Seerecht

[268] Seerecht, Inbegriff der auf die Seeschiffahrt bezüglichen Rechtsnormen. Das S. zerfällt, wie das Rechtssystem überhaupt (s. Privatrecht), in öffentliches und Privatrecht. Das öffentliche S. ist entweder S. eines bestimmten Staates, Seestaatsrecht, oder internationales S., Seevölkerrecht. Dem Seestaatsrecht gehören an die Normen über Vermessung, Nationalität, Registrierung, Flaggenrecht der Schiffe etc. Dem Seevölkerrecht die Rechtssätze über Handels- und Schiffahrtsverträge, Neutralität, Blockade, Embargo, Kaperei etc. Das Seeprivatrecht geht fast gänzlich im Seehandelsrecht auf. Im Rechte des Altertums finden sich nur wenige auf den Seeverkehr bezügliche Rechtsinstitute ausgebildet, wie das der Haverei in der sogen. Lex Rhodia de jactu, das des Seedarlehens (Foenus nauticum) u. a. Dagegen ist ein beträchtlicher Teil der Handelsrechtsinstitute des Altertums im Seeverkehr entstanden und später auf den Binnenverkehr ausgedehnt worden. Das S. des Mittelalters ist vorwiegend partikuläres Gewohnheitsrecht, ausgebildet in der Praxis der Seegerichte, und Statutarrecht; einzelne Seerechtssammlungen gewannen jedoch internationale Geltung, so die Urteile des Seegerichtshofes der Insel Oléron (s. d.), das Consolato del mar (Konsulat zur See), etwa 1370 auf Grund einer ältern, bis in die Mitte des 13. Jahrh. zurückreichenden Sammlung in Barcelona entstanden und zunächst im Südwesten Europas, dann auch in Italien, Holland und England verbreitet, endlich das Wisbysche S., teils aus einer flämischen Übersetzung der Charte d'Oléron, teils aus spätern, in Amsterdam festgestellten Seerechtsgrundsätzen bestehend. Von den Statutarrechten sind von Bedeutung die der Städte und Seegilden (curiae maris) von Pisa, Venedig, Genua u. a., dann der skandinavischen und hansischen Städte; eine Zusammenfassung des hanseatischen Rechts erfolgte 1591 und 1614 (»Hanseatisches Seerecht«). Die staatliche Gesetzgebung hat sich des Seerechts zuerst in Frankreich bemächtigt in Ordonnance de la marine von 1681, die in den Code de commerce von 1808 übergegangen ist. 1774 folgte Österreich, dann Preußen in seinem allgemeinen Landrecht. Für das Deutsche Reich wurde das S. geregelt durch Buch 5, nunmehr 4, des Handelsgesetzbuches, das neben einzelnen Sätzen des öffentlichen Seerechts fast ausschließlich Seehandelsrecht enthält, und durch spätere Einzelgesetze. Im Handelsgesetzbuch werden, abgesehen von allgemeinen Bestimmungen, die Reederei (s. Reeder), die Rechtsverhältnisse des Schiffers (s. d.) und der Schiffsmannschaft, das Frachtgeschäft zur Beförderung von Gütern und von Reisenden zur See (s. Frachtgeschäft und Überfahrtsvertrag), die Bodmerei (s. d.), die Haverei (s. d.), die Bergung und Hilfsleistung in Seenot (s. Bergen), die Rechtsverhältnisse der Schiffsgläubiger, die Seeversicherung (s. d.) und die seerechtliche Verjährung behandelt. Das Schiffspfandrecht (s. Pfandrecht, S. 689) wurde dagegen durch die § 1259–1272 des Bürgerlichen Gesetzbuches sowie § 162–171 des Zwangsversteigerungsgesetzes geregelt. Die Verfassung des Deutschen Reiches (Art. 4, Ziffer 7 u. 9; 54) zieht die Organisation eines gemeinsamen Schutzes der deutschen Schiffahrt und ihrer Flagge zur See in den Kompetenzkreis der Reichsgesetzgebung. Von den reichs gesetzlichen Bestimmungen über S. sind hervorzuheben:[268]


Gesetz, betreffend die Untersuchung von Seeunfällen vom 27. Juni 1877.

Gesetz, betreffend die Prisengerichtsbarkeit vom 3. Mai 1884 (s. Prise).

Gesetz, betreffend das Flaggenrecht der Kauffahrteischiffe vom 22. Juni 1899 mit Novelle vom 29. Mai 1900 (s. Flagge, S. 653).

Seeunfallversicherungsgesetz vom 30. Juni 1900. Dazu kommen noch eine große Anzahl von Verordnungen.

Strandungsordnung vom 17. Mai 1874, abgeändert durch Gesetz vom 30. Dez. 1901.

Gesetz, betreffend die Verpflichtung der Kauffahrteischiffe zur Mitnahme heimzuschaffender Seeleute vom 2. Juni 1902.

Gesetz, betreffend die Stellenvermittelung für Seeleute vom 2. Juni 1902.

Seemansordnung, neue Fassung vom 2. Juni 1902, abgeändert durch Gesetz vom 23. März 1903 und 12. Mai 1904 (Ausgaben von Hippel, 2. Aufl., Leipz. 1906; von Perels, Ergänzungsband zu dem unten angeführten Werk »Das allgemeine öffentliche S. im Deutschen Reiche«, Berl. 1902; von Löwe, das. 1903; von Herrmann, das. 1902, dazu die »Ausführungsbestimmungen«, 1905).


Seepolizeirecht enthält der § 145 des Reichsstrafgesetzbuches, der denjenigen mit Geldstrafe bis zu 1500 Mk. bedroht, der die vom Kaiser zur Verhütung des Zusammenstoßes der Schiffe auf See, über das Verhalten der Schiffer nach einem solchen Zusammenstoß oder die in betreff der Not- oder Lotsensignale für Schiffe auf See oder in den Küstengewässern erlassenen Verordnungen (s. Seestraßenrecht) übertritt (sogen. Baratterie, s. d.). In Frankreich ist das S. durch Buch 2 des Code de commerce und einige neuere Gesetze, insbes. das vom 12. Aug. 1885 (die Haftung des Reeders betreffend), das vom 10. Juli 1885 (die Verpfändung von Seeschiffen betreffend), vom 19. Febr. 1889 (Rechte der privilegierten Schiffsgläubiger und Schiffshypotheken) und vom 10. März 1891 (Seeunfallgesetz) geregelt. In Italien gilt der Codice di commercio vom 2. April 1882 und der Codice per la marina mercantile vom 24. Mai 1877, in Belgien das Gesetz vom 21. Aug. 1879, in Griechenland das Gesetz vom 1. Mai 1835, in Rumänien das Gesetz vom 7. Dez. 1863. in Spanien der Codigo de comercio vom 22. Aug. 1885, in Portugal der Codigo comercial vom 28. Juni 1888, in den Niederlanden das Wetboek van Koophandel vom 10. April 1838. In Österreich gilt für das S. nicht das 5. Buch des frühern Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuches, sondern die italienische Übersetzung des 2. Buches des Côde de commerce, wie er im Napoleonischen Königreich Italien galt (vgl. Schreckenthal, Das österreichische öffentliche und Privatseerecht, Berl. 1906). In Rußland gilt noch die Ordnung der Handelsschiffahrt vom 25. Juni und 23. Nov. 1781, zum Teil durch spätere Gesetze abgeändert; in Dänemark gilt das Gesetz vom 1. April 1892, in Schweden vom 12. Juni 1891, in Norwegen vom 20. Juli 1893. In England ist das S. nicht kodifiziert; doch bestehen zahlreiche Einzelgesetze; einzelne Kolonien besitzen Seerechtskodifikationen, z. B. Ostindien, Malta; für die Vereinigten Staaten von Nordamerika gelten (abgesehen von den Statuten einzelner Staaten) die Revised Statutes von 1875, Titel 48–56; in Japan ist das S. durch Buch 5 des Handelsgesetzbuches vom 16. Juni 1899 geregelt.

Die Verkehrsverhältnisse zur See sind zwischen den einzelnen Seestaaten durch völkerrechtliche Abmachungen, namentlich durch zahlreiche Schiffahrtsverträge (s. d.), normiert; auf diesen und auf seerechtlicher Usance beruht das internationale S. Eine zweite Haager Konferenz wird eine Kodifikation des internationalen Seekriegsrechts (s. d.) in Angriff nehmen. Augenblicklich besteht auf dem Gebiete des internationalen Seekriegsrechts nur eine Anzahl Vereinbarungen und Kollektiverklärungen, die zwischen verschiedenen Seemächten getroffen wurden. Hierher gehört in erster Linie die Pariser Deklaration, betr. das Seekriegsrecht vom 16. April 1856; der internationale Vertrag zum Schutze der unterseeischen Telegraphenkabel vom 14. März 1884 mit verschiedenen Zusätzen; die Generalakte der Brüsseler Antisklavereikonferenz nebst Deklaration vom 2. Juli 1890 und das auf der Haager Friedenskonferenz getroffene Abkommen, betr. die Anwendung der Grundsätze der Genfer Konvention (s. d.) auf den Seekrieg vom 29. Juli 1899. Außerdem haben sich auf Anregung eines internationalen Komitees 1898 nationale Privatvereine in einer Reihe von Staaten gebildet. Diese bezwecken, durch wissenschaftliches Zusammenarbeiten und durch Versammlungen (maritime Kongresse) die Herstellung eines internationalen Seerechts zu fördern. Vgl. außer den Lehrbüchern des Handelsrechts Kaltenborn, Grundsätze des praktischen europäischen Seerechts (Berl. 1851, 2 Bde.); Perels, Das internationale öffentliche S. der Gegenwart (2. Aufl., das. 1903); Attlmayr, Das internationale S. (Wien 1903–04, 2 Bde.); Dupuis, Le droit de la guerre maritime (Par. 1899); Hennebicq, Principes de droit maritime comparé (Brüss. 1904 ff.); Lawrence, Principles of International law (4. Aufl., Lond. 1898); Brodmann, Die Seegesetzgebung des Deutschen Reichs (2. Aufl., Berl. 1905); Knitschky, Die Seegesetzgebung des Deutschen Reichs (3. Aufl. von Rudorff, das. 1902); Schaps, Das deutsche S. (das. 1897–1905); R. Wagner, Handbuch des Seerechts (Bd. 1, Leipz. 1884; Bd. 2, von Pappenheim, 1906); Boyens, Das deutsche S. (das. 1897–1901, 2 Bde.); Perels, Handbuch des allgemeinen öffentlichen Seerechts im Deutschen Reiche (Berl. 1884) und Das allgemeine öffentliche S. im Deutschen Reiche. Sammlung der Gesetze und Verordnungen etc. (das. 1901); Ausgaben der Seemannsordnung s. oben. Die Seerechtsquellen bis zum Jahre 1700 sind gesammelt in: J. M. Pardessus, Collection de lois maritimes antérieures au XVIII. siècle (Par. 1828–45, 6 Bde.). Vgl. Travers Twiß, Monumenta juridica (Lond. 1871–1876, 4 Bde.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 18. Leipzig 1909, S. 268-269.
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