Schulreform

[70] Schulreform ist seit etwa einem Menschenalter ein beliebtes Stichwort im öffentlichen Leben Deutschlands geworden. Es ist gewiß richtig, daß man sich nicht gedankenlos mit dem, was auf dem Gebiete des Schulwesens erreicht ist, zufrieden gibt und allem Neuen gegenüber in pedantischer Selbstzufriedenheit abschließt. Allein man soll auch dem bewährten Alten und den erreichten Fortschritten gegenüber nicht unbillig sein. Tatsache ist, daß bei dem vielseitigen Rufe nach S. doch nur geringe Einigkeit in den leitenden Gesichtspunkten und in den positiven Vorschlägen der Schulreformer besteht. Bald verlangt man eine deutsche Nationalschule im eminentern Sinne, bald sollen Moral und Religion ihren herkömmlichen Platz der Ästhetik (Kunsterziehung) einräumen oder das ernste Programm der Lernschule dem Individualismus der wechselnden Stimmung geopfert werden. Wieder andre Stimmen verlangen eine »Einheitsschule«, in der bald nur alle historisch entstandenen und entwickelten höhern Schulen, bald mit diesen auch die allgemeine, etwa gar für alle Kinder der untern Altersstufe gesetzlich vorgeschriebene Volksschule zu einem streng geregelten System zusammengefaßt werden sollen, wobei nur zu oft übersehen wird, daß die Schule dem wirklichen Leben der Gegenwart zu dienen, nicht dieses zu meistern hat. Dem allen gegenüber kann man den berufenen Kreisen der Lehrer und Leiter nur offene Augen für das Gute im Alten wie im Neuen, dem weitern Kreise der Beteiligten nur Festigkeit gegenüber dem Sirenenrufe nach S. wünschen. Etwas mehr Einheit und Klarheit hat das Verlangen nach S. im Gebiete des höhern Schulwesens gewonnen (vgl. Reformschulen). Er ist dort wesentlich gegen die frühere Vorherrschaft der allen Sprachen und das darauf beruhende Monopol des humanistischen Gymnasiums gerichtet. Man verlangt mehr Raum für die realen Interessen der Gegenwart, mehr realistische Anstalten und einen gemeinsamen, unlateinischen Stamm für die in den mittlern und obern Stufen auseinandergehenden Typen der höhern Schulen (Gymnasien, Realgymnasien, Real- und Oberrealschulen). Aber gerade seitdem für derartige Bestrebungen freie Bahn gegeben worden, was in Preußen grundsätzlich durch den königlichen Erlaß vom 26. Nov. 1900 geschah, zeigt sich, daß das alte, von vielen als überaltet verschriene Gymnasium tiefer in der allgemeinen Schätzung wurzelt, als man ahnte, und es trotz Aufhebung seiner alten Privilegien mit den jüngern Schwestern mindestens noch aufnehmen kann. An Reformen im Schulwesen wird heute überall gearbeitet. Die Geschichte der deutschen S. muß jedoch spätern Zeiten zu schreiben vorbehalten bleiben. Die übermäßig angeschwollene Literatur zur S. auch nur in engster Auswahl zur Übersicht zu bringen, ist auf engem Raum unmöglich. Vgl. jedoch Rein, Am Ende der Schulreform? (Langens. 1893; mit Nachweis der ältern Literatur) sowie Reins »Pädagogik in systematischer Darstellung« (das. 1902–06, 2 Bde.) und »Enzyklopädisches Handbuch der Pädagogik« (2. Aufl., das. 1903 ff.) in den betreffenden Kapiteln und Artikeln.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 18. Leipzig 1909, S. 70.
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