Hirtengedichte

[537] Hirtengedichte.

Gedichte deren Inhalt aus dem Charakter und dem Leben eines Hirtenvolks genommen ist. So wie alle Arten der Gedichte, die itzt unter uns bloße Nachahmungen verlohrner Originale sind, aus Uebungen oder Gewohnheiten älterer Völker entstanden sind, so ist es wahrscheinlich, daß die ersten Hirtengedichte, nach natürlichen Liedern eines alten Hirtenvolks, durch die Kunst gebildet worden. Der Hirtenstand ist keine Erdichtung, er ist der Stand der Natur vieler Völker gewesen, und ist es auch noch itzt. Noch sind Länder von gesitteten Hirtenvölkern bewohnt, die in einer fast unumschränkten Freyheit und der Sorgen des bürgerlichen Lebens unbewußt leben; wo muntere Köpfe vom Instinkt geleitet, ihre selbst gemachten Flöten oder Schalmeyen klingen machen, und Lieder dichten, welche Fröhlichkeit, oder Liebe, oder Eifersucht, ihnen eingeben; die mit benachbarten Hirten wetteifernd singen; die bisweilen in größere Gesellschaften zu Tänzen und Wettstreiten zusammen kommen. Das müßige Leben eines solchen Hirtenvolks; sein beständiger Aufenthalt in den angenehmsten Gegenden; die lange Weile, oder ein angenehmerer Hang, welcher benachbarte Hirten und Hirtinnen zusammen führt, veranlaset natürlicher Weise die Aeußerung verschiedener Empfindungen, die nach vielen Versuchen zu Liedern werden. Ein englischer Schriftsteller stellt uns das Landvolk von Minorca als ein solches Volk vor. »Die Insulaner, sagt er, haben viel alte Gewohnheiten bis auf diesen Tag beybehalten. Also ist eine Art von poetischem Wettstreit unter den Bauren gebräuchlich. Einer singt einige, auf einen gewissen Gegenstand, der ihm gefällt, aus dem Stegreiff gemachte Verse ab, und spielt dazu auf seiner Cyther. Ein andrer antwortet ihm so gleich, mit einer gleichen Anzahl ebenfalls auf der Stelle verfertigten Zeilen, und suchet ihn zu übertreffen, oder lächerlich zu machen. Und dieser Wettstreit währet bis der Witz der beyden Fechter erschöpft ist. Man nennt sie Gloßadores1

Ohne Zweifel hat der glükliche Himmelsstrich, der sich über Griechenland und Italien verbreitet, ehedem ganze Völker solcher Hirten genährt, deren Spiele und Gesänge durch Ueberlieferungen bis auf die, nachher sich in Städten versammelte Völker gekommen sind. Nachdem das, was ehedem Natur gewesen, zur Kunst geworden, ahmten die Dichter auch die Lieder der Hirten nach, um die Glükseeligkeit des Hirtenstandes, wenigstens in der Einbildung zu genießen. So entstuhnden in dem Reiche der Künste die Hirtengedichte.

Ihr allgemeiner Charakter ist darin zu suchen, daß der Inhalt und der Vortrag mit den Sitten und dem Charakter eines glüklichen Hirtenvolks übereinstimme. Die Arten aber können vielfältig seyn, episch, dramatisch und lyrisch. Wir haben in der That in allen drey Hauptgattungen schöne Muster. Episch sind die bekannten Hirtenromanen, alter und neuerer Dichter. Dramatisch der Pastor Fido, Geßners Evander und verschiedene andre Stüke der Neuern. Die satyrischen Stüke der Griechen können einigermaaßen hieher gerechnet werden. Lyrisch sind die Bukolien, Idyllen und Eklogen der Alten und Neuern.

Der Dichter der Hirtenlieder versetzt sich so wol für seine Person, als für seine Materie in den Hirtenstand. Daher muß seinem Gedicht, sowol in Absicht auf die Materie, als auf die Form und den Vortrag, der Charakter dieses Standes genau eingepräget seyn. Man muß darin eine Welt erkennen, in welcher die Natur allein Gesetze giebt. Durch keine bürgerliche Gesetze, durch keine willkührliche Regeln des Wolstandes eingeschränkt, überlassen die Menschen sich den Eindrüken der Natur, über welche sie wenig nachdenken. Diese Menschen kennen keine Bedürfnisse, als die unmittelbaren Bedürfnisse [537] der Natur, keine Güter, als ihre Gaben, und was zum Zeitvertreib ihres müßigen Lebens dienet. Ihre Hauptleidenschaft ist Liebe, aber eine Liebe ohne Zwang, ohne Verstellung, und ohne platonische Veredlung. Ihre Künste sind Leibesübungen, Gesang und Tanz. Ihr Reichthum ist schönes und fruchtbares Vieh; ihre Geräthschaft ein Hirtenstab, eine Flöte und ein Becher. Also sind die Hirtenlieder Gemählde aus der noch ungekünstelten sittlichen Natur, und desto reizender, weil sie uns den Menschen in der liebenswürdigen Einfalt einer natürlichen Sinnesart vorstellen.

Es giebt eine Gattung der Hirtenlieder, die ganz allegorisch ist. Der Dichter, der von sich selbst, von seinen Angelegenheiten, von seinem Schiksal zu sprechen hat, nihmt die Person eines Hirten an, und sucht in dem Hirtenstand die Bilder auf, die durch Aehnlichkeit dasjenige mahlen, was er ausdrüken will; so wie der Fabeldichter in der thierischen Welt die Bilder der sittlichen Handlungen sucht. Dieses giebt ihm die Bequämlichkeit von sich selbst, von seinen Freunden, Wohlthätern, und von seinen Feinden, auf eine feine Art zu sprechen, Lob und Tadel auf eine verdekte und darum nachdrüklichere Weise auszutheilen. Fürtreffliche Beyspiele dieser Art haben wir an einigen Eklogen des Virgils, fürnehmlich an der ersten und zehnten; an den Idillen der Frau des - Houlieres, die man nicht ohne innigste Rührung lesen kann. Diese Gattung kann sich bis zum erhabensten Inhalt empor schwingen, wie wir an Popens Messias sehen. Dieses scheinet die feineste Gattung der Allegorie zu seyn.

Da Einer unsrer berühmtesten und größten Dichter mir vor etlichen Jahren seine Gedanken über die Idille zugeschikt hat, so will ich sie mit seiner Erlaubnis hier ganz einrüken.

»Die Muse hat zu allen Zeiten die ländlichen Scenen und das kunstlose freye und anmuthige Landleben geliebt. Vermuthlich hat eben diese glükliche Lebensart der ältesten Menschen der Poesie den Ursprung gegeben. Die schöne Natur mit allen ihren lieblichen Abwechslungen und die Freyheit, die uns in den ungestörten Genuß ihrer Gaben setzt, flößen dem Menschen eine Fröhlichkeit ein, die manchmal zu einem so hohen Grad steigt, daß sie seine ganze Seele begeistert, seine Einbildungskraft erhitzt, und alle seine Gliedmaaßen mit reger Munterkeit durchdringet. In diesem süßen Taumel angenehmer Empfindungen ergießt sich unsre Stimme von sich selbst in ungelehrte Töne, die unsre Freude ausdrüken und auch auf andre eine sympathetische Würkung thun. Dieses war ohne Zweifel der erste Ursprung des Gesangs, welcher dann bald auch die Dichtkunst hervorbrachte, die anfangs nur in kunstlosen Liedern bestand, worin die Menschen die Rührungen ausdrukten, welche die Natur, die Freyheit und die Liebe, die Quellen ihrer Glükseeligkeit, in ihnen hervorbrachten. Der Wetteifer mußte diese Erfindungen der Natur, schnell zu immer höhern Graden der Vollkommenheit forttreiben. Was anfangs regellose Versuche, oder vielmehr Würkungen des Instinks waren, wurde nach und nach zur Kunst; man fieng an, über den Ausdruk der Empfindungen zu raffiniren, die Gemählde der schönen Gegenstände, wovon man gerührt war, besser auszubilden, den geheimern Schönheiten derselben nachzuspühren, und die Worte auf eine wolklingende Art zusammen zu ordnen. Die aufgewekten Köpfe, welche die Natur mit dem poetischen Geist vorzüglich begabet hatte, übertrafen in kurzen die übrigen so weit, daß man sie für besondere göttlich begeisterte Leute hielt, denen es allein zukomme, Lieder und Gedichte zu machen, welche an Festtagen und bey allerley freudigen Anläßen gesungen werden könnten. So entstanden die Sänger und Dichter in diesem einfältigen Zeitalter, und ihre Gesänge waren die wahren ursprünglichen Idillen, von denen nichts auf uns gekommen ist, entweder weil die Schreibkunst viel später erfunden worden, als die Sing- und Dichtkunst, oder weil die kriegerischen eisernen Zeiten, welche dieses goldne Weltalter verdrungen haben, auch diese anmuthigen Früchte desselben verderbet haben. Was wir Idillen heißen, sind blos Nachahmungen jener ursprünglichen Waldgesänge, welche die Natur selbst ihren Kindern eingab. Theokrit hat unter den Griechen diese nachgeahmten Idillen zu einer großen Vollkommenheit gebracht. Er fand in seinem Zeitalter noch viele Ueberbleibsel der nicht gefabelten goldnen Zeit; die Lebensart der Landleute war freyer, glüklicher und angesehener, als sie heut zu Tage ist. Er scheint deswegen seine reizenden Gemählde vielmehr aus der würklichen Natur, so wie er sie vor Augen hatte, als der Schäferwelt, oder dem goldnen Alter, welches seine eigne Phantasie hätte erschaffen müssen, hergenommen zu haben; und eben deswegen sind seine Hirten nicht so unschuldig und liebenswürdig, [538] als sie seyn könnten. Dagegen konnte er, weil er nach einem Original zeichnete, das er vor sich hatte, eine Menge kleiner lebhafter Züge, und naiver Wendungen hineinbringen, die einem Dichter, der nur nach Phantasiebildern arbeitet, entwischen müssen. Es hat unter den Neuern italiänischen und französischen Dichtern viele gegeben, welche Gedichte unter dem Namen Idillen gemacht haben: aber entweder thun sie nichts weiter, als daß sie den Virgil copieren, der selbst größtentheils ein freyer Uebersetzer des Theokrit ist, oder sie machen ihre Hirten zu spitzfündigen Stutzern und ihre Schäferinnen zu tiefsinnigen Meisterinnen in der platonischen Liebe, oder gar zu Dames du bel Air. Pope hat bey den Engländern in vier Idillen den Virgil nachgeahmt. Die deutsche Nation hat den ersten wahren und glüklichen Nachahmer des Theokrit aufzuweisen, der, ohne ihn auszuschreiben, oder in seine Fußstapfen ängstlich einzutreten, ihm darin gleichet, daß er die schöne Einfalt der Natur meisterlich geschildert hat. Es scheint, daß er den Theokrit, der sonst in nichts übertroffen werden konnte, darin übertroffen habe, daß er seine Hirten liebenswürdiger macht. Er, Geßner, ist ein eben so glüklicher Mahler der feinsten und naivsten Empfindungen, und zärtlichsten Affekte, als der sanften und lieblichen Scenen der Natur. Sein zarter Geschmak hat ihn eine Menge kleiner Schönheiten in derselben entdeken gemacht, die seinen Gemählden alle Reitze der Neuheit geben, auch wenn gleich die Gegenstände die alltäglichsten sind. Er ist würklich in die Schäferwelt, in das goldne Alter eingedrungen, und seine Idillen würden vielleicht ganz vollkommen seyn, wenn er die Scene derselben nach Mesopotamien oder Chaldäa versetzt, und anstatt der ungereimten Vielgötterey der Griechen, seinen Hirten die natürliche Religion, mit einigem unschuldigen Aberglauben vermischt, gegeben hätte.

Ein Idillendichter muß vielmehr durch die Natur und durch solche Muster als durch besondere Regeln gebildet werden. Er muß freylich die Natur dieser Art von Gedichte, so wie sie oben von uns angegeben worden, kennen; aber es wird ihm nichts helfen, wenn er schon weiß, daß Idillen Gemählde aus der unverdorbnen Natur sind, daß die Sitten und Empfindungen der Hirten von allem gereiniget seyn müssen, was bey policierten Völkern unter den Namen der Gebräuche, des Wohlstands, der Politesse und dergleichen, die freyen Würkungen der Natur hindert; daß sie von unsern schimärischen Gütern nur keine Ideen haben müssen; daß sie nichts davon wissen sich der zärtlichen Empfindungen zu schämen, wodurch der Schöpfer die Menschen unter einander aufs engeste zuverbinden gesucht hat; mit einem Wort, daß sich in ihren Empfindungen, Sitten, Gewohnheiten und in ihrer ganzen Lebensart die nakte Natur ohne alle Kunst, Verstellung, Zwang oder andre Verderbniß zeigen muß; wenn er schon alle diese Regeln weiß, so wird er doch unfähig bleiben, seine Vorgänger nur zu erreichen, geschweige dann zu übertreffen, wenn ihn nicht sein eigner ungekünstelter Charakter, und ein unverdorbner Geschmak und eine besondere Zärtlichkeit der Empfindungen die Anlage zu den Gemählden, die er schildern soll, in Sich selbst finden lassen.«

Diese Dichtungsart übertrifft alle andern an angenehmen und sanften Gegenständen. Was in der leblosen, in der thierischen und sittlichen Natur den meisten Reitz hat, ist gerade der Gegenstand der Hirtengedichte. Wer glükliche Länder kennt, wo ein sanftes Clima und eine Mannigfaltigkeit von abwechselnden Gegenden, alle Reitze der Natur in vollem Reichthum verbreitet; wo ein freyes, durch unnatürliche Gesetze nicht verdorbenes Volk, das blos die wenigen Bedürfnisse der Natur kennt, zerstreut, ein harmloses und unschuldiges Leben führet; der weiß, was für Erquikung die Seele genießt, wenn man von Zeit zu Zeit das, durch so manchen Zwang mühesam gewordene, Leben der bürgerlichen Welt verlassen, und einige Tage unter solchen Schülern der Natur, wie Haller sie nennt, zubringen kann. In solche Gegenden und unter ein solches Volk versetzt uns der Hirtendichter, dadurch verschaft er uns viel seelige Stunden des sanftesten und unschuldigsten Vergnügens; er lehret uns Gemüther kennen, und macht uns mit Sitten bekannt, die uns den Menschen in der liebenswürdigen Einfalt der Natur zeigen. Da lernt man fühlen, wie wenig zum glüklichen Leben nöthig ist. Was Roußeau mit seiner bezaubernden Beredsamkeit nicht ausrichten konnte, die Welt zu überzeugen, daß der Mensch durch übelausgedachte, unnatürliche Gesetze, lasterhaft und unglüklich werde, das kann der Hirtendichter uns empfinden lassen.

Aber ist es nicht eine Grausamkeit, den Menschen eine Lebensart und eine Glükseeligkeit, die sie unwiederbringlich [539] verlohren haben, wieder kennen zu lehren? Nein. Der Unglükliche hält es nicht für ein Unglük, wenigstens angenehme Träume zu haben. Und dann ist das Urtheil der Verdammniß vielleicht noch nicht so unwiederruflich, wenigstens nicht über alle einzele Menschen ausgesprochen. Vielleicht daß auch die sanften Eindrüke der Hirtenpoesie überhaupt manches nur durch Vorurtheile verwilderte Gemüth wie der zubesänftigen vermögen.

Es gehört aber sehr viel dazu, in dieser Dichtungsart glüklich zu seyn. Man muß nicht nur, wie Theokrit oder Geßner, in einem mit allen Schönheiten der Natur geschmükten Lande leben, und ein glükliches Volk kennen; man muß eine Seele haben, die die harte Schaale, den Schorff der bürgerlichen Vorurtheile, abgeworfen hat, und die Natur in ihrer einfachen Schönheit zu empfinden weiß; man muß ein feines zärtliches Gefühl haben, um schon da gerührt zu werden, wo gröbere, oder schon verhärtete Seelen, die nur erschütternde Eindrüke fühlen, nichts empfinden. Man muß ein an liebliche Töne gewöhntes Ohr haben, das in den Liedern den leichten und sanften Ton der Schäferflöte zu treffen wisse.

Es ist wahrscheinlich, daß die Hirtenlieder die erste Frucht des poetischen Genies gewesen sind. Jedes glükliche und empfindsame Hirtenvolk mag dergleichen Liederdichter unter sich gehabt haben: Aber Sicilien ist allem Ansehen nach das Land, in welchem die rohen Hirtenlieder zuerst durch Geschmak und Kunst zur Vollkommenheit gekommen sind. Die meisten griechischen Idyllendichter, deren Namen oder Lieder auf uns gekommen sind, waren Einwohner dieser ehemals so glüklichen Insel; darum schreibt Virgil diese Dichtungsart den sicilianischen Musen zu.


Sicelides Musæ paulo majora canamus.2


Theokritus aus Syrakusa steht unter den Dichtern dieser Gattung oben an, wie Homer unter den epischen. Seine Idyllen sind von unnachahmlicher Anmuthigkeit; und bey dem Lesen derselben finden wir uns in das glükseeligste Clima, in die reizendsten Gegenden des Erdbodens und unter ein Volk versetzt, dessen liebenswürdige Einfalt und sorgeloses Leben den Wunsch erwekt, unter ihm zu wohnen. Selbst Virgil, der so empfindsame und so anmuthsvolle Dichter, ist in einer großen Entfernung hinter ihm zurüke geblieben. Aber noch sehr weit hinter Virgil die meisten Neuern bleiben.3 Unser Geßner übertrifft diese, so wie Theokrit die Alten übertroffen hat.

1S. Cleghorns Beschreibung der Insel Minorca.
2Bucel. IV. 1.
3Man sehe einige Vergleichungen zwischen Alten und Neuern in den neuen critischen Briefen, die 1749 in Zürich herausgekommen in dem XXXVI und einigen folgenden Briefen.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 537-540.
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