Pathos; Pathetisch

[884] Pathos; Pathetisch. (Schöne Künste)

In einem allgemeinern Sinn drüken diese griechische Wörter zwar das aus, was wir durch die Wörter Leidenschaft und Leidenschaftlich andeuten. Für diesen Ausdruk hätten wir also der fremden Wörter nicht nöthig: aber weil sie auch in einer engeren Bedeutung besonders von den Leidenschaften gebraucht werden, die das Gemüth mit Furcht, Schreken, und finsterer Traurigkeit erfüllen, für welche wir kein besonderes deutsches Wort haben, so haben wir sie in diesem Sinn als Kunstwörter angenommen.1

In einem Werke der Kunst ist Pathos, wenn es Gegenstände schildert, die das Gemüth mit jenen finstern Leidenschaften erfüllen. Doch scheinet es, daß man bisweilen den Sinn des Worts auch überhaupt auf die Leidenschaften ausdähne, die wegen ihrer Größe und ihres Ernstes die Seele mit einer Art Schauder ergreifen; weil dabey immer etwas von Furcht mit unterläuft. Und in so fern wären auch die feyerlichen Psalmen und Klopstoks Oden von hohem geistlichen Inhalt zu dem pathetischen zu zählen. Die Griechen sezten zwar das Pathos überhaupt dem Ethos (dem Sittlichen) entgegen. Aber auch in diesem Gegensaz selbst scheinen sie unter dem Pathos nur das Große der Leidenschaften zu verstehen, und das blos sanft und angenehm Leidenschaftliche, noch unter das Ethos zu rechnen. Longin sagt ausdrüklich, das Pathos sey so genau mit dem Erhabenen verbunden, als das Ethos mit dem Sanften und Angenehmen.2

Also bestehet das Pathos eigentlich in der Größe der Empfindung, und hat weder bey dem blos Angenehmen, noch überhaupt bey dem gemäßigten Inhalt statt. Die Reden des Demosthenes und des Cicero, über wichtige Staasangelegenheiten, sind meist durchaus pathetisch; weil sie das Gemüth beständig mit großen Empfindungen unterhalten. Die Tragödien der Alten sind in demselben Fall. Hingegen wechselt in der Epopöe das Pathetische sehr ofte mit dem Sittlichen, und mit dem blos angenehm Leidenschaftlichen ab. In der hohen Ode herrscht das Pathetische durchaus.

In der Musik herrscht es vorzüglich in Kirchensachen und in der tragischen Oper; wiewol sie sich selten dahin erhebt. In Grauns Iphigenia ist der [884] Sterbechor sehr pathetisch; und man sagt, daß auch in der Alcestis des R. Gluks viel Pathos sey. Auch der Tanz wär des Pathetischen fähig; es wird aber dabey völlig vernachläßiget, und man sieht nicht sehr selten Ballete, die nach ihrem Inhalt pathetisch seyn sollten, in der Ausführung aber blos ungereimt sind. Unter allen bekannten Tanzmelodien ist auch würklich keine, die den eigentlichen Charakter des Pathetischen hätte. In Gemählden hat das Pathetische in der Historie, auch in der hohen Landschaft statt. Aber es erfodert einen großen Meister. Raphael, Hannib. Carrache und Poußin sind darin die besten.

Es scheinet, daß das Pathetische die Nahrung großer Seelen sey. Künstler von einem angenehmen, fröhlichen sanftzärtlichen Charakter, oder solche bey denen eine blumenreiche Phantasie und ein lebhafter Wiz herrschend ist, mögen sich sehr selten, bis zum Pathetischen erheben. Auch von Liebhabern der Künste, die diesen Charakter, oder dieses Genie haben, wird es nicht vorzüglich geachtet. Darum wird es auch in Frankreich weniger als in England und in Deutschland geschäzt. Bey anderm Stoff kann der Künstler seinem Wiz, seinen Geschmak, und ein empfindsames zärtliches Herz zeigen; aber hier sehen wir die Stärke seiner Seele, und die Größe seiner Empfindungen. Wer diese nicht besizt, dessen Bestreben das Pathos zu erreichen ist vergeblich; seine Bemühung macht ihn nur schwülstig oder übertrieben. Dieses sehen wir an einigen deutschen Trauerspiehlen eines guten Dichters, dem die Natur eine angenehme nicht finstere Phantasie, ein empfindsames und zärtliches, nicht ein strenges und großes Herz gegeben hat. Ich merke dieses nicht aus Tadelsucht an; denn ich liebe den Dichter und schäze seine Werke, von angenehmern Inhalt, hoch; dieses Beyspiel soll blos andern zur Warnung dienen.

Auch muß man sich vor dem Wahn hüten, daß blos äußerliche fürchterliche Veranstaltungen das wahre Pathos bewürken. Es muß in den Empfindungen und Entschließungen der Personen liegen, und beym Schauspiel auf eine mäßige, bescheidene Weise durch das Aeußerliche unterstüzt werden. In Lessings Emilia Galotti, ist viel pathetisches, ohne schweeres Wortgepräng, und ohne viel schwarze, fürchterliche Veranstaltungen für das Aug.

Das Pathetische bekommt seinen Werth von der Stärke und der Dauer solcher Eindrüke, die sich auf die wichtigsten Angelegenheiten des Lebens beziehen. Denn vorübergehende Leidenschaften und gemeines Interesse pathetisch zu behandeln, würde mehr ins Comische, als ins Ernsthafte fallen: also hat es nur da statt, wo es um das Leben, oder um die ganze Glükseligkeit einer Hauptperson, ganzer Familien, oder gar ganzer Völker zu thun, oder wo der Gegenstand seiner Natur nach ganz erhaben ist. In dem es also die wichtigsten Kräfte der Seele reizet, und sie an großen Gegenständen in Würksamkeit sezet, wird das Herz dadurch gestärkt, und sein Empfindungsvermögen erweitert. Darum kann keine Nation in Absicht auf den Flor der schönen Künste sich mit andern in den Streit um den Vorzug einlassen, bis sie beträchtliche Werke von pathetischem Inhalt aufzuweisen hat.

1Aber ganz unschiklich ist es, daß man, wie Hr. Riedel gethan, einer Sammlung, die Erklärungen aller Leidenschaften und Beobachtungen über deren Ursprung und Würkung enthält, den Titel über das Pathos vorseze. Warum nicht über die Leidenschaften? Denn von jenem Titel erwartet man blos Gedanken über die schrekhaften und tragischen Leidenschaften.
2Παϑος δε ὑψος μετεχει τοσοτον, ὁωοσον ἠθοσ ἠδονης C. XXIX.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 884-885.
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