Rhetōren

[873] Rhetōren (griech., »Redner«), bei den Griechen sowohl eigentliche praktische Redner als Theoretiker, Lehrer der Beredsamkeit, bei den Römern ausschließlich die letztern. Begründet wurde die Theorie der Rhetorik in Sizilien und von da um 430 v. Chr., namentlich von Gorgias, nach Athen gebracht, wo sie von diesem, Thrasymachos und andern Sophisten der athenischen Jugend vermittelt wurde. Nach ihnen übten den bedeutendsten Einfluß auf ihre Entwickelung aus Isokrates und Aristoteles: ersterer ist Vollender der eigentlich oratorischen Periode in kunstmäßigem Bau; letzterm verdankt die Rhetorik die wissenschaftliche Gestaltung. Einen Niederschlag des in der voraristotelischen Rhetorik Gangbaren gibt die sogen. »Rhetorik an Alexander« (s. Anaximenes von Lampsakos). Isokrates wie Aristoteles hatten bedeutenden Anhang; so schied sich eine Isokratische, mehr auf formelle stilistische Vollendung sehende, und eine Aristotelische, den Hauptnachdruck auf den sachlichen Gehalt und die Mittel der Überzeugung legende Richtung. Bis Ende des 2. Jahrh. v. Chr. lag dann die Theorie fast ausschließlich in den Händen der Philosophen, namentlich der Peripatetiker und Stoiker; seitdem wandten sich Redner und R. mit Eifer theoretischen Studien zu und suchten mit eklektischer Benutzung der Lehren beider Schulen die Rhetorik in schulmäßige Systeme zu bringen, wie namentlich Hermagoras von Temnos (um 150 v. Chr.), dessen rhetorisches System die Folgezeit ausbaute und verbesserte. Mächtigen Aufschwung nahmen diese Studien in der römischen Zeit, besonders seit dem Wiederaufleben der Sophistik; wir besitzen aus dieser Zeit eine umfängliche, bis ins 5. Jahrh. reichende rhetorische Literatur (s. Griechische Literatur, S. 326). Die Römer lernten die kunstgemäße Beredsamkeit von den Griechen im 2. Jahrh. v. Chr. kennen. Anfangs bestand gegen den Unterricht der griechischen R. ein solches Vorurteil, daß sie 161 v. Chr. ein Senatsbeschluß aus Rom verbannte, und als Anfang des 1. Jahrh. v. Chr. die ersten lateinischen R. auftraten und großen Zulauf fanden, schritten die Zensoren 92 gegen »die der Sitte und Gewohnheit der Vorfahren widerstreitende Neuerung« ein. Doch war dieser Versuch, sich gegen die Zeitströmung zu stemmen, ebenso vergeblich wie der erste. Seit der Augusteischen Zeit galt die rhetorische Ausbildung als höchste Stufe der römischen Erziehung. Über die rhetorische Literatur der Römer s. Römische Literatur. In der Kaiserzeit waren die Rhetorenschulen, deren Übungen freilich überwiegend die Form berücksichtigten, Hauptmittelpunkt des geistigen Lebens; seit Vespasian wurden auch öffentliche, griechische und lateinische, errichtet mit vom Fiskus besoldeten Lehrern. – Die antike Theorie unterschied drei Gattungen von Reden, genus deliberativum (»beratende«, d. h. Staatsreden), judiciale (Gerichtsreden), demonstrativum (Prunkreden); Gegenstand der Schulübungen (declamationes) der Kaiserzeit bildeten besonders die den beiden ersten entsprechenden suasoriae und controversiae. Sammlungen der griechischen R. von Walz (Stuttg. 1833–36, 9 Bde.) und Spengel (Leipz. 1853–56, 3 Bde.; 2. Aufl. 1891 ff.), der spätern lateinischen von Halm (das. 1863). Vgl. Blaß, Die attische Beredsamkeit (2. Aufl., Leipz. 1887–98, 3 Bde.) und Die griechische Beredsamkeit von Alexander bis auf Augustus (Berl. 1865); Ellendt, Eloquentiae romanae usque ad Caesares historia (vor der Ausgabe von Ciceros »Brutus«); Volkmann, Die Rhetorik der Griechen und Römer (3. Aufl. von Hammer, in Müllers »Handbuch der klassischen Altertumswissenschaft«, Münch. 1901); Thiele, Hermagoras (Straßb. 1893); v. Arnim, Leben und Werke des Dion von Prusa (Berl. 1898).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 16. Leipzig 1908, S. 873.
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