[61] Stolze, August Heinrich Wilhelm, Begründer des nach ihm benannten deutschen Stenographiesystems, geb. 20. Mai 1798 in Berlin, gest. daselbst 8. Jan. 1867, besuchte das Joachimsthalsche Gymnasium und war von 181735 im Bureau der Berlinischen Feuerversicherungsgesellschaft angestellt. Seit 1820 beschäftigte er sich mit stenographischen Studien und Versuchen, die durch das Studium der Lautphysiologie und der grammatischen Werke von Karl Ferd. Becker beeinflußt wurden. Nach dem Erscheinen der Gabelsbergerschen Anleitung zur Redezeichenkunst (1834) gab er seine Stelle in der Feuerversicherung auf, versuchte sich bis 1838 als Kaufmann, widmete sich dann aber ganz der Ausarbeitung seiner Stenographie, die er 1840 abschloß und 1841 in dem »Theoretisch-praktischen Lehrbuch der deutschen Stenographie« (Berlin) veröffentlichte. Eine weitere Ausgestaltung fand sie in seinem »Ausführlichen Lehrgang der deutschen Stenographie« (Berl. 1852, 4. Aufl. 1865). Daneben gab er als kürzeres Lehrbuch die »Anleitung zur deutschen Stenographie« heraus (Berl. 1845, 17. Aufl. 1866; später von seinem Sohne Franz Stolze und andern umgearbeitet, 65. Aufl. 1897). 1847 war S. mit seinen Schülern im ersten vereinigten Landtage Preußens auch als Kammerstenograph tätig, wurde entlassen, aber 1848 wieder angestellt und war von 1850 ab, seit 1852 mit fester Anstellung, Vorsteher des Stenographischen Bureaus der preußischen Zweiten Kammer.
Im Gegensatze zu Gabelsberger, der seine Stenographie vorzugsweise als Nachschreibeschrift ausgestaltet hatte, faßte S. mehr die Aufgabe der Stenographie als eines allgemeinen Erleichterungsmittels bei jeder ausgedehnten Schreibtätigkeit ins Auge und legte daher auf die Vollständigkeit und Zuverlässigkeit der Lautbezeichnung besondern Nachdruck. Erst nachdem seine Schrift auch als Kammerstenographie sich bewährt hatte, fügte S. für diesen Zweck weitere Schreibbestimmungen hinzu, indem er die sogen. Fremdwörterlehre ausbildete und die Schriftkürzungen (Sigel und Spezialsigel) vermehrte. Nach Stolzes Tode gingen die unter Leitung der Stolzeschen Prüfungskommission (gegründet 1847; Vorsitzende: bis 1867 W. Stolze, bis 1895 Gustav Michaelis, seitdem Franz Stolze) vorgenommenen Systemreformen von 1868 und 1872 sowie die weitere Vereinfachung von 1888 wieder auf Stolzes ursprüngliches Ziel zurück. Hierdurch entstand die sogen. neustolzesche Schule, während die Anhänger der ältern Schriftform als Altstolzeaner bezeichnet wurden; ein Teil der letztern nahm 1885 und 1890 ebenfalls Vereinfachungen der Schrift vor, sogen. mittelstolzesche Richtung. Ein Kürzungsverfahren für die Zwecke der höhern Praxis gaben für die neustolzesche Schrift Simmerlein (11. Aufl., Berl. 1897), für die altstolzesche Schrift Weigert heraus. Die neustolzesche und mittelstolzesche Schule, von denen die erstere nach einer Statistik vom 30. Juni 1896 im Deutschen Reich und in der Schweiz von 629 Vereinen mit 18,929 Mitgliedern gepflegt wurde, traten 1896 in Einigungsverhandlungen mit der Schreyschen und Veltenschen Stenographieschule, die im August 1897 zur Ausstellung des Einigungssystems Stolze-Schrey (s. d.) führten. Ihm schlossen sich auch fast alle Vereine der genannten Schulen an. Die Stolzesche Prüfungskommission nahm indes das Einigungssystem nicht an, sondern beschloß, an der Stolzeschen Schrift festzuhalten, diese aber mehr als Nachschreibeschrift zu pflegen und zur »Fachstenographie« auszubauen. Diese Systemgestalt (sogen. Stolzesche Fachstenographie), die zum Teil wieder auf altstolzesche Schriftgrundsätze zurückgeht, liegt in Bearbeitungen von Steinbrink und Göpel vor. Die nicht zu Stolze-Schrey übertretenden neustolzeschen Vereine schlossen sich mit den altstolzeschen Vereinen zum »Stolzeschen Stenographenverband« zusammen, der zurzeit (1907) 11 Vereine mit etwa 400 Mitgliedern umfaßt. Daneben vermittelt die »Stenographische Fachschule beim Hause der Abgeordneten« (Leiter: L. Goepel, erster Vorsteher des Stenographenbureaus beim preußischen Abgeordnetenhaus) die Ausbildung in der Stolzeschen Fachstenographie. Schriftproben sowie Weiteres über die Schriftentwickelung auf der Tafel »Stenographie« und der zugehörigen Textbeilage; daselbst auch Näheres über die praktische Verwendung und den Unterricht in der Stolzeschen Stenographie sowie über die Übertragungen der Stolzeschen Stenographie auf fremde Sprachen, um die sich von Deutschen Wilh. Wackernagel durch seine »Grundzüge zu einer lateinischen Stenographie nach Stolzeschen Prinzipien« (Berl. 1858) sowie Michaelis durch seine Übertragungen auf die englische und die romanischen Sprachen besonders verdient gemacht haben. In den Niederlanden (Stolze-Wéry) und Ungarn (Stolze-Fenyvessy) werden diese Übertragungen auch durch Vereine gepflegt.
Vgl. Käding, Stolze-Bibliothek (Berl. 188892, 18 Bde.; eine Biographie Stolzes in Bd. 9 u. 10); Mellien, Wilh. S. (das. 1898); »Wilh. Stolze, Leben und Werk« (anonym, das. 1898); Johnen, Wilhelm S. und die Entwickelung seiner Schrift (das. 1899); Steinbrink, Zur Entstehung des Stolzeschen Systems (»Archiv für Stenographie«, 1885 u. 1886); Müller, Die Organisationsbestrebungen der Stolzeschen Schule (Berl. 1883); Claus, Geschichte der Stolzeschen Schule 18671872 (»Breslauer Stenographische Chronik«, Bresl. 1887); Dreinhöfer, Geschichte des Stenographischen Vereins zu Berlin (1. Heft, Berl. 1894); Bäckler, Bericht über den Verband Stolzescher Stenographenvereine 18911895 (das. 1895); Mitzschke, Museum der Stolzeschen Stenographie (2. Aufl., das. 1877) und Serapeum der Stolzeschen Stenographie (das. 1874, Nachtrag 1876); »Stenographischer Almanach« (seit 1853, das.) u. »Statistisches Jahrbuch über die Verbreitung der Stolzeschen Stenographie« (zuletzt 1897, das.); Steinbrink,[61] Leitfaden für den amtlichen stenographischen Unterricht im Hause der Abgeordneten (Berl. 1898) und Volksstenographie und Fachstenographie (das. 1898); Göpel, Vorschule zur Stolzeschen Fachstenographie (das. 1899). Zur Polemik und Kritik vgl. unter andern: Franz Stolze, Gabelsberger oder S. (Berl. 1864); Eggers, Die Stenographie in den Schulen (das. 1863) und Zur Kritik der deutschen Stenographiesysteme (das. 1865); Faulmann, Gabelsberger und S. (Wien 1889); Mager, Die Stolzesche und die Vereinfachte Stenographie (Berl. 1897). Hauptzeitschriften waren früher das »Archiv für Stenographie« und das »Magazin für Stenographie« sowie das altstolzesche »Zentralblatt«, jetzt: »Der Fachstenograph« (Berl.).