Stenographie

[931] Stenographie (griech., »Engschrift«, hierzu die Tafeln »Stenographie I-IV« mit Textbeilage: »Geschichte und Systeme der Stenographie«), von J. Willis 1602 gebildetes Wort, auch Tachygraphie oder Okygraphie (beides = Schnellschrift, Geschwindschrift), Brachygraphie (Kurzschrift), engl. shorthand (»Kurzhand«), deutsch meist Kurzschrift, ist eine Kunstschrift mit besondern Zeichen und besondern Schreibbestimmungen zum Zweck einer wesentlichen und allgemeinen Schriftkürzung. Durch diese Merkmale unterscheidet sie sich von der gewöhnlichen Schrift (»Volksschrift«, Kurrentschrift) und deren Kürzungsmitteln (Ligaturen, Abbreviaturen, Sigeln etc.) sowie von andern künstlichen Schriften (Geheimschrift etc.). Zwischen der S. und der Kurrentschrift stehen die »kurrentschriftlichen Kurzschriften« mit besondern Zeichen, aber ohne besondere, von der Kurrentschrift abweichende Schreibregeln, und die »gekürzten Kurrentschriften«, die zwar das Alphabet der Kurrentschrift, aber Schreib- und Kürzungsregeln nach Art der S. besitzen. Die S. dient einmal zum Nachschreiben des schnell gesprochenen Wortes (von Verhandlungen, Reden, Predigten, Diktaten), sodann zur Erleichterung und schnellern Erledigung des Schreibgeschäftes (bei privaten Niederschriften und beim Briefwechsel). Entsprechend diesen verschiedenen Zwecken wird von der S. eine geringere oder größere Schriftkürze und Einfachheit (leichte Erlernbarkeit) verlangt; außerdem muß sie deutlich (sicher und leicht wieder lesbar) und geläufig (leicht und bequem schreibbar) sein. Die neuern Systeme haben vielfach verschiedene Formen, sogen. Stufen der Kurzschrift, ausgebildet: eine erste Stufe (Unterstufe, Korrespondenz-, Verkehrs- oder Schulschrift, learner's und corresponding style) und eine darauf fortbauende, mit weitern Kürzungen und Kürzungsregeln arbeitende zweite Stufe (Oberstufe, Debatten-, Parlaments-, Kammer-, Redeschrift, reporting style, degré superieur, Métagraphie u. a.). Für den gewöhnlichen Gebrauch genügt die Kenntnis der ersten Stufe (Gebrauchsschrift), während die Nachschreibeschrift den Zwecken der Fach- und Berufsstenographen dient, die zur Erreichung höherer Leistungen u. a. einer umfassenden Allgemeinbildung bedürfen und meist akademisch gebildet sind. Weitere Stufen (eine Vorstufe oder sogen. Vollschrift ohne oder fast ohne Kürzungen, und eine Zwischenstufe oder sogen. Diktatstenographie zum Nachschreiben von Diktaten) entsprechen kaum allgemeinern Bedürfnissen.

Nach der Form der Zeichen unterscheidet man in der neuern S. »geometrische« und »graphische« (kursive) Systeme. Die geometrischen benutzen die einfachsten geometrischen Elemente (Punkt, Kreis, gerade Linie und Kreisteile in verschiedener Richtung, Länge und Stärke), die graphischen die durchweg nur rechtsschrägen Teilzüge der gewöhnlichen Schreibschrift. Die graphischen Systeme zeichnen sich durch eine regelmäßige Abwechselung zwischen Grundstrich und Bindestrich (Abstrich und Aufstrich) vor den geometrischen Systemen aus und behalten dadurch den Duktus der gewohnten Schrift bei. Dabei ist aber der Bindestrich meist bedeutsam, indem er entweder selbst ein Zeichen darstellt (Vokal oder Konsonant) oder die symbolische Bezeichnung eines Lautes vermittelt. Unter Symbolik versteht die S. die Bezeichnung (Andeutung) eines Lautes durch eine besondere Schreibung oder Änderung (Wandlung) des Zeichens für einen andern (benachbarten) Laut. So bezeichnen viele Stenographiesysteme die inlautenden Vokale durch enge oder weite Verbindung, Höher- oder Tieferstellung, Vergrößerung, schwachen oder starken Druck der Zeichen für die An- und Auslautkonsonanten und ersparen so die buchstäbliche Schreibung der Vokale.

Bei der Verteilung der Zeichen auf die Laute werden den häufiger vorkommenden Lauten die kürzern und geläufigern Zeichen, den oft in Lautverbindungen auftretenden Lauten (z. B. den Vor- und Nachlauten r, l) die verbindungsfähigern Zeichen zugeteilt (Grundsatz der Iteration und Kombination); ähnliche Laute erhalten vielfach ähnliche Zeichen. Auch manche Konsonantenverbindungen werden durch einheitliche Zeichen dargestellt (st, sp u. a.). Neuerdings sucht man die Häufigkeit und die Verbindungsverhältnisse der Laute sowie die Geläufigkeit der Zeichen in exakter Weise zu bestimmen. So beruht Kädings »Häufigkeitswörterbuch der deutschen Sprache« auf der Auszählung von 20 Mill. Silben (10,910,777 Wörter) zusammenhängenden Stoffes. Nicht gesprochene (stumme) Laute bleiben unbezeichnet. Die häufigsten Wörter, Vor- und Endsilben erhalten Kürzungen (Sigel). In der Nachschreibeschrift benutzt man entweder feste Kürzungen (Sigelsystem) oder freie Kürzungen nach Regeln oder auf Grund des Satzzusammenhanges (letzteres die sogen. Satzkürzung).

Die geometrischen Systeme herrschen im Westen Europas (England, Frankreich, Spanien) und den kulturell davon abhängigen Ländern von Amerika und Australien, neuerdings auch in Ostasien und Japan. In den Deutsch sprechenden Ländern (Deutschland, Österreich, [deutsche] Schweiz) sind sie dagegen durch die graphische S. vollständig verdrängt worden. Letztere hat sich auch von Deutschland aus nach dem Norden, Osten und Süden Europas ausgebreitet. Näheres über die Entwickelung der S. und die einzelnen Systeme s. in der Textbeilage.

Neben der Sprachstenographie kennt man die Zahlen- und Ziffernstenographie sowie die musikalische S., die indes wenig angewandt und verbreitet sind. Dagegen scheint der Blindenstenographie und der telegraphischen S. (vgl. auch Stenotelegraph) noch eine Zukunft beschieden zu sein. Zum Ersatz der S. als Nachschreibeschrift bieten sich Stenographiermaschinen (s. d.) an, bisher ohne großen Erfolg.

Literatur: Zeibig, Geschichte und Literatur der Geschwindschreibekunst (2. Aufl., Dresd. 1878; dazu Nachträge 1899); Faulmann, Geschichte und Literatur der S. (Wien 1895); Schramm, Handbuch der stenographischen Literatur (Wolfenbüttel 1905 ff.); Westby-Gibson, The bibliography of Shorthand (Lond. 1887); Havette, Bibliographie de la stenographie française (Par. 1906); Faulmann, Historische Grammatik der S. (Wien 1887); Krieg, Katechismus[931] der S. (3. Aufl., Leipz. 1900); Moser, Geschichte der S. (Bd. 1, das. 1889); Zimmermann, Geschichte der S. (Wien 1897); Specht, Die Schrift und ihre Entwickelung zur modernen S. (Berl. 1906); Pitman, History of shorthand (3. Aufl., Lond. u. Bath 1891); Gitlbauer, Die drei Systeme der griechischen Tachygraphie (Wien 1894), Studien zur griechischen Tachygraphie (Berl. 1903) und Die Überreste griechischer Tachygraphie im Codex Vaticanus graecus 1809 (Wien 1878 u. 1884); Wessely, Ein System altgriechischer Tachygraphie (das. 1895); Rueß, Über griechische Tachygraphie (Neuburg 1882) und Über die Tachygraphie der Römer (Münch. 1879); Lehmann, Die tachygraphischen Abkürzungen in griechischen Handschriften (Leipz. 1880) und Tironisches Psalterium (das. 1885); Kopp, Palaeographia critica (Mannh. 1817, Bd. 1 u. 2); Schmitz, Commentarii Notarum Tironianarum (Leipz. 1893), Miscellanea Tironiana (das. 1896) u. a.; Traube, Die Geschichte der Tironischen Noten (Berl. 1903); Chatelain, Introduction à la lecture des Notes Tironiennes (Par. 1900); Havet, La tachygraphie italienne du X. siècle (das. 1887); Rose, Ars notaria (im »Hermes«, Berl. 1874); Mitzschke, Stephan Roth, ein Geschwindschreiber des Reformationszeitalters (das. 1895); Dewischeit, Georg Rörer (das. 1899) und Shakespeare und die Anfänge der englischen S. (das. 1897); Junge, Beiträge zur ältern Geschichte der S. in Frankreich (im »Archiv für S.«, 1895–98) und Vorgeschichte der S. in Deutschland (Leipz. 1890); Johnen, Die Bahnbrecher deutscher Kurzschrift (Berl. 1896). – Über die Geschichte und Literatur der einzelnen deutschen Systeme s. die besondern Artikel. – Allgemeine Theorie bei Gabelsberger (»Anleitung«, Münch. 1834), Stolze (»Lehrbuch«, Berl. 1841, »Lehrgang«, das. 1852) und Arends (»Leitfaden«, 15. Aufl., das. 1892); von Kunowski, Kurzschrift als Wissenschaft und Kunst (Bd. 1, das. 1895); Mager, Beiträge zur Kurzschriftlehre, I.: Buchstabe und Symbol (das. 1906); Schwarz, Grundriß der Kurzschriftlehre, I.: Begriffslehre (Leipz. 1907); Brauns, Anforderungen an eine Schulkurzschrift (Hamb. 1888); Käding, Häufigkeitswörterbuch der deutschen Sprache (Berl. 1898) und Über Geläufigkeitsuntersuchungen (2 Tle., das. 1898 u. 1899); Bein und Schönherr, Bestimmung der Geläufigkeit der Zeichen (das. 1901). – Kramfall, Die S. im Dienst der Parlamente (Wien 1891); Wertheimer, Die S. in der Volkswirtschaft (Berl. 1906); Henke, Schulreform und S. (das. 1899); Saar, Die S. in der akademisch gebildeten Welt (Leipz. 1899); Deutscher Stenographenkalender (1891 begründet von Mertens, seit 1907 hrsg. von Hennings, Berl.); »Jahrbuch der Schule Gabelsberger« (50. Jahrg., Wolfenb. 1907), der Schule Stolze-Schrey (8. Jahrg., Berl. 1907) und andrer Stenographieschulen. Wissenschaftlich gehaltene deutsche stenographische Zeitschriften sind: das »Archiv für S., Monatshefte für die wissenschaftliche Pflege der Kurzschrift aller Zeiten und aller Länder« (58. Jahrgang, Berl. 1907), das »Korrespondenzblatt, amtliche Zeitschrift des Königlichen Stenographischen Landesamtes in Dresden« (52. Jahrg., Dresd. u. Leipz. 1907) und die »Stenographischen Beiträge«, Zeitschrift für Anhänger aller Systeme (6. Jahrg., Aidlingen [Württemberg] 1907). Die Interessen der Berufsstenographen vertreten die Zeitschriften: »Stenographische Praxis« (Berl. 1907 ff.) und »Der Berufsstenograph« (das. 1907 ff.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 18. Leipzig 1909, S. 931-932.
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