Handlung

[509] Handlung. (Schöne Künste)

Unter den mannigfaltigen Gegenständen der schildernden Künste ist der Mensch, dessen Würksamkeit durch intressante Gegenstände gereizt wird, ohne Zweifel der merkwürdigste. Der Künstler, der


–– Wie Haller dort, mit stark gesetztem Muth

Verrätherische Blik' ins Menschen Busen thut;


und mit diesem scharfen Beobachtungsgeist die Kunst besitzt, wie Homer, alles auf das lebhafteste zu schildern, kann uns die handelnden Menschen so vors Gesicht bringen, daß ihr Genie, ihre Sinnesart, ihre Stärke und Schwäche, kurz alles, was zu ihrem Charakter gehört, in dem hellesten Lichte vor uns liegt. So hat Homer uns mit den berühmtesten griechischen und phrygischen Helden so bekannt gemacht, als wenn wir selbst mit ihnen gelebt und ihren Handlungen zugesehen hätten. Unter den Werken der Kunst behaupten die, welche uns handelnde Menschen schildern, den ersten Rang. Daher haben auch die zwey großen Kunstrichter, Aristoteles und Horaz, da sie von der Dichtkunst geschrieben, ihr Hauptaugenmerk auf diese Werke gerichtet.

Die Wichtigkeit derselben hängt einstheils von dem Charakter und dem Genie der handelnden Personen, anderntheils aber von der Handlung ab, in welche sie verwikelt sind. Wir wollen hier einige Anmerkungen über die Natur und Beschaffenheit der Handlung zum weitern Nachdenken des Künstlers vortragen.

Den Stoff zur Handlung giebt die Fabel1; die Handlung selbst ist das, wodurch die Fabel ihre Würklichkeit erhält. Man kann die Fabel, auf welche die Ilias gegründet ist, in wenig Worte fassen. »Währender Belagerung der Stadt Troja entzweyten sich Agamemnon und Achilles so sehr, daß dieser sich von dem Heer absonderte und nach Hause ziehen wollte. Dadurch wurden die Belagerer so sehr geschwächt, daß es das Ansehen gewann, sie würden die Belagerung aufheben müssen. Sie suchten vergeblich den Achilles durch Bitten zu vermögen, daß er sich wieder mit ihnen vereinige; aber ein besonderer Vorfall brachte ihn wieder zurük und setzte seinen Heldenmuth in neues Feuer; dieses veranlasete den Tod des Hektors, wodurch die Eroberung erleichtert wurde, weil dieser Held eigentlich die stärkste Vormauer der Trojaner war.« Dieses ist also die Fabel der Ilias. Die Handlung ist das, was geschieht, oder wodurch diese Fabel die Würklichkeit bekömmt; der Streit zwischen Agamemnon und Achilles; des Achilles Abzug vom griechischen Heer, u. s. f. Wir haben drey griechische Tragödien, welche ein und eben dieselbe Fabel behandeln: »Orestes kömmt nach einer langen Abwesenheit in das Haus seines Vaters zurük, und rächet dessen Tod durch Ermordung des Aegysthus und der Elektra.« Aber die Handlung ist in jeder dieser Tragödien verschieden.

Die Begriffe der Fabel und der Handlung werden von den Kunstrichtern nicht allemal gehörig unterschieden: man fodert ofte von der Handlung, was der Fabel zukömmt. Eigentlich ist die Fabel die geschehene Sache, deren Anfang, Fortgang und End sich der Künstler dem Erfolge nach vorstellt; die Handlung aber ist das, wodurch sie geschieht, wodurch sie ihren Anfang hat, ihren Fortgang gewinnt, und ihr End erreicht. Da wir von der Fabel besonders gesprochen haben,2 so wollen wir hier unsre Anmerkungen blos auf die Handlung einschränken.

Eigentlich ist es nicht die Fabel, sondern die Handlung, wodurch ein Werk groß und merkwürdig ist. Die Ilias ist nicht wegen der Fabel, die zum Grunde liegt, nicht darum, daß Agamemnon und Achilles sich entzweyt haben u. s. f. ein großes und wichtiges Werk, sondern dadurch, daß die Sachen so geschehen sind, wie der Dichter sie vorstellt; nämlich durch die Handlung. So ist auch keines der vorher erwähnten drey Trauerspiele der Fabel halber merkwürdig; dieselbe Sache könnte so vorgestellt werden, daß Niemand großen Antheil daran [509] nähme; aber durch die Handlung, durch das, was geschieht und die Art wie es geschieht, werden sie wichtig.

Die erste und nothwendigste Eigenschaft der Handlung ist, daß sie wahrscheinlich und natürlich sey, so daß das, was geschieht, aus den vorhergehenden Ursachen auf eine ungezwungene und verständliche Weise hat erfolgen müssen. Denn wo dieses nicht ist, da fällt die Aufmerksamkeit auf die Sachen, der Antheil welchen man daran nehmen sollte, weg. Man glaubt der Künstler wolle uns hintergehen, oder habe geträumet und sich die Sachen fälschlich eingebildet. Darum muß in der ganzen Handlung nichts geschehen, davon man nicht den Grund in den Charakteren der Personen und in der Lage der Sache entdeket. Dazu wird freylich erfodert, daß der Künstler ein wahrer Kenner der Menschen sey. Hier hilft die feurigste Einbildungskraft und die stärkste Begeisterung nichts; die Wahrheit der Handlung ist blos ein Werk des Verstandes und der gründlichen Kenntnis. Insgemein ist die Fabel dem Künstler durch die Geschichte gegeben, oder er hat sie in seiner Phantasie entworfen und angeordnet, ehe er an die Handlung denkt. Hat er nicht in seinem Genie und Verstand die nöthigen Mittel die Handlung so zu veranstalten, daß die Fabel auf eine natürliche und ungezwungene Weise aus den vorhandenen Ursachen sich so, wie er sie entworfen hat, entwikelt, so hat er eine Uhr gemacht, die zwar dem Ansehen nach alle nöthigen Räder hat, aber doch nicht geht.

Bey jeder Handlung und bey jedem einzeln Theile derselben sind immer Kräfte, oder würkende Ursachen und Würkungen vorhanden, die einander auf das genaueste angepaßt seyn müssen. Man muß nicht große Kräfte aufbieten um kleine Würkungen hervorzubringen, und eben so wenig aus geringen Kräften große Würkungen entstehen lassen. In der Ilias bringt zwar die Entfernung eines einzigen Menschen das griechische Heer dem Untergange sehr nahe; aber dieser Mensch ist Achilles. Hätte der Dichter nicht Genie genug gehabt diesen Helden so groß zu schildern, als wir ihn sehen, so wäre die Handlung der Ilias unnatürlich worden.

Die zweyte Eigenschaft der Handlung ist, daß sie intressant sey: der Geist und das Herz dessen, der der Handlung zusieht, müssen in unaufhörlicher Würksamkeit unterhalten werden. Dieses kann auf mancherley Weise bewürkt werden. Das Geschäft, welches betrieben wird, kann an sich selbst so wichtig seyn, daß die handelnden Personen dabey nothwendig in die lebhafteste Würksamkeit gerathen, wie wenn es große Angelegenheiten eines ganzen Volks betrift; oder es kann durch die dabey intressirte Personen wichtig werden, die uns wegen ihres Standes, oder wegen ihres Charakters merkwürdig sind; oder es kann zufälliger Weise, durch aufgestoßene Schwierigkeit, durch eine seltsame Verwiklung der Sachen, durch merkwürdige Vorfälle die Neugierd reizen.

Es giebt bisweilen Handlungen, die an sich wenig Merkwürdiges zu haben scheinen, durch das glükliche Genie des Künstlers aber ungemein intressant werden. Daß einige trojanische Flüchtlinge sich einschiffen, um sich anderswo nieder zu lassen, ist an sich eine ganz unbeträchtliche Handlung. Virgil hat ihr aber durch den Gesichtspunkt, in dem er sie ansieht, eine ausnehmende Größe und Wichtigkeit gegeben. Diese wenige Abentheurer sind die Stammväter eines künftigen Volks, das den ganzen Erdboden beherrschen soll; das künftig einem andern, damals aufblühenden und von einigen Göttern vorzüglich beschützten Volke, die Herrschaft der Welt entreissen wird. Dadurch bekömmt die Handlung der Aeneis eine erstaunliche Größe, der aber das mehr schöne, als große Genie des Dichters nicht gewachsen war. Was würde nicht ein Dichter von Miltons oder Klopstoks Geiste daraus gemacht haben?

Es würde ein für die schönen Künste nützliches Unternehmen seyn, wenn sich jemand die Mühe gäbe, die verschiedenen Kunstgriffe zu entdeken, wodurch große Künstler unbeträchtliche Handlungen intressant gemacht haben; denn hierin zeiget sich das Genie in dem schönsten Lichte. Wie manche, an sich unbeträchtliche Handlung, hat nicht Shakespear durch sein erfinderisches Genie höchst intressant gemacht? Gemeine Künstler suchen insgemein die Handlungen durch Verwiklung und vielerley Intrigen merkwürdig zu machen; aber dieses sind sehr schwache Mittel, die zwar die Phantasie etwas gespannt halten, aber die wesentlichsten Kräfte der Seele, den Verstand und das Herz, in völliger Ruhe lassen. Das Intressante der Handlung muß nicht im Aeußerlichen derselben, sondern in dem, was zum Geist und zum innern Charakter der Sachen gehört, gesucht werden. [510] Man findet bey genauer Betrachtung der berühmtesten Werke der Kunst alter und neuer Zeiten, vornehmlich bey dramatischen Werken, daß die vorzüglichsten davon gerade die sind, wo die Handlung die größte Einfalt hat.

Ferner muß die Handlung auch ganz und vollständig seyn. Man muß ihren eigentlichen Anfang deutlich bemerken, die Ursachen erkennen, die die handelnden Personen in Bewegung setzen; man muß dabey Gelegenheit bekommen sich in den eigentlichen Gesichtspunkt zu stellen, aus dem die Handlung zu sehen ist; man muß ihren Fortgang deutlich bemerken, und zuletzt den eigentlichen Ausgang, das was ausgerichtet oder bewürkt worden, so deutlich vor sich sehen, daß nun nichts mehr kann erwartet werden; man muß empfinden, daß nun keine von den handelnden Personen das geringste mehr bey dem Geschäfte zu thun habe. Dieses verursachet bisweilen beträchtliche Schwierigkeiten;3 daher auch die Meister der Kunst nicht allemal glüklich genug sind, alles, was zur Vollständigkeit der Handlung gehöret, zu erreichen.

Daß in einem Werk, es sey so groß, als es wolle, nur eine einzige Handlung seyn müsse, ist eine so offenbar nothwendige Sache, daß man nicht nöthig hätte, sie anzuführen, wenn nicht so vielfältig von dramatischen Dichtern dagegen gehandelt würde. In einem vollkommenen Drama muß nicht nur schlechterdings eine einzige Handlung seyn, sondern auch so gar die kleinen episodischen Handlungen, wenn sie gleich mit der Haupthandlung wol zusammen hangen, thun dem Ganzen schon merklichen Schaden. Die vollkommensten Werke sind unstreitig die, bey denen die Aufmerksamkeit von Anfang bis zum Ende, ohne alle Zerstreuung auf einen einzigen Gegenstand gerichtet bleibet. Darin haben die Trauerspiele der Alten einen offenbaren Vorzug vor den meisten Werken der Neuern. Mit unverwandtem Auge sieht man von Anfang bis zum Ende immer denselben Gegenstand, von dem die Aufmerksamkeit nicht einen Augenblik abgezogen wird. Wie ein verständiger Portraitmahler seine Bildnisse immer so mahlt, daß das Aug durch nichts von dem Gesicht und der Stellung der Person abgezogen wird, so muß auch bey jeder Handlung alles, was nicht zur Hauptsache gehöret, in gedämpftem Lichte stehen, damit es nicht für sich, sondern nur in so fern bemerkt werde, als es zur Haltung des Ganzen dienet.

Man sagt von einem Werk, es sey wenig Handlung darin, wenn es mehr die Vorstellungskraft, als die Begehrungskräfte reizet. Denn eigentlich gehört nur das zur Handlung, wobey man eine Aeußerung dieser Kräfte empfindet. Man könnte die Ilias in eine Erzählung verwandeln, darin alle Handlung ausgelöscht wäre, wo wir nur auf das was geschieht Achtung zu geben haben; da sehen wir nicht die Handlung, die Aeußerung der Kräfte, sondern den bloßen Erfolg derselben. Wenn wir aber den innern Zustand der handelnden Personen empfinden, wie sie wünschen, hoffen, sich bestreben, ihre Kräfte aufbieten; alsdann erst sehen wir sie handeln.

Man hat in den schönen Künsten vielerley Arten eine Handlung vorzustellen, und jede Art hat in Ansehung der Größe, der Form und der ganzen Einrichtung der Handlung ihre besondern Bedürfnisse. Das epische Gedicht, das Drama, die äsopische Fabel, das Gemählde, das Ballet, jedes erfodert eine eigene Art der Handlung; hievon aber ist das nöthigste in verschiedenen besondern Artikeln angemerkt worden4.

1S. Fabel.
2S. Fabel.
3S. Ausgang. Ende.
4S. Heldengedicht; Drama, Tragödie, historisches Gemählde u. s. w.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 509-511.
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