Lehrgedicht

[233] Lehrgedicht (Didaktisches Gedicht), Gedicht, bei welchem der eigentliche Zweck ist, über irgend eine Wahrheit zu belehren, aber nicht so wie der Prosaiker thut, sondern um sie zu versinnlichen u. als Gegenstand des Gefühls zu behandeln, um ihr mehr Anschaulichkeit u. Wirksamkeit zu geben. Die Didaktische Poesie im weitesten Sinne erdichtet die Begriffe nicht, sondern bringt nur das, was in die Sphäre des Vorstellungsvermögens gehört, in die Sphäre des Gefühls u. erhebt es durch die ästhetische Form zu einem Bilde für die Phantasie. Um aber allgemeine Wahrheiten poetisch darzustellen, trägt sie solche nicht als ein vorhandenes System vor, sondern als eben in der Seele des Dichters werdend u. aus seinem Innern hervorgehend u. schildert dieselbe mit möglich höchster Versinnlichung, Anschaulichkeit u. Lebendigkeit, so daß das Gefühl der Wahrheit erweckt wird. Der Stoff muß freilich einer poetischen Darstellung fähig sein, u. je höher er über den Kreis sinnlicher Wahrnehmung hinaus geht, desto geeigneter ist er für das L., so die Wahrheiten der Religion, welche das höchste poetische Leben in sich tragen, z.B. das Buch Hiob. Dem Stoff nach theilt man das L. in das philosophische, welches theoretische od. praktische Wahrheiten darstellt, u. scientivische (artistische), welches jeden wissenschaftlichen u. ästhetischen Gegenstand der menschlichen Erkenntniß behandelt, so bald derselbe an sich einer höhern Versinnlichung fähig ist, z.B. die Natur der Dinge (von Lucretius), der Landbau (von Virgilius), der Frühling (von Kleist), die Alpen (von Haller), die Dichtkunst (von Horatius) etc. Der Darstellung nach ist das L. entweder allegorisch od. didaktisch im engern Sinne, je nachdem die Lehrpoesie die Wahrheiten unter einer sinnbildlichen Einkleidung varstellt od. nicht. Zu der allegorisch-didaktischen Poesie gehören die Äsopische Fabel, die Parabel, die Allegorie (s.d.), zur eigentlichen didaktischen Poesie die Gnomische Poesie u. das eigentliche L., od. die poetische Darstellung zusammenhängender Wahrheiten, welche sich auf ein gemeinschaftliches Ziel hinführen lassen. Auch dieses theilt man in das philosophische od. höhere, welches den Verstand, in der Aufsuchung der allgemeinen Principien, durch welche Welt u. Dasein überhaupt als ein Ganzes begreiflich wird, darstellt, u. in das scientivische od. niedrige, welches sich mit der Darstellung eines Systems von Regeln über eine Kunst od. Wissenschaft, beschäftigt. Für beide Arten des L-s ist das schicklichste Sylbenmaß der heroische Hexameter u., bes. für das niedere L., das epistolarische Sylbenmaß. Die Leistungen der verschiedenen Literaturen im L., s. die einzelnen Nationalliteraturen.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 10. Altenburg 1860, S. 233.
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