betriebene Brüche oder Gruben Anwendung. Zur Ausführung des § 154 sind Bestimmungen des Bundesrats vom 13. Juli 1900 über die Beschäftigung von jugendlichen Arbeitern und von Arbeiterinnen in Werkstätten mit Motorbetrieb (Reichsgesetzblatt S. 566) und Kaiserliche Verordnungen vom 31. Mai 1897 und 17. Februar 1904 über die Ausdehnung der §§ 135–139 und des § 139 b der Gewerbeordnung auf die Werkstätten der Kleider- und Wäschekonfektion (Reichsgesetzblatt von 1897 S. 459, von 1904 S. 62) ergangen. Auf die Nichtbefolgung der den Arbeitgebern obliegenden Verpflichtungen sind in Tit. X der Gewerbeordnung Strafen gesetzt (s. Strafrecht). In diesem Zusammenhang zu nennen ist sodann das Gesetz vom 13. Mai 1884, betreffend die Anfertigung und Verzollung von Zündhölzern (Reichsgesetzblatt S. 49) mit Bekanntmachung des Reichskanzlers vom 8. Juli 1893 (Reichsgesetzblatt S. 209), das besondere Schutzbestimmungen für die Anlagen zur Anfertigung von Zündhölzern unter Verwendung von weißem Phosphor enthält. Durch Gesetz vom 10. Mai 1903 (Reichsgesetzblatt S. 217) ist mit Wirkung vom 1. Januar 1907 die Verwendung von weißem oder gelbem Phosphor zur Herstellung von Zündhölzern und andern Zündwaren verboten.

In der Schweiz wurde die Fabrikgesetzgebung verfassungsmäßig als Bundesangelegenheit erklärt und am 23. März 1877 ein eidgenössisches Fabrikgesetz erlassen, nachdem schon zuvor in der Mehrzahl der industriellen Kantone Bestimmungen über Arbeiterschutz getroffen worden waren. Das Fabrikgesetz vom 23. März 1877 enthält u.a. die Festsetzung eines gesetzlichen Maximalarbeitstags von 11 Stunden, an den Tagen vor Sonn- und Festtagen von 10 Stunden, ferner besondere Bestimmungen über die Kinder-, Sonntags- und Nachtarbeit, die Beschäftigung der Frauen, den Schutz gegen gefährliche und gesundheitsschädliche Arbeit, den Erlaß von Fabrikordnungen. Die Durchführung des Gesetzes ist den Regierungen der einzelnen Kantone übertragen. – Oesterreich hat in seiner Gewerbeordnung und den Novellen hierzu eingehende Schutzbestimmungen für die in Fabriken beschäftigten Arbeiter (Verbot der Kinderarbeit, Normalarbeitstag, Sonntagsruhe). Auch in der Mehrzahl der übrigen industriellen Staaten, so in Frankreich, Dänemark, Schweden, Norwegen, Rußland, Holland, Belgien, Italien, Ungarn, sind in den letzten Jahren mehr oder minder weitgehende Arbeiterschutzbestimmungen für Fabriken und ähnliche Betriebe erlassen worden.


Literatur: Vgl. zu dem vorstehenden Artikel weiter diejenigen über Arbeiterschutz, Arbeiter, jugendliche, Arbeiter, weibliche, Arbeiterausschuß, Arbeitsbuch, Arbeitstag (Arbeitszeit), Arbeitsordnung, Kinderschutz, Nachtarbeit, Sonntagsruhe, auch Koalitionsrecht, Vertragsbruch, Einigungsämter, Gewerbegerichte und Haftpflicht und die bei diesen angegebene Literatur; ferner Schönberg, Handbuch der politischen Oekonomie, 4. Aufl., Tübingen 1898, Bd. 2, Halbbd. 2, Abhandl. XXII, S. 126 ff. u. 74 ff.; Evert, Artikel »Fabrikgesetzgebung« im Handwörterbuch der Staatswissensch., herausgegeben von Conrad, Elster, Lexis und Löning, 2. Aufl., Jena 1900, Bd. 3, S. 782 ff.; Kehm (Elster), Artikel »Fabrikgesetzgebung« im Wörterbuch der Volkswirtschaft, herausgegeben von Elster, Jena 1898, Bd. 1, S. 681; Nelken, Die deutschen Handwerker- und Arbeiterschutzgesetze (Tit. VI und VII der Gewerbeordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 26. Juli 1900) nebst den reichsrechtlichen Ausführungsbestimmungen, Berlin 1901; Dammer, Handbuch der Arbeiterwohlfahrt, Stuttgart 1902, Bd. 1, S. 226 ff., 403 ff. u. 525 ff.

Köhler.

Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 3 Stuttgart, Leipzig 1906., S. 529-530.
Lizenz:
Faksimiles:
529 | 530
Kategorien:
Ähnliche Einträge in anderen Lexika

Buchempfehlung

Christen, Ada

Gedichte. Lieder einer Verlorenen / Aus der Asche / Schatten / Aus der Tiefe

Gedichte. Lieder einer Verlorenen / Aus der Asche / Schatten / Aus der Tiefe

Diese Ausgabe gibt das lyrische Werk der Autorin wieder, die 1868 auf Vermittlung ihres guten Freundes Ferdinand v. Saar ihren ersten Gedichtband »Lieder einer Verlorenen« bei Hoffmann & Campe unterbringen konnte. Über den letzten der vier Bände, »Aus der Tiefe« schrieb Theodor Storm: »Es ist ein sehr ernstes, auch oft bittres Buch; aber es ist kein faselicher Weltschmerz, man fühlt, es steht ein Lebendiges dahinter.«

142 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon