Kirchengeschichte

[44] Kirchengeschichte, die wissenschaftliche Darstellung der Entstehung und Entwickelung der christlichen Kirche. Sie zerfällt nach dem zu behandelnden Stoff in eine äußere, welche die Ausbreitung der Kirche und deren Verhältnis zum Staat behandelt, und eine[44] innere, welche die Kirchenlehre, den Kultus, die Kirchenverfassung und das kirchliche Leben berücksichtigt. Hinsichtlich ihrer Zeitepochen teilt man die K. in alte, mittlere und neuere. Die Grenzscheide zwischen der alten und mittlern Geschichte der Kirche ist im allgemeinen zu bezeichnen durch den Übergang des Schwerpunktes der Entwickelung von der alten klassisch gebildeten Welt auf die neuen Völkerströme germanischer oder slawischer Abstammung. Den Anfangspunkt der neuern K. bezeichnet die Reformation, an deren Stelle die neuern katholischen Kirchengeschichtschreiber den Humanismus oder die Entdeckung Amerikas setzen. Will man diese Zeitalter wieder in Perioden abteilen, so bietet sich ungesucht je eine Zweiteilung dar: für die alte Zeit durch den vollendeten Sieg des Christentums über das griechische Heidentum unter Konstantin d. Gr., für die mittlere durch den Höhepunkt der Papstgewalt unter Innozenz III. und für die neuere Zeit durch die reichsgesetzliche Anerkennung und Feststellung des Protestantismus im Westfälischen Frieden. Die Geschichte der Gründung des Christentums durch Christus und die Apostel pflegt man als Leben Jesu und Geschichte des apostolischen Zeitalters selbständig zu behandeln. Der geschichtlichen Darstellung aller dieser Zeitalter wird aber vorangehen müssen die Vorgeschichte der christlichen Kirche, welche die alte Welt in ihren Beziehungen zum entstehenden Christentum zum Verständnis zu bringen hat (s. Kirche II: Geschichtliche Entwickelung).

Die Quellen der K. zerfallen in zwei Hauptgruppen: 1) Quellen, die selbst ein Stück Geschichte sind: a) Urkunden, z. B. die Dekretalen, Konstitutionen, Bullen, Breven der Päpste, die Hirtenbriefe der Bischöfe, die Akten (Kanones und Dogmata) der Kirchenversammlungen, die auf kirchliche Angelegenheiten bezüglichen Staatsgesetze (Kapitularien), Friedensschlüsse, Reichstagsakten, ferner die Briefe der geistlichen oder weltlichen Persönlichkeiten, welche die kirchliche Entwickelung beeinflußt haben, schließlich auf dem Gebiete des Dogmas, des Kultus und der kirchlichen Sitte die Symbole, die Schriften der Kirchenlehrer, Predigten, Liturgien, Agenden, Kirchenordnungen, Ordnungsregeln etc.; b) kirchliche Gebäude, Geräte, Gemälde, Skulpturen etc. 2) Quellen, die Geschichte überliefern: a) Quellen, die, indem sie praktische Ziele in der Kirche verfolgen, unabsichtlich Geschichte überliefern, wie z. B. Kalendarien, Martyrologien und Nekrologien; b) Quellen, die absichtlich Geschichte in irgend welcher Form überliefern wollen, z. B. Legenden, Annalen, Chroniken etc.

Der älteste Kirchengeschichtschreiber, dessen Werk wir haben, ist Eusebios von Cäsarea (s. d.), der um 325 schrieb. An ihn schließen sich als Fortsetzer in griechischer Sprache an: Sokrates (bis 439), Sozomenos (bis 423), Theodoretos (bis 428), Philostorgios (bis 425), Theodoros (bis 527) und Evagrios (bis 594). In der lateinischen Kirche verfaßte der gallische Presbyter Sulpicius Severus seine »Historia sacra« (bis 400); Rufinus (s. d.) übersetzte die K. des Eusebios und setzte sie bis 395 fort; Paulus Orosius (s. d.) verfaßte »Historiarum libri VIII«, die auch die K. bis 416 enthalten; Cassiodorus (s. d.) faßte in seiner »Historia tripartita« die Werke des Sokrates, Sozomenos und Theodoretos in ein Ganzes zusammen; dieses Werk war für das Mittelalter die Hauptquelle kirchenhistorischer Kenntnis. Von Hieronymus (s. d.) wurde die bis 325 reichende Chronik des Eusebios von Cäsarea übersetzt und bis 378 fortgesetzt; an ihn schlossen sich wieder die Chroniken des Prosper von Aquitanien, Idacius und Marcellinus an. Im Mittelalter wurde vornehmlich der unerschöpfliche Vorrat von Heiligengeschichten und Legenden zusammengetragen; Beiträge zur K. von größerm Wert lieferten die Annalisten und Chronikenschreiber. In der abendländischen Kirche sind zu nennen. Gregor von Tours (s. d.), Beda Venerabilis (s. d.), Haymo, Bischof von Halberstadt, Anastasius von Rom (s. d. 2) und Adam von Bremen (s. d.). Vielfach fand die Papstgeschichte Behandlung von seiten der Kardinäle Petrus Pisanus, Pandulf und Boso (alle im 12. Jahrh.); die »Chronica summorum pontificum imperatorumque« des Martinus Polonus (gest. 1279) war, obwohl eine ganz oberflächliche Kompilation, das verbreitetste Geschichtsbuch des Mittelalters. Den gleichen Zweck, die Kaisergeschichte sowie die Papstgeschichte dem Gregorianischen Papalsystem gemäß darzustellen, verfolgt der Dominikaner Tolomeo von Lucca (Ptolemäus de Fiadonibus, gest. 1327) in seinen »24 Büchern der K.« bis 1313. Alle diese Schriftsteller wie auch die Verfasser der zahllosen Annalenwerke haben keinen Begriff von Entwickelung und geschichtlichem Werden. Die Kirche ist ihnen etwas schlechthin Göttliches, von Anfang an Fertiges; nur ihre äußere Gestalt wechselt, und das Dogma wächst quantitativ.

Mit der Reformation, die zu ihrer Begründung und Rechtfertigung der Geschichte nicht weniger als der biblischen Schriften bedurfte, wurde der Geist eigentlicher kritischer Forschung und wissenschaftlicher Behandlung der K. geweckt und belebt. So brachte ein Verein lutherischer Theologen, an deren Spitze Matthias Flacius (s. d.) stand, ein großartiges kirchenhistorisches Werk in 13 Folianten zustande, die sogen. Magdeburgischen Zenturien (1559–74), die allerdings das Unmögliche versuchten, das lutherische Dogma in die Zeit der Kirchenväter zu verpflanzen, im übrigen aber das kirchenhistorische Material vervollständigten und mit scharfer Kritik die Gewebe kurialistischer Geschichtsfälschung zerstörten. Ihnen stellte der katholische Theolog Cäsar Baronius (s. d.) in seinen Annalen ein durch Mitteilung unbekannter, aus dem Archiv des Vatikans ausgewählter Urkunden wichtiges Werk entgegen. Den Zenturien ähnliche Parteischriften lieferten für die reformierte Kirche J. H. Hottinger (s. d. 1), Friedrich Spanheim (s. d.), Samuel und Jacques Basnage (s. d.). Die gelehrten Mönchsorden in Frankreich lieferten riesenhafte Materialiensammlungen, so der Dominikaner Alexander Natalis (Par. 1677–86, 24 Bde.), an den sich Claude Fleury (s. d. 1), Bossuet (s. d.) und der Jansenist Tillemont (s. d.) anreihen. Von den neuern französischen Bearbeitungen der allgemeinen K. sind besonders zu erwähnen: Henrion, Histoire ecclésiastique depuis la création jusqu'au pontificat de Pie IX (hrsg. von Migne, Par. 1852 ff., 25 Bde.), und Rohrbacher, Histoire universelle de l'Eglise catholique (das. 1842–48 u. ö., 29 Bde.; deutsche Bearbeitung, Münster 1850 ff.).

Nach dem Vorgang der Zenturien und des Auszugs daraus von Lukas Osiander begnügte man sich lange in der protestantischen Kirche, die K. nur zu polemischen Zwecken auszubeuten oder sie in trockene Register von Begebenheiten, Zahlen und Namen zu verwandeln. Erst Georg Calixtus (s. d.) wies in einer Reihe von Abhandlungen auf das wissenschaftliche Interesse einer unbefangenen Erforschung der Tatsachen hin, und Gottfried Arnold (s. d. 1) drehte[45] die bisherige dogmatische Tendenz der Geschichtsbehandlung um, indem er allenthalben der Kirche gegenüber das Recht der Ketzer und Irrlehrer verfocht. Natürlich rief diese pietistische Geschichtsbetrachtung eine Menge Gegner in die Schranken, unter denen WeismannIntroductio in memorabilia eccl.«, Tübing. 1718, 2 Bde.), die beiden Walch (s. d.) und Siegm. Jak. Baumgarten (s. d. 2) die namhaftesten sind. Auf einen wirklich objektiven Standpunkt, den man als eine Versöhnung des orthodoxen und pietistischen Gegensatzes fassen kann, hat zuerst Johann Lorenz v. Mosheim (s. d.) die K. erhoben, während Semler (s. d.) planlos und schwerfällig, aber als eigentlicher Vater der Quellenkritik schrieb. Auf dem hierdurch gewonnenen Standpunkt lieferte Johann Matthias Schröckh (s. d.) ein kirchengeschichtliches Riesenwerk. Die mit ihm beginnende pragmatische Kirchengeschichtschreibung, die sich nicht mit der Aneinanderreihung der Tatsachen begnügt, sondern deren Werden aus den Motiven der Handelnden zu erklären sucht, fand einen weitern Vertreter an L. T. Spittler (s. d.); H. Ph. K. Henke (s. d. 1) gab eine energische Kritik der Tatsachen, sah jedoch in der K. eigentlich nur eine Geschichte religiöser Verirrungen; Stäudlin war in seiner »Universalgeschichte der Kirche« (5. Aufl., Hannov. 1833) in Gefahr, den objektiv historischen Standpunkt einem allzu subjektiven Pragmatismus zu opfern, während G. J. Planck (s. d.) in Göttingen durch die Befolgung der pragmatischen Methode ein tieferes Verständnis des Entwickelungsganges der neuern K. ermöglichte. Von der pragmatischen Geschichtsauffassung sich abwendend, wollte eine andre Richtung die Tatsachen feststellen und ohne subjektive Beimischung zur Darstellung bringen; hierher gehören: J. Ernst Christian Schmidt (»Handbuch der christlichen K.«, Gießen 1801–20, 6 Bde.; 2. Aufl., 1.–4. Bd., 1825 bis 1827; fortgesetzt von F. W. Rettberg, 7. Bd., das. 1834) und Gieseler (s. d.), dessen kurzgefaßtes, aber dennoch durch Mitteilung der wesentlichsten Quellenauszüge umfangreiches Werk ein Muster besonnener wissenschaftlicher Forschung ist. In steiferer Form, aber mit gleich umfassender Gründlichkeit wandelt in seinen Fußstapfen Niedner (s. d.). Als der eigentliche Vater der neuern protestantischen K. gilt aber Neander (s. d.). Seine Geschichtsbetrachtung, die vielfach mehr erbaulicher als objektiv wissenschaftlicher Art ist, betont im Gegensatz zum Pragmatismus die innere Entwickelung der Kirche in Dogma, Kultus und Sitte. Den milden, irenischen Geist Neanders atmet die K. seines Schülers K. R. Hagenbach (s. d. 2), ebenso die Werke des französischen Schweizers Chastel und des Deutsch-Amerikaners Schaff (s. d.). An Neander und Gieseler schließen sich an die auf dem Gebiete der Kirchenverfassung und des kirchlichen Lebens neue Gesichtspunkte eröffnenden Vorlesungen Richard Rothes (s. d.) über K. Eigne Wege schlägt die konfessionelle Kirchengeschichtschreibung ein. Vertreter des orthodoxen Luthertums sind Guericke, H. Schmid, Lindner und Kurtz (s. diese Artikel). Den reformierten Standpunkt vertritt J. J. Herzog (s. d. 1) und noch entschiedener als er Ebrard (s. d.). Im Gegensatz zu der einreißenden Vermengung theologisch-religiöser und wissenschaftlicher Gesichtspunkte bietet K. v. Hase (s. d. 2) eine objektiv besonnene, geistreiche und frische Darstellung, die freilich zum Verständnis ihrer zahlreichen Andeutungen schon eine gewisse Vertrautheit mit dem Stoffe voraussetzt. Eine neue Epoche der Kirchengeschichtschreibung datiert von der Tübinger Schute, auch hier geführt von F. Ch. Baur (s. d. 1), der den Entwickelungsgang der christlichen Idee in großartigen, nur das Allgemeine zu sehr auf Kosten des Individuellen hervorhebenden Zügen beleuchtet hat. Neue Anregungen brachte in jüngster Zeit K. Müller (s. d.). Einen geistreichen Überblick bot als wohlunterrichteter Laie R. Sohm in seiner »K. im Grundriß« (12. Aufl., Leipz. 1901), als formgewandter Fachmann Hans v. Schubert in den »Grundzügen der K.« (2. Aufl., Tübing. 1904). Für einen größern Leserkreis sind auch um ihrer Illustrationen willen bestimmt die »K. für das christliche Haus« von Baum und Geyer (3. Aufl., Münch. 1902) und die »Illustrierte Geschichte der katholischen Kirche« von Kirsch und Luksch (das. 1903 ff.). Den Stand der Forschung entnimmt man am besten aus den Lehrbüchern der K. von J. H. Kurtz (13. Aufl., bearbeitet von Bonwetsch und Tschackert, Leipz. 1899, 2 Bde.) und W. Möller (in 2. u. 3. Aufl. neu bearbeitet von H. v. Schubert und G. Kawerau, Freib. u. Tübing. 1894–1902, 3 Bde). Eine »Zeitschrift für K.« wird von Brieger und Beß (Gotha 1876 ff.) herausgegeben, eine »Revue d'Histoire ecclésiastique« von Cauchie und Ladeuze (Löwen 1900 ff.). Vgl. auch Weingarten, Zeittafeln zur K. (6. Aufl., bearbeitet von Arnold, Leipz. 1905), und die unserm Art. »Kirche« (S. 33) beigegebene »Zeittafel der Kirchengeschichte«.

Auch in der katholischen Kirche haben sich neuerdings verschiedene Geistesrichtungen bei dem Ausbau der K. beteiligt und zwar sowohl vom modern-spekulativen als vom ultramontanen Standpunkt aus. Ohne Schroffheit, aber auch ohne Kritik vertritt die ultramontane Geschichtschreibung Stolberg (s. d.); eine durch ihre milde und tiefe Auffassung sowie geschmackvolle Darstellung ausgezeichnete K. lieferte Katerkamp (Münst. 1819–34, 5 Bde.). Immer mehr brach sich auch hier eine wissenschaftlichere, von den Resultaten protestantischer Forschung nicht unbeeinflußte Richtung Bahn, als deren hauptsächliche Vertreter gelten: J. J. Ritter (»Handbuch der K.«, 6. Aufl., Elberf. u. Bonn 1862, 2 Bde.), Locherer (»Geschichte der christlichen Religion und Kirche«, Ravensb. 1824–34, 9 Bde.), Döllinger, Möhler, Alzog, Fr. X. Funk, Fr. X Kraus, J. Hergenröther und Heinr. Brück (s. diese Artikel.). Vgl. Baur, Die Epochen der kirchlichen Geschichtschreibung (Tübing. 1852); Bratke, Wegweiser zur Quellen- und Literaturkunde der K. (Gotha 1890).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 11. Leipzig 1907, S. 44-46.
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