[302] Durchsuchungsrecht (Anhalte-, Besichtigungs-, Besuchs-, Untersuchungs-, Visitationsrecht, Jus visitationis, franz. Droit de visite, de recherche, engl. Right of visit, of search), die völkerrechtliche Befugnis kriegführender Mächte, durch ihre Kriegsschiffe Kauffahrteischiffe ihrer eignen oder einer neutralen Flagge anzuhalten, zu besuchen und zu durchsuchen. Der Zweck dieser Maßregel ist die Feststellung der Nationalität der angehaltenen Schiffe (enquête de pavillon) sowie die Ermittelung, ob das betreffende Schiff sich eines Blockadebruches schuldig gemacht habe, oder ob es feindliche Mannschaft oder Kriegskonterbande mit sich führe (vgl. Prise). Gegenüber Kauffahrteischiffen eigner Flagge ist das D. unbeschränkt zugelassen, gegenüber denen neutraler Flagge an gewisse Voraussetzungen und Formalitäten geknüpft, die teils auf der Kriegssitte oder Courtoisie, teils auf Verträgen beruhen. Dem D. unterliegen nicht die von Seeoffizieren einer neutralen Marine befehligten Schiffe neutraler Flagge, noch auch die unter dem Geleit (Konvoi) eines Kriegsschiffes fahrenden und von diesem legitimierten Kauffahrteischiffe. Im allgemeinen wird das D. nach folgenden Grundsätzen ausgeübt: Das Kriegsschiff, das ein Handelsschiff anhalten will, fordert letzteres unter Aufhissen der Flagge durch einen blinden Schuß (coup d'assurance, coup de semonce) zum Halten auf. Daraufhin muß das Handelsschiff seine Flagge ebenfalls ausziehen und aufbrassen oder beidrehen, um den Besuch zu erwarten. Das Kriegsschiff entsendet nunmehr einen Offizier mit der nötigen Mannschaft. Der Offizier begibt sich mit zwei oder drei Mann an Bord des angehaltenen Schiffes, um zunächst die Schiffspapiere zu prüfen (droit de visite). Nur wenn besondere Gründe vorliegen (z. B. Fehlen der Schiffspapiere, Führung einer falschen Flagge), wird von der Visitation zur Durchsuchung des Schiffes (droit de recherche) übergegangen, weshalb man wohl zwischen Visitationsrecht und D. (im engern Sinn) unterscheidet. Ein Schiff, das auf gehörige Aufforderung nicht anhält oder sich der Visitation oder der Durchsuchung widersetzt, kann zwangsweise dazu angehalten werden. Die Gewaltmaßregeln können bis zur Vernichtung des Schiffes gehen. Bei der Durchsuchung ist die Mitwirkung des Kapitäns des angehaltenen Schiffes in Anspruch zu nehmen, eigenmächtiges Handeln und willkürliches Verfahren zu vermeiden. Verweigert der Kapitän jedoch seine Mitwirkung bei der Durchsuchung oder die verlangte Öffnung verschlossener Räumlichkeiten, so setzt er sein Schiff der Aufbringung (s. Aufbringen 2) aus. In Friedenszeiten ist ein D. nur innerhalb der Eigengewässer zulässig, da dem betreffenden Staat auf denselben die Gerichtsbarkeit uneingeschränkt zusteht. Außerdem haben sich zur Unterdrückung des Sklavenhandels teilweise die Seemächte ein solches D. gegenseitig zugestanden (s. Sklaverei). Vgl. Hautefeuille, De droits et des devoirs des nations neutres (3. Aufl., Par. 1868, 3 Bde.); Leroy, La guerre maritime (Brüss. 1900); Perels, Das internationale öffentliche Seerecht der Gegenwart (2. Aufl., Berl. 1903); v. Mirbach, Die völkerrechtlichen Grundsätze des Durchsuchungsrechts zur See (das. 1903).