[635] Apperzeption (lat.), bei Herbart die »Aneignung« einer neuen Vorstellung, die dadurch zu stande kommt, daß dieselbe mit bereits vorhandenen in Verbindung tritt, bei Wundt die klare und scharfe Auffassung des Wahrgenommenen oder Vorgestellten im Gegensatze zu der bloßen Perzeption, dem Eintritt einer Vorstellung ins Bewußtsein überhaupt. So wird beim Sehen zwar der Inhalt des ganzen Gesichtsfeldes im allgemeinen wahrgenommen (perzipiert), genau aufgefaßt (apperzipiert) aber nur der in der Blicklinie liegende Teil desselben; in der Musik eines Orchesters hören wir zwar sicher jedes einzelne Instrument, aber nur bei besonders darauf gerichteter Aufmerksamkeit kommt uns der Anteil eines jeden zu deutlichem Bewußtsein; beim Nachdenken drängen sich uns fortwährend viele neue Vorstellungen auf, aber nur wenige davon treten klar vor unser geistiges Auge. Durch Experiment ist festgestellt worden, daß die Zahl der gleichzeitig vom Bewußtsein aufnehmbaren einfachen Eindrücke ungefähr 1640 beträgt, daß aber davon nur 612 auf einmal apperzipiert werden. Hinsichtlich des Wesens der A. stehen einander zwei Theorien gegenüber. Nach der einen ist die A., obwohl sich mit ihr das Bewußtsein einer Tätigkeit verbindet, doch im Grund ein ebenso passiver Vorgang wie das einfache Empfinden; der Ausdruck, daß unsre Aufmerksamkeit auf diese oder jene Vorstellung »gerichtet« sei, hat nur einen bildlichen Sinn. Nach der andern, die in Kants Lehre von der transzendentalen A. als einer (verknüpfenden) Funktion des Bewußtseins ihr Vorbild hat, liegt der A. eine wirkliche Tätigkeit des Subjekts zu Grunde, das auf die herantretenden Eindrücke reagiert. Man hat daher die ganze, an Wundt sich anschließende Richtung der Psychologie, die den Begriff der psychischen Tätigkeit festhält, im Gegensatze zur Assoziationspsychologie auch als Apperzeptionspsychologie bezeichnet. Im Sinne der erstern lassen sich alle Erscheinungen des Seelenlebens zuletzt auf Empfindungen zurückführen, die sich nach den mechanischen Gesetzen der Ideenassoziation (s. d.) miteinander verbinden; im Sinne der letztern liefert die Assoziation nur das Rohmaterial, aus dem erst unter Mitwirkung der apperzeptiven Tätigkeit die Vorstellungen und Gedankenreihen gestaltet werden. S. auch Ästhetische Apperzeptionsformen.