In der Musik der alten Griechen bedeutete dieses Wort das, was man itzt ein Monochord nennt, nämlich eine gespannte Sayte, auf einem Brete, worauf die Länge der Sayte so eingetheilt war, daß man leicht alle gebräuchliche Intervalle darauf haben konnte. S. ⇒ Monochord.
Gegenwärtig bedeutet es, ein zwey- oder mehr stimmiges Tonstük, darin eine Parthie oder Stimme, nach der andern eintritt, und denselben Satz, oder dasselbe Thema, höher oder tiefer singt, und beständig wiederholt, dergestallt, daß ein solcher Gesang nie zu Ende kommt, sondern so lange fortgesetzt werden kann, als man will, wie aus folgendem Beyspiel zu sehen ist.
Dieser Canon ist zweystimmig; der Alt fängt den Gesang an; einen halben Takt später, und eine [189] Quarte höher, fängt der Discant denselben Gesang an. Nach dem vierten Takt wiederholt jede Stimme ihren Gesang, und so singt der Discant beständig die Melodie des Alts einen halben Takt später und eine Quarte höher, so lange, als man will. Weil ein solcher Gesang niemals zu Ende kommt, so wird er von einigen eine Kreisfuge, oder ein unaufhörlicher Canon genennt. (Canon perpetuus.) Auf diese Art kann der Canon in mehrern Stimmen gesetzt werden, davon immer eine später, als die andre eintritt, und den Gesang um ein bestimmtes Intervall höher oder tiefer wiederholt.
Man kann also einen solchen Canon, so viel Stimmen er haben mag, auf ein einziges System schreiben, wenn man nur die Zeit des Eintritts der übrigen Stimmen, und die Höhe, darauf sie eintreten, anzeiget, wie in diesem Beyspiel:
Bey dem Zeichen § 4 tritt die zweyte Stimme eine Quarte höher, bey § 8 die dritte eine Octave höher, und bey § 11 die vierte eine Undecime höher ein. Diese kurze Bezeichnung enthält also die vollständige Regel, oder Vorschrift eines vierstimmigen Gesanges, und hat eben davon den Namen Canon bekommen, welches Wort eine Regel oder Vorschrift bedeutet.
Wenn in einem ordentlichen Tonstük einzele Stellen von dieser Art vorkommen, da eine Stimme nur eine kurze Stelle einer andern Stimme wiederholt, so giebt man auch solchen einzeln Stellen bisweilen den Namen Canon; gemeiniglich aber werden sie canonische Nachahmungen genennt.
Ehedem, da die Liebhaber des Satzes einander in künstlichen Aufgaben übten, legten sie einander solche Canons, ohne die, zu völliger Aussetzung der Stimmen, nöthigen Zeichen vor, und begnügten sich blos, etwa die Anzahl der Stimmen feste zu setzen. Dieses waren musicalische Räthsel, die einer dem andern aufgab, und daher kommt der Ausdruk, einen Canon auflösen.
Der Canon wird auch so gemacht, daß jede Stimme bey jeder Wiederholung des Satzes, denselben um ein gewisses Intervall höher nimmt. Man hat z. E. solche, da das Thema zwölfmal wiederholt wird, jedesmal den nächsten halben Ton der Tonleiter seines Grundtones höher, und so, daß das Thema durch alle zwölf Töne seiner Tonart, durch geführt wird. Ein solcher Canon wird in der Kunstsprache Canon per tonos genennt.
Wenn aber auch die nachahmenden Stimmen das Thema der ersten nicht genau wiederholen, sondern nur unter gewissen ganz bestimmten Bedingungen, so behält das Stük doch den Namen des Canons. Dergleichen Bedingungen sind z. B. daß das Thema in der Nachahmung die Gattung der Noten ändere, und aus Vierteln Achtel oder halbe Takte mache, dadurch die Arten herauskommen, die man Canones per diminutionem, und C. p. augmentationem nennt – daß die nachahmende Stimme sich der führenden entgegen bewege; daher Canon in motu contrario – u. s. f. Man hat so gar solche, da die nachahmende Stimme das Thema rükwärts singt, indem die führende ordentlich fortgeht, oder solche, da eine Stimme ihren Gesang führt, wie er auf dem Papier geschrieben ist, da die andre dasselbe so vorträgt, wie die Noten liegen würden, wenn man das Papier umkehrte. Von diesen und noch viel andern Arten des Canons, können Liebhaber in Marpurgs Abhandlung von der Fuge, nicht nur vielfältige Beyspiele, sondern auch die zu ihrer Verfertigung dienende Regel finden.
Obgleich viel von dieser Materie in die Classe der Dinge gehört, die Martialis difficiles nugas nennt, so ist doch nicht zu leugnen, daß nicht die Kunst des Canons würklich ein wichtiger Theil der Setzkunst sey. Denn
1. Giebt es Gelegenheiten, wo der Setzer zu dem besten Ausdruk seines Textes würklich canonische Nachahmungen nöthig hat. In vielstimmigen Sachen, Arien, Symfonien, Concerten, besonders aber in Duetten und Terzetten, kommen dergleichen überall vor, die allerdings nur der Setzer, der sich in dergleichen, vielen altväterisch scheinenden, Sachen geübt hat, ohne Fehler machen wird.
2. Wenn in verschiedenen Stimmen feine Nachahmungen bald freyere, bald gebundenere vorkommen, so wird dadurch die wahre Einheit des Gesanges [190] beybehalten. Da hingegen ein seltsames Gemisch entstehen würde, wenn man jeder Stimme, und bald in jedem Takt, eine andre Gestalt der Melodie geben wollte. Darin aber ist nur der recht glüklich, der sich in dem canonischen Satz wol geübt hat.
3. Ueberhaupt aber giebt diese Uebung dem Setzer eine Fertigkeit, auf alle mögliche Weise eine Harmonie und Melodie zu verwechseln, und immer rein zu erhalten, welches ihm unfehlbar dazu dienet, sich aus allen vorkommenden Schwierigkeiten heraus zu helfen.
Also würde es der Musik gewiß nicht zum Vortheil gereichen, wenn dergleichen Uebungen gänzlich abkommen sollten. Es wäre leicht zu zeigen, daß der unsterbliche Graun seine Duette und Terzette in den berlinischen Opern, welche unter die fürtreflichsten Werke der Musik, die man jemals gesehen hat, gehören, nicht in dieser grossen Vollkommenheit würde verfertiget haben, wenn ihm die Künste des canonischen Contrapunkts unbekannt gewesen wären. Allein seine Zeit damit allein zubringen, und sich selbst bereden, daß allein darin die wahre Kunst des Componisten bestehe, ist freylich eine Thorheit, die man den Liebhabern des musicalischen Satzes benehmen muß.
Buchempfehlung
Das bahnbrechende Stück für das naturalistische Drama soll den Zuschauer »in ein Stück Leben wie durch ein Fenster« blicken lassen. Arno Holz, der »die Familie Selicke« 1889 gemeinsam mit seinem Freund Johannes Schlaf geschrieben hat, beschreibt konsequent naturalistisch, durchgehend im Dialekt der Nordberliner Arbeiterviertel, der Holz aus eigener Erfahrung sehr vertraut ist, einen Weihnachtsabend der 1890er Jahre im kleinbürgerlich-proletarischen Milieu.
58 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.
424 Seiten, 19.80 Euro