Rathaus

[356] Rathaus (Stadthaus), in kleinen Orten auch Gemeindehaus (s.d.), ist der Sitz der Gemeindeverwaltung und deren Gerichtsbarkeit.

In früheren Zeiten, wo diese mehr öffentlich und mündlich waren, bestand das Gebäude aus großen Hallen im Erdgeschoß zum Verkauf und Handel, die oberen Geschosse aus einem Saal zu Versammlungen mit wenigen Nebenräumen (z.B. Bremen). In der Neuzeit hat sich die Verwaltung in viele Zweige gegliedert, deren Räume je nach der Größe und Bedeutung der Stadt in mehreren Stockwerken (2–4) unterzubringen sind. Der bedeutsamste Raum bleibt auch hier der große Ratsaal, oft mit Galerien für das Publikum versehen. An ausgezeichneter Stelle angeordnet, wird er wesentlich dazu beitragen, die Bedeutung und großartige Wirkung des Gebäudes zu heben; er dient sowohl zu den Beratungen der Vertreter der Bürgerschaft als[356] auch zu Abhaltung von städtischen Festen, was bei sehr großen Städten zu einer Vermehrung der Festräume führt (Paris [5]; Hamburg [22], s. Fig. 1 und 1a; Berlin). Andre Haupträume sind der kleine Saal für Sitzungen des Stadt- oder Gemeinderats, außerdem andre Sitzungs- und Beratungszimmer, deren Lage so zu bestimmen ist, daß sie dem Straßenlärm entzogen sind. Im übrigen wird in einer mittelgroßen Stadt an Räumen erforderlich sein (s. Fig. 22b): Im Erdgeschoß: eine geräumige Vorhalle mit anstoßendem Diener- und Wartezimmer; die Schreibzimmer der Stadtkasse mit Kassengewölbe, der Steuerkasse, der Sparkasse und der Krankenversicherung; das Polizeiamt mit Wachstuben, Arrestlokalen und dem Paßbureau, das Militärmeldeamt und etwa die Feuerwache mit Schuppen für die Löschgerätschaften. Im Hauptgeschoß: außer den schon erwähnten Sitzungssälen die eigentliche Verwaltung mit Zimmern der Bürgermeister, des Ratschreibers mit den nötigen Schreibstuben und einem Gewölbe für das Archiv; das Standesamt mit Eheschließungssaal; der Armenrat; Gewerbe- und Handelskammer. Im oberen Geschoß: das Grund- und Pfandbuchamt, die Schulverwaltung und das Stadtbauamt mit seinen Unterabteilungen für Hoch- und Tiefbau; an Wohnungen kommen vor: solche für den Hausmeister oder einen Stadtdiener, oft auch für den Ersten Bürgermeister. Die Treppen und Gänge sind breit, hell und übersichtlich anzuordnen, ebenso die Aborte, letztere in genügender Zahl. Die Lage des Gebäudes im Herzen der Stadt wird am bellen an einem bedeutenden Platze und von einer oder zwei Straßen begrenzt sein, so daß die Zugänglichkeit eine tunlichst ungehemmte ist. Der äußere Aufbau soll ernst und würdig sein und eine gewisse Großartigkeit bewahren. Ein Turm für Uhr und Feuerwächter – entweder in der Mittelachse oder seitlich aufsteigend – wird das stattliche Aussehen und die Charakteristik wesentlich erhöhen. Aus dem Mittelalter sind uns treffliche Beispiele in fast allen Kulturländern erhalten. Besonders zeigen solche in Italien die Städte Florenz, Siena [3], Perugia, Verona u.s.w., im Norden aber die flandrischen Städte Brüssel, Löwen,[357] Brügge, Oudenarde u.s.w., wo herrliche Stadthäuser von dem Stolze der Bürgerschaft und der früheren Bedeutung jener Städte einen hohen Begriff geben. In Deutschland sind neben älteren Bauten, wie zu Lübeck, Tangermünde und Braunschweig, Ulm und Danzig, mehr die Rathausbauten der späteren Jahrhunderte hervorzuheben, so die von Cöln, Bremen, Nürnberg [16] und Augsburg [15], letzteres von großartigster Wirkung. In Frankreich sind die Rathäuser von Paris [4a], [5] und Lyon [4] die hervorragendsten. Nicht minder bemerkenswert aber sind die Rathausbauten der Neuzeit, die hervorragende Meisterwerke geschaffen hat, so in Berlin [21], Wien [20], München [19], Hamburg [22], Wiesbaden [23], sodann in Paris [4 a] und [6]. Ueberhaupt hatte die neuere soziale Bewegung und der Aufschwung in Gewerbe und Verkehr eine überaus starke Zunahme der Bevölkerung in den Städten und hierdurch Neubauten von Rathäusern zur Folge, wodurch diese Gebäudeart eine besondere Pflege und reiche Entwicklung fand, die auch in der Fachliteratur durch eine entsprechende Würdigung zum Ausdruck kam.


Literatur: [1] Handbuch der Architektur, 4. Teil, 7. Halbband, Darmstadt 1887. – [2] Klasen, L., Grundrißvorbilder. – Ueber italienische Rathäuser: [3] Rohault, G., de Fleury, La Toscane an moyen âge etc., Paris 1873. – Ueber französische Rathausbauten: [4] Havard, H., La France artistique monumentale, und zwar Bd. 4, Paris, Hôtel de ville; Bd. 5, Lyon, Hotel de ville; Bd. 6, St. Antonin, Hotel de ville. – [4 a] Narjoux, F., Paris, monuments, élevés par la ville 1850/80, 4 Bde., Paris 1880. – [5] Calliat, V., Hotel de ville de Paris, Paris 1844. – [6] Das neue Rathaus von Paris, Schweizer. Bauztg., Zürich 1883. – [7] Nouvelles annales de construction 1869 ff. – [8] Encyclopédie d'architecture, Paris 1872 ff. – [9] Moniteur d'architecture, Paris 1878. – [10] Construction moderne, Paris. – Ueber Neubauten englischer Rathäuser: [11] The Architect, London 1869 ff. – [12] The Builder, London 1864 ff. – [13] The Building News, London 1873. – Ueber deutsche Rathausbauten: [14] Breslau: Lüdecke und Schultz, Zeitschr. für Bauwesen 1864, 1868 und 1869; Zentralbl. der Bauverwaltung 1887. – [15] Augsburg: Deutsche Bauztg. 1884. – [16] Nürnberg: Architekton. Studien von Steindorf, Stuttgart, Heft 64, Zentralbl. der Bauverwaltung 1893. – [17] Basel: Schweiz. Bauztg. 1883. – [18] Winterthur: Semper, Wiener Bauindustrieztg., Bd. 4. – [19] München: Allg. Bauztg., Wien 1868 und 1869. – [20] Wien: Allg. Bauztg., Wien 1878; Bautechniker, Wien 1883; Schweiz. Bauztg. 1883. – [21] Berlin: Wäsemann, Zeitschr. für Bauwesen 1873/75; Rombergs Zeitschrift 1866; Berlin und seine Bauten, 1896. – [22] Hamburg: Deutsche Bauztg. 1880/85; Architekton. Rundschau 1890. – [23] Wiesbaden: Zentralbl. der Bauverwaltung 1882; Deutsche Bauztg. 1885 und 1886: Ueber neuere deutsche Rathausbauten. – [24] Neumeister und Häberle, Deutsche Konkurrenzen, Leipzig.

Weinbrenner.

Fig. 1.
Fig. 1.
Fig. 1a.
Fig. 1a.
Fig. 2., Fig. 2a., Fig. 2b.
Fig. 2., Fig. 2a., Fig. 2b.
Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 7 Stuttgart, Leipzig 1909., S. 356-358.
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