Arie

[77] Arie. (Musik)

Vom italiänischen Aria. Dieses Wort wird so wol in der Dichtkunst, als in der Musik gebraucht. Dort bedeutet es eine Strophe oder System von etlichen kurzen lyrischen Versen, die insgemein aus zwey Abtheilungen besteht, um von einem einzigen Sänger abgesungen zu werden. In der Musik aber ist die Arie das Singestük, oder bemeldete Strophe zum Singen in Noten gesetzt, oder würklich abgesungen.

Manchmal, werden die Empfindungen (in einem musicalischen Drama) so stark, und die Gemüthsbewegung wird so groß, daß wir eher nicht zufrieden sind, bis wir uns derselben gänzlich entladen, und das Herz recht weitläuftig ausgeschüttet haben. Dieses geschieht nun in einer Arie. Der Poet nimmt dazu ein lyrisches Sylbenmaaß; allein unter vielen Gedanken und Worten, liest er nur einige wenige, und zwar diejenigen aus, welche den Affekt gleichsam in einem kurzen Inbegriff schildern, oder doch dem Musicus zu dessen völliger Darstellung Anlaß und Gelegenheit geben.1 Diese wenige Worte enthalten die ganze Theorie der Arie.

Weil sie für einen förmlichen, mit allen Verzierungen der Musik geschmükten Gesang verfertiget wird, so ist offenbar, daß ihr Inhalt eine Ergiessung [77] des Herzens seyn müsse. Denn nur in dergleichen Fällen ist es einem Menschen natürlich, seine Sprache in einen Gesang zu verwandeln. Die Arie ist von der Ode und der Elegie nur darin unterschieden, daß sie die Empfindung kürzer und gleichsam nur auf einen Punkt zusammen gedrängt schildert.

Sie erfodert demnach einen großen Dichter, der den ganzen Umfang einer Empfindung in wenig, aber sehr wolfließenden Ausdrüken zu schildern vermag. Eine zu heftige und zugleich unruhige Leidenschaft, die überall Gelegenheit sucht auf verschiedene Weise auszuschweifen, schiket sich zur Arie nicht, weil die Einheit der Empfindung, die hier nöthig ist, in diesem Fall nicht wol könnte beybehalten werden. Daher der angeführte Schriftsteller gründlich erinnert,2 daß die Aeußerung solcher ströhmenden Leidenschaften besser in den so genannten Accompagnamenten ausgedrükt werde.

Alle besondere Regeln, welche der Dichter bey Verfertigung der Arie in Acht zu nehmen hat, sind im achten Hauptstüke des angeführten Werks so vollkommen gründlich und deutlich ausgeführet, daß uns nichts hinzu zu thun übrig bleibet. Wir begnügen uns also den Leser dorthin zu weisen. Dies einzige wollen wir anführen, daß die Arie aus zwey Theilen, oder eben so viel Sätzen bestehe. Der erste enthält die allgemeine Aeußerung der Empfindung; der andre aber eine besondere Wendung derselben Oder wenn der erste das besondere der Empfindung ausdrükt, so enthält der andre das Allgemeine derselben. Denn auf diese Weise hat der Tonsetzer Gelegenheit, den Ausdruk am vollkommensten zu bearbeiten. Ueberhaupt ist die Arie am vollkommensten, wenn der erste Theil mit dem zweyten einen Gegensatz ausmacht.

Es wäre zu wünschen, daß die Tonsetzer eine eben so gründliche Anleitung für ihre Bearbeitung der Arie hätten, als die ist, welche man den Dichtern gegeben hat. Aber in diesem Stük, wie in sehr vielen andern, ist die Theorie des Tonsetzens überaus versäumt worden.

In Ansehung der äußerlichen Form der Arie haben die welschen Tonsetzer eine Mode eingeführt, die bey nahe zum Gesez geworden ist. Zuerst machen die Instrumente ein Vorspiel, das Ritornel genennt, in welchem der Hauptausdruk der Arie kürzlich vorgetragen wird: hierauf tritt die Singestimme ein, und singt den ersten Theil der Arie ohne große Ausdehnung ganz ab: wiederholt hernach die Sätze und zergliedert sie: alsdenn ruht die Stimme etliche Takte lang; damit der Sänger wieder frey Athem holen könne. Während dieser Zeit machen die Instrumente ein kurzes Zwischenspiel, in welchem die Hauptpunkte des Ausdruks wiederholt werden: hierauf fängt der Sänger wieder an, die Worte des ersten Theils noch einmal zu zergliedern, und hält sich vornehmlich bey dem wesentlichsten der Empfindung auf; alsdenn schließt er den Gesang des ersten Theils, die Instrumente aber fahren fort den Ausdruk immer mehr zu bekräftigen, und schließen endlich den ersten Theil der Arie.

Der andre Theil wird hernach ohne das viele wiederholen und zergliedern, das im ersten Theil statt gehabt, hinter einander abgesungen, nur daß die Instrumente ab und zu, bey kurzen Pausen der Singestimme den Ausdruk mehr bekräftigen. Wenn der Sänger ganz fertig ist, so machen die Instrumente wieder ein Ritornel, nach welchem der erste Theil der Arie noch einmal eben wie zuvor wiederholen wird. Dis ist die allgemeine Form der heutigen Arien.

Man muß gestehen, daß sie dem Zwek der Musik sehr gemäß und vernünftig ausgedacht ist. Das Ritornel läßt dem Sänger, der durch das vorhergehende Recitativ etwas ermüdet worden ist, Zeit, Athem zu holen und sich zu einem guten Gesang vorzubereiten; zugleich wird der Zuhörer in die gehörige Fassung und nöthige Aufmerksamkeit gesetzt. Indessen bindet sich der Tonsetzer nicht allemal an diese Gewohnheit; sondern läßt bisweilen die Singestimme, ohne alle Vorbereitung, anfangen. Dieses ist bey gewissen Gelegenheiten, wo die Affekte recht heftig sind, von sehr guter Würkung, wie jedermann in der Opera Cinna, welche in Berlin aufgeführt worden, bey der schönen Aria, O Numi, consiglio in tanto periglio empfunden hat.

Daß der erste Theil der Arie anfänglich ununterbrochen abgesungen wird, wobey die Instrumente meistens schweigen und nur hier und da der Stimme einen Nachdruk geben, hat auch seinen guten Grund. Denn auf diese Weise übersieht man den ersten Theil geschwind und wird in die gehörige Fassung gesetzt, das zu empfinden, was der Dichter und der Tonsetzer uns wollen empfinden machen. Erst alsdenn sieht man, worauf es eigentlich [78] in der Arie hauptsächlich ankommt. Darum wiederholt alsdenn der Sänger die kräftigsten Ausdrüke, bringt sie in verschiedenen Tönen und mit veränderten Wendungen vor.

Dieses ist der Natur der Empfindungen gemäß, die immer wieder auf denselben Hauptgegenstand, der sie hervorgebracht hat, zurük kommen und ihn aus allen Ansichten betrachten. Eben dadurch aber bekommt auch der Zuhörer Zeit, sich völlig in den Affekt zu setzen. Wenn der Sänger den Schluß gemacht hat, so geben die Instrumente der Empfindung noch den letzten Nachdruk.

Weil der zweyte Theil der Arie insgemein nur eine besondere Anwendung des ersten ist, in welchem die Empfindung schon erschöpft worden, so wird dieser Theil mit weniger Umständen abgesungen, und insgemein giebt der Tonsetzer durch die Veränderung der Tonart, oder des Zeitmaßes, in diesem Theil dem Ausdruk eine neue Wendung.

Die Wiederholung des ersten Theils, welches das Da Capo genennt wird, hat vermuthlich keinen andern Grund, als die Begierde, das, was man einmal gut ausgedrükt hat, noch einmal hören zu lassen. In der Musik geht alles ziemlich schnell vorbey; Die Wiederholung macht, daß wir die Hauptausdrüke der Arie desto besser behalten. Damit sie aber nicht unnatürlich werde, so müssen beyde der Dichter und der Tonsetzer, die Arie so anordnen, daß das würkliche Ende derselben im Ausgang des ersten Theils sich befinde. Dieses ist keine leichte Sache, da bey dem ersten Vortrag dies Ende, den zweyten Theil unnatürlich machen könnte. Am natürlichsten wird die Wiederholung, wenn der zweyte Theil so beschaffen ist, daß man am Ende desselben natürlicher Weise in eine Erwartung gesetzt wird, die durch die Wiederholung des ersten erfüllet wird. Dieses hat Herr Ramler in seiner Paßion in der Arie: Du Held auf den die Köcher etc. wol beobachtet. Denn der zweyte Theil endiget sich mit der Frage: Wer wird alsdenn mein Tröster seyn? Darauf folget durch die Wiederholung die Antwort: Du Held u. s. f.

Es giebt doch besondere Fälle, wo die Ueberlegung dem Tonsetzer von der beschriebenen Form der Arie abzuweichen befiehlt. Nur schlechte Künstler, die keine Regel als die Gewohnheit kennen, binden sich überall an das Gewöhnliche. Daher sehen wir bisweilen, daß in Arien, wo der Dichter nichts hineingebracht hat, das einer besondern Aufmerksamkeit werth wäre, der Tonsetzer nichts bedeutende Ausdrüke eben so ofte wiederholt, und schwache Empfindungen eben so zergliedert, als andre mit wichtigen gethan haben. Dadurch aber werden sie abgeschmakt und frostig. Eben so einfältig werden von vielen die nachdrüklichen Erhöhungen des Ausdruks durch die Instrumente angebracht. Sie haben gesehen, daß es eine sehr gute Würkung thut, wenn an gewissen Orten, wo der Gesang sein mögliches zum Ausdruk gethan hat und denn etwas pausirt, die Instrumente den Ausdruk fortsetzen und noch höher bringen. Dieses verleitet sie, ohne alle Ueberlegung die Stimme bisweilen pausiren zu lassen, während welcher Zeit sie die Instrumente einige nichts bedeutende oder gar dem Ausdruk entgegenstreitende Zierrathen und Schnörkel, anbringen lassen.

Am allermeisten werden die Ausdehnungen oder Läufe übertrieben; davon aber haben wir in einem besondern Artikel gesprochen.

Ein gründlicher Tonsetzer bindet sich an keine Form so, daß er sich nicht, nach Beschaffenheit der Sache davon entfernte. Er sieht allemal auf das wesentliche des Ausdruks. Erfodert dieser starke und wenige Aeußerungen, so setzt er seinen Gesang stark, einfach und ohne Modeverzierungen. Eilt der, dem der Ausdruk der Empfindung in den Mund gelegt wird, in seinen Vorstellungen, so verweilt er nicht in seinem Gesang. Ist aber die Empfindung selbst so, daß man natürlicher Weise wortreich dabey ist, so zergliedert er alles in gehörigem Maaße. In ernsthaften und etwas verdrießlichen Affekten, hütet er sich vor Ausdehnungen und vor Läufen, wenn die Worte auch noch so geschikt dazu wären. Die Instrumente läßt er kein Geräusche machen, wo eine Stille erfodert wird, und läßt sie nicht sanft gehen, wo die Empfindung brausend ist. Er verschwendet den Reichthum seiner Instrumente nicht so, daß er glaubt, es müssen nur alle mit spielen, sondern nimmt nur gerade die, welche der Ausdruk erfodert.

Was sonst ein durch den guten Geschmak geleiteter Tonsetzer überhaupt bey glüklicher Erfindung und Ausarbeitung der Arien überlegt, ist in dem Artikel, Ausdruk und Singstük schon ausgeführt worden. [79] Von dem besondern Studio des Sängers zu einem vollkommenen Vortrag der Arie hat Tosi eine weitläuftige Abhandlung gegeben.3 Wir begnügen uns, dem Sänger folgende Anmerkungen zur ernsthaftesten Ueberlegung zu empfehlen.

Vor allen Dingen bedenke er, daß er nicht darum singt, um den Zuhörer für seine Geschiklichkeit einzunehmen, sondern ihm das Bild eines von Empfindung durchdrungenen Menschen auf das vollkommenste darzustellen. Je mehr es ihm gelingt, den Zuhörer vergessen zu machen, daß er nur einen Schauspieler oder Sänger vor sich hat, je größer wird sein Ruhm werden. Die verständigern Zuhörer wollen nicht seine Kehle, sondern sein Herz bewundern. So bald sie merken, daß er sie von der Sache selbst abführen, und ihnen die Bewundrung seiner Kunst abzwingen will, so werden sie frostig.

Deswegen wende er die ernsthafteste Bemühung an, den wahren Charakter der Arie ganz zu fassen, jeden Gedanken des Dichters und Tonsetzers auf das sicherste zu ergreifen; diesem zufolge jede Sylbe und jeden Ton in seinem wahren Lichte darzustellen. Hat er überdem die Geschiklichkeit, durch selbst hinzu gesetzte Töne den Ausdruk zu verstärken, so bringe er sie an, aber nicht eher, bis er gewiß ist, daß sie diese Würkung haben. Kann er dieses nicht, so halte er sich lediglich an dem, was ihm vorgeschrieben ist. Er hat noch genug an der besten Wendung der ihm vorgezeichneten Töne zu studiren. Ein einziger einfacher Ton, der in die Seele dringt, ist mehr werth, als eine ganze Reihe künstlicher Läufe, die nichts sagen, als daß sie schweer zu machen sind.

1Krause von der musikalischen Poesie. S. 129.
2Am angezogenen Orte. S. 132.
3S. dessen Anleitung zur Singkunst, nach Herrn Agricola Uebersetzung S. 172. u. s. f.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 77-80.
Lizenz:
Faksimiles:
77 | 78 | 79 | 80
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Flucht in die Finsternis

Flucht in die Finsternis

Robert ist krank und hält seinen gesunden Bruder für wahnsinnig. Die tragische Geschichte um Geisteskrankheit und Tod entstand 1917 unter dem Titel »Wahn« und trägt autobiografische Züge, die das schwierige Verhältnis Schnitzlers zu seinem Bruder Julius reflektieren. »Einer von uns beiden mußte ins Dunkel.«

74 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon