[460] Naturwissenschaft (hierzu Porträttafel »Naturforscher I u. II« und Textbeilage: »Die wichtigsten naturwissenschaftlichen Entdeckungen«), diejenige Wissenschaft, welche die Erscheinung der Natur in ihrem vollen Umfang und in allen ihren Teilen, in ihrem gegenwärtigen Zustand und ihrer Entwickelung zum Gegenstande hat. Von der Beobachtung einzelner Tatsachen und Vorgänge ausgehend, sucht sie zur Erkenntnis allgemeiner Gesetze zu gelangen. Das Bedürfnis nach solcher Erkenntnis wurzelt in dem allen logischen Denken zugrunde liegenden Prinzip der Kausalität, das uns veranlaßt, jede beobachtete Erscheinung auf eine Ursache zurückzuführen. Beobachten wir zu wiederholten Malen das regelmäßige Aufeinanderfolgen zweier bestimmter Vorgänge, so schließen wir daraus, daß dieselben miteinander ursächlich verknüpft sind; dieser auf dem Wege der Induktion gewonnene Schluß gewinnt an Sicherheit, wenn es gelingt, zu zeigen, daß ein künstlich abgeänderter Verlauf des ersten, ursächlichen Vorganges auch eine entsprechende Veränderung des zweiten nach sich zieht. Auf diese Weise gelingt die N. zur Ausstellung empirischer, d.h. aus Erfahrungstatsachen abgeleiteter Naturgesetze, welche die ursächliche Bedingtheit gewisser Vorgänge durch bestimmte andre aussprechen. Diese empirischen Gesetze sucht die N. weiter auf allgemeinere Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen, indem sie das demselben Gemeinsame ermittelt und durch Hypothesen (s. d.) miteinander verknüpft. Letztere si uden ihre Bestätigung oder Wiederlegung dadurch, daß man aus dem hypothetischen Gesetz auf dem Wege der Deduktion weitere Folgerungen zieht und prüft, ob diese mit den Tatsachen übereinstimmen. So wurden die empirisch abgeleiteten Fallgesetze und die durch Beobachtung und Berechnung ermittelten Gesetze der Planetenbewegung durch Newtons Gravitationsgesetz auf die allgemeine Anziehung der Körper als gemeinsame (hypothetische) Ursache zurückgeführt. Der Wert solcher allgemeinen Hypothesen beruht darauf, daß sie gestatten, den Inhalt einer Wissenschaft in wenige kurze Sätze zusammenzufassen, aus denen sich die beobachteten Tatsachen als notwendige Folgerungen ergeben. Der große Umfang der N. hat eine weitgehende Arbeitsteilung, eine Spaltung derselben in eine Reihe von Sonderwissenschaften nötig gemacht. Früher teilte man die N. in erklärende und beschreibende und zählte zu den erstern die Physik und Chemie, zu den letztern die Zoologie, Botanik und Mineralogie. Die drei letztern Zweige wurden auch als Naturgeschichte, Naturkunde oder Naturbeschreibung, die erstern als Naturlehre bezeichnet. Alle diese Bezeichnungen treffen jedoch den Kern der Sache nicht, denn kein Zweig der N. beschränkt sich auf bloßes Beschreiben im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Eine Disziplin, die dies täte, würde nicht den Anspruch erheben können, als Wissenschaft zu gelten. Vielmehr suchen auch die fälschlich so genannten »beschreibenden« Naturwissenschaften in der oben angegebenen Weise zur Auffindung empirischer Gesetzmäßigkeiten zu gelangen, die hier wie dort erkennbar werden in »Reihen von Tatsachen, die in einem ursächlichen Verhältnis zueinander stehen«. Betont man aber, daß dieser ursächliche Zusammenhang stets in gewissem Grade hypothetisch bleibt, daß das wirklich empirisch Gegebene überall nur die »Reihen von Tatsachen« sind, so kommt in diesem Sinne kein Zweig der Naturwissenschaften über Beschreibungen hinaus. So bezeichnet es Kirchhoff als die Aufgabe der Mechanik, die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen »vollständig und auf die einfachste Weise zu beschreiben«. Richtiger wird man die Naturwissenschaften einteilen können in allgemeine, welche die Bewegungen und die Gesetze der Stoffverbindungen erforschen, wie sie allenthalben in der Natur zu beobachten sind (Physik, Chemie), und spezielle, die sich auf die Erkundung der an bestimmten Naturkörpern[460] erkennbaren Gesetzmäßigkeiten beschränken (Astronomie, Geologie, Biologie). Auch diese Einzelgebiete haben bereits einen Umfang gewonnen, der die Beherrschung selbst eines einzigen derselben dem einzelnen unmöglich macht. Dies hat zu einer immer weitern Spezialisierung geführt. So ist eigentlich die Astronomie nur ein selbständig gewordener Zweig der Physik, insofern diese es mit der allgemeinen Erforschung der Bewegungsgesetze zu tun hat. Die Geologie umfaßt als besondere Zweige die Geographie, die Geognosie, einschließlich der Mineralogie, die dynamische und die historische Geologie. Die Biologie begreift als Sondergebiete in sich die Zoologie und Botanik, deren jede wiederum in Morphologie und Physiologie und die auf beide sich stützende Systematik oder natürliche Verwandtschaftslehre sich teilt. Ein selbständig gewordenes Sondergebiet der Biologie stellt die Anthropologie samt Ethnologie und Soziologie dar. Auf dem Wege zur Ermittelung allgemeiner Naturgesetze sind die verschiedenen Zweige der N. nicht gleich weit vorgeschritten. Am weitesten sind die Astronomie sowie gewisse Teile der Physik und Chemie gelangt, da diese es mit relativ einfachen Vorgängen zu tun haben und den beiden letztgenannten Disziplinen auch in besonders reichem Maß das Hilfsmittel des Experiments, der künstlichen Herbeiführung, bez. Abänderung der zu studierenden Vorgänge zur Verfügung steht. Es sind daher diese Zweige schon zur Ausstellung einiger sehr umfassender Gesetze gekommen, wie z. B. diejenigen von der Erhaltung der Kraft und von der Unzerstörbarkeit des Stoffes, deren streng mathematische Formulierung ihnen als weitern Vorzug die Möglichkeit bietet, die Richtigkeit und Genauigkeit ihrer Beobachtungen durch Rechnung nachzuprüfen. Dieser relativ weit vorgeschrittene Bestand hat den genannten Disziplinen den Namen der exakten Naturwissenschaften erworben.
Wenn im Gegensatz hierzu die Geologie und die Biologie noch weiter von ihrem Ziel entfernt sind, so liegt dies einmal an der viel größern Mannigfaltigkeit der hier in Betracht kommenden, sich gegenseitig bedingenden, fördernden oder hemmenden Vorgänge, die nicht in so einfacher Weise experimentell voneinander zu sondern sind, dann aber auch daran, daß beide Gebiete auch ein historisches Element einschließen, und daß die in der Vorzeit abgelaufenen Entwickelungsvorgänge sich nicht direkt beobachten, sondern nur aus unvollständigen und lückenhaften Zeugnissen zum Teil erschließen lassen. Immerhin haben auch diese Wissenschaften in neuerer Zeit wesentliche Fortschritte gemacht. Für die Biologie haben sich namentlich zwei neuere Forschungsrichtungen sehr fruchtbar erwiesen: die durch Darwin neubegründete Entwickelungslehre, welche die vielfachen Ähnlichkeiten im Bau und Entwickelung der Lebewesen auf gemeinsame Abstammung zurückführt (s. Darwinismus), und die Entwickelungsmechanik (s. d.), die auch in die Entwickelungsgeschichte (s. d.) das Experiment einführte und teils durch direkte Eingriffe in den Bau des sich entwickelnden Individuums, teils durch Änderung der äußern Bedingungen den Entwickelungsgang künstlich zu beeinflussen und hierdurch die Erkenntnis der den normalen Verlauf der Entwickelung bestimmenden Faktoren zu fördern sucht.
Im Gegensatz zu der allein auf die wissenschaftliche Erforschung des Naturzusammenhanges gerichteten reinen N. bezeichnet man als angewandte N. diejenigen Forschungen, welche die Ergebnisse der N. bestimmten praktischen Zwecken nutzbar machen, wie Medizin, Pharmazie, Land- und Forstwirtschaft, technische Chemie etc. Ihre Grenze findet die N. überall dort, wo ihre Forschungsmethoden versagen. Mit der Vervollkommnung der letztern hat sich auch das ihnen zugängliche Gebiet mehr und mehr erweitert.
Die Geschichte der N. reicht weit in das Altertum zurück, doch entwickelten sich die verschiedenen Zweige derselben in ungleicher Weise. Während astronomische Beobachtungen bereits in den ältesten historisch beglaubigten Zeiten von den orientalischen Völkern angestellt und eine wissenschaftliche Astronomie schon durch Aristarch (260 v. Chr.) begründet wurde, während in den Schriften von Heraklit, Dioskorides, Theophrast, vor allem aber in denen des Aristoteles zahlreiche gute biologische Beobachtungen, bei letzterm auch schon der Versuch einer systematischen Anordnung der Organismen sich finden, bleiben die allgemein naturwissenschaftlichen Vorstellungen, auch wo sie sich, wie die Atomlehre Demokrits, mit neuern Anschauungen berühren, rein spekulativ, da das wichtige Hilfsmittel des Experiments noch nicht angewandt wurde. Fehlt es auch im Altertum nicht an grundlegenden physikalischen Beobachtungen (Archimedes), so kann doch von einer wissenschaftlichen Physik erst seit dem 17. Jahrh., der Zeit Galileis, Huygens' und Newtons, gesprochen werden. Im 16., bez. 17. Jahrh. legten Fracastoro, Agricola und Steno den Grund zu einer wissenschaftlichen Geologie. Wie für alle Wissenschaften die Erfindung des Buchdrucks und die Erweiterung des Gesichtskreises durch die geographischen Entdeckungen des 15. und 16. Jahrh. von mächtigem Einfluß waren, so wurde speziell für die N. die Erfindung des Fernrohres und des Mikroskops (beide um 1600 in Holland zuerst hergestellt) von grundlegender Bedeutung. Für die Entwickelung der Biologie bilden wichtige Marksteine die Forschungen von Grew, Malpighi und Leeuvenhoek (Ende des 17. Jahrh.), die zuerst den feinern Bau der Organismen zu studieren begannen und dabei die Zellen, Spermatozoen und die mikroskopischen Lebewesen entdeckten; die teils zur selben Zeit, teils im folgenden Jahrhundert gemachten Beobachtungen Redis und Spallanzanis, die eine Bresche in die Annahme der Urzeugung (s. d.) legten, die Begründung der Systematik durch Linné (1735), der Entwickelungsgeschichte durch C. F. Wolff (1758), die Zellentheorie durch Treviranus, v. Mohl, Schleiden und Schwann (180839), die Deszendenztheorie durch Lamarck (1809) und Darwin (1859). Zuletzt, um die Wende des 17. und 18. Jahrh., ist die Chemie, namentlich durch die grundlegenden Arbeiten Lavoisiers, zum Rang einer selbständigen Wissenschaft gelangt. Ihre mächtigsten Fortschritte bezeichnen seither die künstliche Darstellung des Harnstoffes durch Wöhler (1828), die Entdeckung der Spektralanalyse durch Bunsen und Kirchhoff (1862) und die Begründung der neuern physikalischen Chemie. Eine Zusammenstellung der wichtigsten naturwissenschaftlichen Entdeckungen auf allen Gebieten gibt die Textbeilage. Die Bildnisse einiger der hervorragendsten Naturforscher zeigen beifolgende Tafeln. Vgl. Dannemann, Grundriß einer Geschichte der Naturwissenschaften (2. Aufl., Leipz. 1902 bis 1903, 2 Bde.); O. Jäger, Grundzüge der Geschichte der Naturwissenschaften (Stuttg. 1897); S. Günther, Geschichte der anorganischen Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert (Berl. 1901); F. C. Müller, Geschichte der organischen Naturwissenschaften[461] im 19. Jahrhundert (Berl. 1901); Darmstädter und R. du Bois Reymond, 4000 Jahre Pionierarbeit der exakten Wissenschaften (das. 1904); »Bibliographie der deutschen naturwissenschaftlichen Literatur« (seit 1901, hrsg. vom deutschen Bureau der internationalen Bibliographie in Berlin).
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