Vergilĭus

[72] Vergilĭus (Virgilius), Publius Maro, berühmter röm. Dichter, geb. 15. Okt. 70 v. Chr. in Andes bei Mantua, wo sein Vater ein Landgütchen besaß, gest. 21. Sept. 19 in Brundisium, trieb rhetorische und philosophische Studien in Cremona, Mailand und Rom, kehrte aber, durch Kränklichkeit und Schüchternheit an politischer und sachwalterischer Tätigkeit verhindert, nach Andes zurück, um auf seinem Landgut der Dichtkunst zu leben. Durch Oktavians Ackerverteilungen an die Veteranen 40 von seinem Gute vertrieben, erhielt er ein andres als Ersatz durch Jürsprache des Mäcenas, dem ihn Asinius Pollio empfohlen hatte. Dieser hatte ihn 43 als Verwalter der Gallia transpadana kennen gelernt und ihm die erste Anregung zu seinen Eklogen gegeben, durch die er seinen Dichterruf begründete. Durch die Freigebigkeit hoher Freunde, namentlich des Oktavian und Mäcenas, in eine sorgenfreie Lage versetzt, lebte er abwechselnd in Rom, auf seinem Landgut bei Nola, meist jedoch seiner Gesundheit wegen in Neapel. Hier vollendete er 30 v. Chr. nach siebenjähriger Arbeit seine Mäcenas gewidmeten »Georgica«, um sofort das dem Oktavian schon früher versprochene Epos, die »Aeneïs«, zu beginnen. Nach elfjähriger ununterbrochener Arbeit reiste er nach Griechenland, um dort seinem Werke die letzte Feile zu geben; in Athen traf er mit Oktavian zusammen, der ihn wegen seiner zunehmenden Kränklichkeit zur gemeinsamen Rückkehr bewog. Noch auf der Reise starb er. Seinem Wunsche gemäß wurde er bei Neapel beerdigt, wo man noch jetzt sein vermeintliches Grab am Posilipo zeigt. Als Mensch zeichnete sich V. durch harmlosen, kindlichen Sinn aus. Stille, keusche Würde und milder Ernst sind über seine Dichtungen verbreitet; am meisten gelangen ihm idyllische Schilderungen. Er ist lein dichterisches Genie, aber ein seines lyrisches Talent. Seine Hauptwerke sind: 1) die 10 »Bucolica« oder »Eclogae«, 41–39 verfaßt, im Stil der Idylle Theokrits, aber ohne deren Natürlichkeit, zumal die Schilderungen des Land- und Hirtenlebens durchsetzt sind mit Beziehungen auf Zeitverhältnisse, eigne Schicksale und angesehene Personen, denen sich der Dichter durch diese Huldigung empfehlen oder dankbar beweisen wollte (hrsg. mit Übersetzung und Kommentar von J. H. Voß, »Virgils ländliche Gedichte«, Altona 1797, 2. Aufl. 1830, Bd. 1–2; Glaser, Halle 1876; Page, Lond. 1893); 2) die »Georgica«, ein didaktisches Gedicht in vier Büchern, Ackerbau, Baum-, Vieh- und Bienenzucht behandelnd, durch Reinheit und Wohllaut der Sprache und des Versbaues das vollendetste Erzeugnis der römischen Kunstpoesie (hrsg. von J. H. Voß in »Virgils ländlichen Gedichten«, s. oben, Bd. 3–4; Glaser, Halle 1872; Page, Lond. 1889); 3) die »Aeneïs«, ein Epos in 12 Büchern, nach des Dichters Tode von seinen Freunden Varius und Tucca, denen er es unter der Bedingung, nichts davon zu veröffentlichen, vermacht hatte. auf Augustus' Befehl herausgegeben, an künstlerischer Vollendung und Originalität weit hinter den »Georgica« zurückstehend, aber von den Römern als Nationalepos betrachtet und den Homerischen Dichtungen gleichgestellt (hrsg. von Peerlkamp, Leid. 1843, 2 Bde.; Brosin-Heitkamp, Gotha 1890; beste Einführung in die Sprache durch E. Nordens »Aeneïs. Buch VI, Leipz. 1903). Außerdem tragen seinen Namen, jedoch mit zweifelhaftem Recht, eine Anzahl kleinerer Gedichte, wie Culex«, »Ciris«, »Moretum«, »Copa« und »Catalecta« (s. d.; außer in den Ausgaben des V. hrsg. von Baehrens, »Poetae latini minores«, Bd. 2, Leipz. 1880). Trotz manches schon im Altertum erhobenen Tadels ist V. zu allen Zeiten der gelesenste, bewundertste und populärste Dichter seines Volkes geblieben, und kein andrer Schriftsteller hat solchen Einfluß auf die weitere Entwickelung der römischen Literatur und Sprache gehabt. Wie bei den Griechen Homers Gedichte, so wurden seine Werke, besonders die »Aeneïs«, bis in die spätesten Zeiten zum Schulunterricht und als Grundlage der Schulgrammatik benutzt, von den Dichtern nachgeahmt, später sogar zur Herstellung neuer Gedichte verschiedensten Inhalts aus einzelnen Versen und Versteilen (s. Cento) verwertet und von den berühmtesten Gelehrten zum Gegenstand sprachlicher und sachlicher Studien gemacht. Reste dieser gelehrten Tätigkeit haben sich in den Scholiensammlungen erhalten, namentlich in dem reichhaltigen Kommentar des Servius Honoratus (s. d.). (Vgl. Georgii, Die antike Äneaskritik, Stuttg. 1891.) Wie großes Ansehen V. im Mittelalter genoß, wo ihn der Volksglaube zu einem Zauberer machte (s. den folgenden Artikel), beweist auch, daß ihn Dante in seiner »Göttlichen Komödie« zum Führer in der Unterwelt nimmt. Auch Tasso und Camões schließen sich an V. an, und bei den Franzosen war der Begriff des Epos der des Vergilischen. Von den zahlreichen Gesamtausgaben sind hervorzuheben: die von Heyne (Leipz. 1767–75, 4 Bde.; 4. Aufl. von Wagner, das. 1830–41, 5 Bde.) und Ribbeck (das. 1859–68, 5 Bde., kritische Hauptausgabe; 2. Aufl., das. 1894–95, 4 Bde.); von den Hand- und Schulausgaben: Haupt (2. Aufl., das. 1873), Ladewig-Schaper-Deuticke (Berl., 3 Bde., zum Teil[72] schon 12. Aufl.), Kappes (Leipz., zum Teil schon 5. Aufl.). Neben der Übersetzung sämtlicher Gedichte von J. H. Voß (2. Aufl., Braunschw. 1821, 3 Bde.) sind die von Binder (Stuttg. 1869 ff., 3 Bde.) und von Osiander und Hertzberg (das. 1869) hervorzuheben. Vgl. Tissot, Études sur Virgile (2. Aufl., Par. 1841, 2 Bde.); Sainte-Beuve, Étude sur Virgile (2. Aufl., das. 1870); Plüß, Vergil und die epische Kunst (Leipz. 1884); Heinze, Virgils epische Technik (das. 1903); Skutsch, Aus Vergils Frühzeit (das. 1901–06, 2 Tle.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 72-73.
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