Offenbarung

[226] Offenbarung (lat. Revelatio, gr. Apokalypsis), jede Enthüllung Gottes zur Belehrung der Menschen von göttlichen u. unsichtbaren Dingen. Solche Belehrung geschieht entweder mittelbar durch die Vernunft, durch die Natur u. durch die Geschichte, dies heißt natürliche O.; od. unmittelbar durch Wunder, Weissagungen u. Inspiration, letztere nennt man auch O im engeren Sinne, außerordentliche od. übernatürliche O. Sofern die O. an alle Menschen ergeht, heißt sie allgemeine O., u. dies ist die natürliche O.; od. sofern einzelne Männer, wie Propheten od. Apostel, die Vermittler der O. sind, heißt sie individuelle O. Die Lehre von der O. gehört in die Einleitung zur Dogmatik. Wie im Alterthum überhaupt alles Große u. Bedeutende dem Wirken eines höheren, göttlichen Geistes zugeschrieben wird, so war dies auch bei den Hebräern der Fall, u. sie sprechen deshalb von O-en durch das Erscheinen Gottes selbst (Theophanie), durch Engel, durch himmlische Stimmen (Bath Kol), durch. Träume, durch Begeisterung, vorzüglich aber durch den Heiligen Geist (s.d. u. Inspiration 2), von welchem man bes. die Propheten geleitet glaubte). Dergleichen O-en wurden[226] den Patriarchen, Moses u. den Propheten zu Theil, sie waren Alle, soweit sie die Religion betreffen, sehr einfach u. gingen stufenweise von dem Glauben an Gott, den allmächtigen Schöpfer, von dem demselben schuldigen Gehorsam, von dem Menschen als Ebenbild Gottes zur Lehre von der Erhaltung u. Regierung, von der Vergeltung u. von dem Messias über. Die letztere bildet den Hauptpunkt in den O-en der Propheten. Im Neuen Testament ist es Christus, welcher diese O-en von Gott durch den Heiligen Geist empfangen hat, u. diese O. wird ausdrücklich als die letzte bezeichnet, so daß die Mittheilung des Heiligen Geistes an die Apostel nicht als eine neue O., sondern nur als ein Mittel, die bereits vorhandenen zu erläutern u. zu befestigen, dargestellt wird. Diese Lehre von der O., welche bes. seit Augustinus als eine übernatürliche u. wunderbare von der natürlichen u. gewöhnlichen streng geschieden wurde, erhielt nun in den Symbolischen Büchern eine ausführliche Behandlung. Hiernach konnte der Mensch vor dem Sündenfalle durch die Werke der Natur u. durch das inwohnende Sittengesetz mit seiner Vernunft zur Erkenntniß Gottes kommen; allein wegen dieses Sündenfalles theilte Gott außerordentliche, übernatürliche O-en mit u. bereitete dadurch auch seinen Erlösungsrathschluß durch Jesum Christum vor, so daß sich im Christenthum selbst die höchste O. vollendete. Damit stimmen die Reformirte u. Katholische Kirche überein, obschon die Katholische Kirche bei der Lehre von dem Codex der O., der Heiligen Schrift, die Lehre von der kirchlichen Tradition geltend macht. Nur die Quäker weichen von dem symbolischen Lehrbegriff ab, indem sie von einer innerlichen, unmittelbaren O. reden, wodurch erst in jedem Menschen Christus die rechte Gestalt gewinne. Nach der Kirchenlehre hat die Vernunft über die O. keine Entscheidung, weil sie durch die Erbsünde die Kraft dazu verloren hat. Die nachfolgenden Dogmatiker, bes. Calov, Hollaz u. Buddeus, haben die Lehre von der O. weiter ausgebildet u. unterscheiden eine formelle nach der Art, wie sie mitgetheilt, u. eine objective, nach dem Inhalt, welcher mitgetheilt worden ist. Die erstere ist eine allgemeine od. natürliche, u. eine unmittelbare od. übernatürliche. Außerdem unterschied man zwischen einer Causa efficiens principalis, worunter man den dreieinigen Gott, u. einer Causa instrumentalis, unter der man die Menschen verstand, welche gleichsam die Schreiber dessen waren, was der Heilige Geist dictirte; ferner zwischen Assistentia u. Inspiratio; zwischen Aspiratio, der Aufforderung zum Schreiben, u. Postspiratio, der Billigung u. Bestätigung des Geschriebenen; man statuirte eine Inspiratio activa, in Hinsicht auf das sich offenbarende Wesen, u. Inspiratio passiva, in Beziehung auf die Wesen, welche eine O. erhalten; Inspiratio antecedens, welche völlig unbekannte Dinge kund macht, u. Inspiratio consequens, welche aus göttlichem Antriebe des Heiligen Geistes die menschlichen Schriften als O. anerkannte. Die neuere protestantische Dogmatik, bes. durch den Einfluß der Kantischen Philosophie geleitet, hat sich dieser Lehre vorzugsweise zugewendet u. hierbei zunächst das Verhältniß der O. zur Vernunft untersucht, indem man der früheren Ansicht, daß die Vernunft über die O. nicht zu urtheilen habe, die Meinung entgegensetzte, daß die O. mit der Vernunft übereinstimmen müsse. Diese Untersuchung veranlaßte die heftigen, lange andauernden Streitigkeiten zwischen Rationalismus u. Supernaturalismus (s.d.). Weiter beschäftigte man sich mit der Möglichkeit der O., u. zwar, ob sie überhaupt denkbar u. ob sie mit der Vollkommenheit Gottes vereinbar sei (physische u. moralische Möglichkeit); von dem Standpunkte der Betrachtung, daß der Mensch unfähig ist, über die Rathschlüsse Gottes etwas zu bestimmen, wurde die Möglichkeit nicht bestritten, aber von Strauß u. seinen Anhängern, als im Widerspruch mit der Unveränderlichkeit Gottes stehend, verworfen. Über die Nothwendigkeit der O. spricht sich die neuere Dogmatik dahin aus, daß sich nur die relative Nothwendigkeit, welche die Erziehung der Menschen vor Augen hat, nicht aber die absolute, wie sie die Kirchenlehre will, erweisen läßt. Die Wirklichkeit der O. sucht man aus den Aussprüchen Jesu, worin er bekennt, eine O. von Gott erhalten u. an die Menschen gegeben zu haben, aus dem Plane desselben, aus der Vollkommenheit seiner Lehre, aus den Wundern u. Weissagungen, aus den Zeugnissen Johannis des Täufers u. der Bekehrung des Paulus, aus der Verbreitung, Erhaltung u. segensreichen Wirkung des Christenthums zu beweisen. Jedoch wurden die meisten dieser Argumente von den rationalistischen Theologen bestritten. Außerdem stellt man allgemeine Kriterien auf, um daran zu erkennen, ob eine als O. bezeichnete Religion wirklich O. sei, u. zwar daß die O. sich nicht selbst widerspreche; daß sie die Grundsätze der Tugend nicht aufhebe, weil diese göttlich sind; daß sie nicht der von Gott selbst gegebenen Vernunftreligion widerstreite; daß sie, was die Wahrheit nie zu fürchten hat, freie Prüfung fordere u. blinden Glauben, welcher unvernünftig ist, verwerfe; daß sie der Bildungsstufe ihrer Zeit angemessen sei, weil sie sonst zwecklos gewesen wäre; daß sie einer möglichen Vervollkommnung (Perfectibilität, s.d.) fähig sei, weil sie sonst nie für die Zeit ihrer Entstehung passen würde. Die christliche O. enthält alle diese Kriterien. Vgl. Kant, Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 1794; Fichte, Versuch einer Kritik aller O-en, 1793; Ammon, Von dem Ursprung einer unmittelbaren O., 1797; Niethammer, Begründung der vernunftmäßigen O., 1793; Grohmann, Kritik der christlichen O., 1798; außerdem die Lehrbücher der Dogmatik.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 12. Altenburg 1861, S. 226-227.
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