Gase [5]

[288] Gase , gasförmige Körper. Verflüssigung derselben. Für jede Substanz gibt es eine bestimmte, die sogenannte »kritische« Temperatur, oberhalb welcher sie durch Verdichtung auf noch so hohen Druck nicht verflüssigt werden kann. Bei der kritischen Temperatur erfolgt die Verflüssigung unter einem bestimmten, dem »kritischen« Druck, wobei die Substanz die »kritische« Dichte annimmt. Demnach ist die Verflüssigung eines Gases um so schwieriger, je tiefer die kritische Temperatur liegt. Mit sinkender Temperatur sinkt auch der zur Verflüssigung nötige Druck, die »Spannung des gesättigten Dampfes«, und wird beim Siedepunkt gleich dem atmosphärischen Druck von 760 mm Quecksilbersäule.

Diejenigen bei gewöhnlicher Temperatur gasförmigen Körper, deren Siedepunkt nicht sehr tief unter 0° liegt, wie schweflige Säure SO2 Ammoniak NH3, Chlor Cl2 und Cyan CN, wurden teils Ende des 18., teils Anfang des 19. Jahrhunderts durch mäßige Kompression und Abkühlung zum ersten Male verflüssigt. Im Jahre 1823 gelang Faraday [1] auch die Verflüssigung von Schwefelwasserstoff H2S, Chlorwasserstoff HCl, Kohlensäure CO2 und Stickoxydul N2O. Thilorier [2] stellte 1834 stellte Kohlensäure her, die bei atmosphärischem Druck eine Temperatur von –79° besitzt. Durch Verdampfung fester Kohlensäure unter sehr niedrigem Druck erreichte Faraday [3] im Jahre 1845 eine Temperatur von –110° und konnte nun unter mäßigem Druck auch Aethylen C2H4 und überhaupt sämtliche damals bekannten Gase außer Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff, Stickoxyd, Kohlenoxyd und Methan verflüssigen. Diese sechs Gase widersetzten sich auch noch Natterers Versuchen (1850–54) der Verflüssigung durch Kompression auf Drucke bis zu 3600 Atmosphären und Abkühlung mit fester Kohlensäure. Die ersten Anzeichen einer Verflüssigung dieser Gase beobachteten im Jahre 1877 zu gleicher Zeit Cailletet [4] und Pictet [5]. Ersterer kühlte die hochkomprimierten Gase auf etwa –30° ab und ließ sie dann plötzlich unter Leistung äußerer Arbeit expandieren. Dabei sank die Temperatur so tief, daß ein Teil des Gases sich in Form eines seinen Nebels zu Tröpfchen verdichtete. Pictet entwickelte in geschlossener Retorte Sauerstoff unter hohem Druck (bis zu 525 Atmosphären) und kühlte mit fester Kohlensäure, die unter sehr niedrigem Druck verdampfte. Beim Oeffnen des Hahns an dem Sauerstoffrohr trat ein Nebelstrahl aus. Beide Forscher gaben an, auch bei Wasserstoff Nebelbildung, Pictet sogar ein Erstarren des Wasserstoffes beobachtet zu haben; doch beruhte dies nach unsern jetzigen Kenntnissen sicher auf Täuschung. Zu ruhig siedenden Flüssigkeiten wurden alle diese Gase außer Wasserstoff im Jahre 1883 durch v. Wroblewski und Olszewski [6] verdichtet, und zwar mit Hilfe von Aethylen, das unter niedrigem Druck verdampfte. Im Jahre 1895 fand Linde [7] eine neue Methode der Luftverflüssigung. Sie beruht auf der Abkühlung, welche die Luft erleidet, wenn sie ohne Leistung äußerer Arbeit von hohem auf niedrigen Druck ausströmt. Diese Abkühlung beträgt zwar nur 1/4° pro Atmosphäre Druckdifferenz; aber wenn die Kühlwirkung durch Einschaltung eines Gegenstromapparates zwischen den Luftkompressor und die Ausströmungsöffnung von der ausgeströmten auf die komprimierte Luft übertragen wird, so sinkt die Temperatur sowohl vor als nach der Ausströmung so lange, bis die Verflüssigung eintritt. Durch Anwendung dieser Methode auf Wasserstoff, der mit flüssiger Luft vorgekühlt war, gelang es Dewar [8] im Jahre 1898, auch dieses Gas zu einer ruhig siedenden Flüssigkeit zu verdichten. Das Helium ist nunmehr das einzige Gas, dessen Verflüssigung noch nicht gelungen ist.

Die wichtigsten Eigenschaften der verflüssigten Gase sind in den folgenden Tabellen zusammengestellt. Dabei bedeutet: t die Temperatur in Celsiusgraden, te die Erstarrungstemperatur, ts den Siedepunkt, d die Dichte des verflüssigten Gases, ds die Dichte desselben beim Siedepunkt, p die Spannung des gesättigten Dampfes in Kilogramm pro Quadratzentimeter, tk, pk und dk die betreffenden Werte im kritischen Zustand, c die spezifische Wärme der Flüssigkeit, r ihre Verdampfungswärme pro Kilogramm in Kalorien.


Gase [5]

Gase [5]

[288] Aus den Tabellen sind folgende Eigenschaften der verflüssigten Gase ersichtlich: Bei CO2 und C2H2 liegt der Siedepunkt tiefer als der Erstarrungspunkt. Unter atmosphärischem Druck können also die beiden Substanzen nicht in flüssigem Zustande bestehen, sondern gehen direkt aus dem festen in den gasförmigen Zustand über. Ein Schmelzen tritt erst bei höherer Temperatur und höherem Druck ein. In der Nähe von tk nimmt d sehr stark ab, d.h. der Ausdehnungskoeffizient wird sehr groß, und zwar viel größer als der der Gase nach dem Gay-Lussacschen Gesetz (s.d.). In ähnlichem Maße wächst auch c bei Annäherung an tk, dagegen nimmt r stark ab und wird bei tk Null.

NH3, SO2 und CO2 werden in großem Maßstabe zur Kälteerzeugung verwendet (s. Kälteerzeugungsmaschinen), CO2 auch in großen Mengen zum Bierausschank. Die Luftverflüssigung dient seit einigen Jahren zur Gewinnung von Sauerstoff und Stickstoff durch fraktionierte Verdampfung und Rektifikation der Luft.


Literatur: [1] Phil. Trans., Bd. 113 und 189. – [2] Ann. chim. phys. (2), Bd. 60, S. 427. – [3] Phil. Trans., Bd. 135 und 155. – [4] Compt. rend., Bd. 85, S. 1016,1213 und 1270. – [5] Ebend., Bd. 85, S. 1220; Bd. 86, S. 37. – [6] Wied. Ann., 20, S. 243. – [7] Zeitschr. d. Ver. deutsch. Ing. 39, S. 1157. – [8] Proc. Roy. Soc., 63, S. 250. – [9] Olszewski, Wied. Ann., 37, S. 337. – [10] Ansdell, Proc. Roy. Soc, 29, S. 209; 30, S. 117; Villard, Compt. rend., Bd. 120 und 121. – [11] Knietsch, Lieb. Ann., 259, 100. – [12] Moissan und Dewar, Compt. rend., Bd. 124, 125 und 136. – [13] Olszewski, Compt. rend., 99, S. 706. – [14] Ders., ebend., 100, S. 940. – [15] Regnault, Mem. de l'Acad., 26. – [16] Dewar, Proc. Roy. Soc, 64, 68 und 73. – [17] Mollier, Zeitschr. f. d. ges. Kälteindustrie, X, S. 125. – [18] Dieterici, ebend., XI, S. 21 und 47. – [19] Amagat, Compt. rend., 113 und 114.

F. Linde.

Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 4 Stuttgart, Leipzig 1906., S. 288-289.
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