Ästhetische Apperzeptionsformen

[900] Ästhetische Apperzeptionsformen heißen bestimmte Auffassungsweisen, durch welche zu einem ästhetischen Wahrnehmungsinhalt Gefühls- und Vorstellungsgebilde hinzugefügt werden, die dessen Wert erheblich steigern und ihn oft erst zu eigentlich ästhetischer Bedeutung erheben. Vier Formen der ästhetischen Apperzeption sind zu unterscheiden: 1) die beseelende oder personifizierende Apperzeption, 2) die metaphorische Apperzeption, 3) die antithetische Apperzeption, 4) die symbolische Apperzeption. Die beseelende Apperzeption besteht darin, daß der Auffassende dem Gegenstand seiner Wahrnehmung menschliches oder menschenähnliches Denken und Fühlen verleiht, insbes. nicht beseelten Gegenständen Seele schenkt. Vor allem tritt die beseelende Apperzeption in dem Naturgefühl zu Tage: in dem mythologischen Naturgefühl primitiver Zeiten, wonach etwa Berg und Wald, Fluß und Hain, Baum und Strauch durch menschenähnliche göttliche Wesen beseelt gedacht werden; in dem sentimentalen Naturgefühl der modernen Zeit, das am mächtigsten durch Rousseau entwickelt worden ist, wird die unbeseelte Natur gleichfalls als mit Menschenleben ausgestattet, mitfühlend und teilnehmend gedacht. Die Beseelung kann sich aber auch auf Abstrakta, auf künstliche Gebilde der Menschenhand und andres beziehen. Das Charakteristische der zweiten Apperzeptionsform, der metaphorischen Apperzeption, besteht darin, daß der Auffassende zu einer gegebenen Vorstellung eine andre mit ihr in Beziehung stehende oder ihr vergleichbare hinzufügt und häufig einfach die neue statt der ursprünglichen Vorstellung einsetzt. Durch dieses Hinzudenken einer Parallelvorstellung wird der jeweilige Inhalt des Bewußtseins erheblich bereichert (s. Metapher). Die antithetische Apperzeption, die von geringerer Wirkung ist und einen mehr verstandesmäßigen Eindruck macht, bereichert oder erweitert den Inhalt der Wahrnehmung durch Hinzufügung einer Kontrastvorstellung (s. Antithese). Die bedeutendste Apperzeptionsform liegt in der symbolischen Apperzeption vor, die man bezeichnen kann als eine Metapher im verjüngten Maßstabe. Während nämlich bei der metaphorischen Apperzeption zu einer gegebenen Vorstellung nur eine Analogievorstellung hinzutritt, ist es das Wesen des Symbols, daß sich mit einem unmittelbaren Wahrnehmungsinhalt von oft nur geringer Bedeutung eine Analogievorstellung von weit ausschauender Bedeutung verknüpft, so daß der Inhalt des Symbols ins Unendliche auszustrahlen scheint und oft wohl tiefsinniger Ahnung, nicht aber mehr dem logisch erkennenden Verstand erfaßbar erscheint. Viele Symbole sind konventioneller Art, wie etwa die Darbietung von Brot und Salz, das Zerschneiden des Tischtuchs, das Rauchen der Friedenspfeife u. dgl. Daneben bestehen individuelle Symbole, die von dem einzelnen Künstler geschaffen werden und im Gegensatze zu den konventionellen in ihrem letzten Inhalt nicht immer auszudeuten sind. Die Kraft symbolischer Obergedanken ist für die Größe einer künstlerischen Persönlichkeit mehr als alles bezeichnend. Das Symbol setzt die Phantasie des Aufnehmenden in rastlose Bewegung und läßt in der einzelnen Erscheinung das letzte Rätsel des Lebens ahnen. Das Symbol kommt insbes. auch in der Form zum Ausdruck. Gewisse Züge der dem Auge oder Ohr sich darbietenden Form können einen Inhalt ahnen lassen, den der Verfasser nur in leisen Andeutungen verkörpert hat. Übertreibungen der symbolischen Apperzeption haben sich bei den Symbolisten in der Malerei und Dichtkunst in neuerer Zeit oft gezeigt, in der Dichtung besonders auffallend in Frankreich. Vgl. Elster, Prinzipien der Literaturwissenschaft, Bd. 1 (Halle 1897); über das Symbol insbes. vgl. Siebeck, Das Wesen der ästhetischen Anschauung (Berl. 1875); Volkelt, Der Symbolbegriff in der neuesten Ästhetik (Jena 1876), und vor allem Fr. Vischer, Das Symbol (in den »Philosophischen Aufsätzen. Ed. Zeller zu seinem 50jährigen Doktorjubiläum gewidmet«, Leipz. 1887).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1905, S. 900.
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