Temperatur

[1147] Temperatur. (Musik)

Das Wort bedeutet überhaupt eine wol überlegte kleine Abweichung von der höchsten Reinigkeit eines Intervalles, um es dadurch in Verbindung mit andern desto brauchbarer zu machen1; besonders aber drükt man dadurch die Einrichtung des ganzen Tonsystems aus, nach welcher einigen Tönen etwas von der genauen Reinigkeit die sie in Absicht auf gewisse Tonarten haben sollten, benommen wird, damit sie auch in andern Tonarten können gebraucht werden. Wir haben in dem Artikel System gezeiget, wie so wol das alte, als das neuere reine diatonische System beschaffen seyn müsse. Sezet man nun, daß jede Octave dieses Systems C, D, E, F, G, A, B, H, c. so gestimmt sey, wie die dort angezeigten Verhältnisse es erfodern, und daß man sich mit diesen Tönen, deren jeder, nur B und H ausgenommen zur Tonica kann gemacht werden, begnüge, so hat man keine Temperatur nöthig. Jeder zur Tonica angenommene Ton hat zwar andre Intervalle, als die andern, aber sie sind so beschaffen, daß man mannigfaltige und schöne Melodien zu mehrern Stimmen damit sezen kann.

So bediente man sich in der That des diatonischen Systems bis in das vorige Jahrhundert: damals aber fieng man an eine größere Mannigfaltigkeit von Tönen und Modulationen zu suchen. Man war nicht mehr zufrieden, blos aus sechs Haupttönen, und zwar aus jedem entweder nur in der großen oder in der kleinen Tonart zu spiehlen. Die [1147] schon vorher eingeführten halben Töne Cis, Dis, Fis, und Gis, wurden allmählig dazu gebraucht, daß man aus einem Grundtone, der in dem ehemaligen System nur die große, oder nur die kleine Tonart hatte, nun auch in der kleinen, oder großen spiehlte. Endlich fiel man auch darauf die neuen halben Töne selbst zu Haupttönen zu machen und das ganze System so einzurichten, daß jede der zwölf Sayten der Octave, so wol in der großen, als kleinen Tonart zur Tonica dienen könnte.

Dieses war nun mit zwölf Sayten, deren Stimmung auf Orgeln und Clavieren nothwendig festgesezt werden mußte, nicht zu erhalten. Denn es ist keine Stimmung von zwölf Sayten, die hernach in höhern Octaven wiederholt werden, möglich, die so wäre, daß jede dieser Sayten ihre reine diatonische Intervalle hätte, wie jeder, der Töne berechnen kann, leicht finden wird. Doch sah man, daß diese Foderungen beynahe zu erhalten wären, wenn man einigen Intervallen an ihrer diatonischen Reinigkeit etwas weniges wollte fehlen lassen. Dieses veranlassete also die Tonsezer eine Temperatur zu suchen, die das Spiehlen aus zwölf Haupttönen, so wol in Dur, als in Moll möglich machte.

Es sind nun sehr vielerley solche Temperaturen vorgeschlagen worden. Wir halten es aber für überflüßig sie hier anzuzeigen. Gar viel Tonsezer erklärten sich für die sogenannte gleichschwebende Temperatur. Und da sie noch gegenwärtig bey vielen in großer Achtung stehet; so wollen wir ihre Beschaffenheit hier beschreiben. Vorher aber müssen wir die allgemeinen Grundsäze, wonach jede Temperatur sich richten muß, anzeigen. Das Fundament jeder Temperatur liegt in der Foderung, daß jeder der zwölf Töne des Systems als eine Tonica so wol in der großen, als in der kleinen Tonart könne gebraucht werden, ohne daß die Anzahl der Sayten vermehrt werde. Dieser Foderung zufolge muß jeder der zwölf Töne, seine Octave, seine Quinte, Quarte, große und kleine Terz haben; weil dieses die wesentlichen Intervalle sind, auf welchen die Harmonie beruhet. Nun findet man aber gar bald, daß es unmöglich sey jedem Tone diese nöthigen Intervalle in ihrer Reinigkeit zu geben, folglich, daß man gezwungen sey einige Intervalle etwas höher, andre etwas tiefer zu lassen, als sie in ihrer Vollkommenheit wären. Dieses Abweichen von der Reinigkeit muß aber nicht so weit gehen, daß die Dreyklänge dadurch ihre consonirende Natur verlöhren.

Hier kommt es also zuerst auf die Frag an, um wie viel eine Consonanz höher oder tiefer, als ihre vollkommene Reinigkeit erfodert, könne genommen wer den, ohne ihre consonirende Natur zu verliehren? Alle Tonsezer stimmen darin über ein, daß die Octave völlig rein seyn müsse, und daß auch die Quinte keine merkliche Abweichung von der Reinigkeit vertrage. Die Terzen aber sind noch brauchbar, wenn sie allenfalls um ein ganzes Comma von ihrer Reinigkeit abgehen.

Dieses sind nun die Grundsäze, nach welchen jede Temperatur zu beurtheilen ist. Nun wollen wir die gleichschwebende Temperatur näher betrachten. Sie besteht darin, daß die Octave, als C-c in zwölf völlig gleiche Intervalle getheilt werde, so daß zwischen C und Cis, Cis und D, D und Dis u.s.f. bis H-c. die Stufen völlig gleich seyen. Hiezu nun würde erfodert, daß die Längen der Sayten, in Zahlen ausgedrükt, eine Reyhe von zwölf Proportionalzahlen ausmachten. Mithin wären zwischen zwey Zahlen, die sich gegen einander verhielten wie 2 zu 1. eilf mittlere Proportionalzahlen zu bestimmen. Dieses ist nun weder durch Rechnen, noch durch geometrische Construktionen möglich. Doch kann man auf beyderley Art die Längen der eilf Mittelsayten so bestimmen, daß sie von der strengsten Genauigkeit wenig abweichen. Da nun die Octave aus fünf ganzen Tönen von dem Verhältniß 8/9 und zwey halben Tönen von dem Verhältniß 243/256 besteht2, welche zusammen auch einen ganzen Ton, von beynahe 9/10 ausmachen, so giebt die gleichschwebende Temperatur für die Octave zwölf halbe Töne, davon zwey ziemlich genau einen ganzen diatonischen Ton von 8/9 ausmachen.

Ferner hat jede Sayte dieser Temperatur ihre Quinte und Quarte, die fast unmerklich von der völligen Reinigkeit dieser Intervalle abweichen. Denn die Quinten schweben nur etwa um den zwölften Theil eines großen Comma unter sich, folglich die Quarten so viel über sich, welches kaum zu merken ist, die Terzen aber weichen ohngefehr um 1/3 eines Comma von ihrer Reinigkeit ab.

Da nun durch diese Temperatur alle Consonanzen beynahe ihre völlige Reinigkeit behalten, so scheinet sie allerdings von allen andern den Vorzug zu verdienen. Es läßt sich auch erweisen, daß keine Temperatur [1148] möglich sey, durch welche gar alle Consonanzen ihrer Reinigkeit so nahe kommen, als durch diese. Daher ist es ohne Zweifel gekommen, daß sie so viel Beyfall gefunden hat.

Untersucht man aber die Sache etwas genauer, so findet man, daß diese Vortheile der gleichschwebenden Temperatur nur ein falscher Schein sind. Erstlich ist es schlechterdings unmöglich, Claviere und Orgeln nach dieser Temperatur zu stimmen, wenn nicht jeder Ton in der Octave nach einem sehr richtig getheilten Monochord besonders gestimmt wird. Denn wer kann sich rühmen nur eine Quinte nach dem Gehör so zu stimmen, daß sie gerade um die Kleinigkeit, die die gleichschwebende Temperatur erfodert, abwerts schwebe? Was auch die geübtesten Stimmer hierüber versichern mögen, so begreift jeder unpartheyischer Beurtheiler, daß die Sache nicht möglich sey. Wollte man also diese Temperatur annehmen, so müßte bey jedem Clavier auch ein richtig getheiltes Monochord befindlich seyn, nach welchem man, so oft es nöthig ist, stimmen könnte.

Wollte man sich aber auch dieses gefallen lassen, so sind noch wichtigere Gründe vorhanden, diese Temperatur zu verwerfen. Es ist offenbar, daß dadurch die Tonarten der Musik nur auf zwey herunter gesezt würden, die harte und weiche; alle Durtöne wären transponirte Töne des C dur, und alle Molltöne transponirte Töne des C mol. Deswegen fielen durch diese Temperatur gleich alle Vortheile, die man aus der Mannigfaltigkeit der Tonarten zieht, völlig weg. Diese sind aber zu schäzbar, als daß Tonsezer von Gefühl sich derselben begeben könnten.3

Endlich ist auch noch der Umstand zu bemerken, daß in verschiedenen Fällen aus dem reinesten Gesange, den zwey Singestimmen gegen einander führen, Terzen entstehen, die doch merklich höher sind, als die, welche die gleichschwebende Temperatur angiebt, wie Hr. Kirnberger deutlich bewiesen hat4. In diesen Fällen, würden also die nach der gleichschwebenden Temperatur gestimmten Instrumente, gegen die Singestimmen und Violine schlecht harmoniren.

Dieses sind die Gründe, die uns bewegen, die gleichschwebende Temperatur ihrer scheinbaren Vollkommenheit ungeachtet, zu verwerfen, und ihr die Kirnbergerische vorzuziehen. Die Stimmung dieser Temperatur, die jeder gute Stimmer ohne Mühe treffen kann, ist bereits beschrieben worden5. Es bleibt also hier nur übrig, daß wir ihre Vortheile deutlich anzeigen. Das Hauptverdienst derselben besteht darin, daß sie nicht willkührlich, wie so viel andere Temperaturen, einem Tone zum Schaden der andern, reine Intervalle giebt, sondern solche, die ein vielstimmiger Gesang natürlicher Weise hervorbringt.

Wir haben kurz vorher angemerkt, daß, wenn mehrere Stimmen, oder Instrumente ohne alle Temperatur, jede für sich nach den reinesten Intervallen fortschreitet, bey ihrer Vereinigung würklich Harmonien, oder Accorde entstehen, die in verschiedenen Tönen verschiedentlich temperirt sind. Durch einerley Fortschreitung zweyer Stimmen entstehen bey ihrer Vereinigung bald ganz reine, bald etwas erhöhete große Terzen, und so auch bald ganz reine, bald etwas verminderte kleine Terzen. Dieses ist so fühlbar, daß geübte Spiehler aus diesen so entstandenen Accorden, den Ton erkennen, aus welchem ein Stük gesezt ist, die Instrumente mögen höher, oder tiefer, als gewöhnlich gestimmt seyn. Deutliche Beyspiehle von der Verschiedenheit der Terzen, die auf solche Weise entstehen, hat Hr. Kirnberger in seinem vorher angeführten Werke gegeben.

Hieraus folget nun, daß bey dem reinesten Gesange ein Grundton andere große oder kleine Terzen habe, als ein anderer. Demnach wäre nicht die Temperatur (wenn sie auch möglich wäre) die beste, die jedem Tone seine reine große Terz in dem Verhältnis 4/5, und seine reine kleine Terz in dem Verhältnis von 5/6 gäbe; weil in einigen Tönen solche Terzen würklich nicht statt haben, sondern bey dem reinesten und natürlichsten Gesange zweyer Stimmen gegen einander, etwas höher, oder tiefer werden. Die Hauptsache bey Erfindung einer wahren, in der Natur gegründeten Temperatur kam darauf an, jedem Tone solche Terzen zu geben, die nach der angeführten Bemerkung, ihm natürlich sind. Daß dieses durch die Kirnbergerische Temperatur würklich geschehe, wird jeder, der im Stand ist Harmonien zu fühlen, von selbst bemerken. Dieses ist der Grund, warum wir sie allen andern vorziehen, und für die einzige natürliche Temperatur halten.

Wird eine Orgel, oder ein Clavier nach dieser Temperatur gestimmt, welches ganz leicht ist6, [1149] so bekommt jeder Ton, wegen der ihm eigenen Accorde seinen besondern Charakter, den er immer behauptet, man stimme die Instrumenten in Chor- oder Cammerton, oder überhaupt höher oder tiefer als gewöhnlich. Die so genannten Kirchentöne sind nach dieser Temperatur die reinesten, und von den andern Tönen hat jeder seine Art, so daß ein geschikter Tonsezer den Ton aussuchen kann, der sich in besondern Fällen für seinen Ausdruk am besten schiket.7 Wer nicht einsiehet wie wichtig in gewissen Fällen diese Wahl des Tones sey, der versuche den fürtreflichen Chor aus der Graunischen Oper Iphigenia, Mora, mora Ifigenia etc. in C dur, oder F dur zu versezen, und gebe bey der Aufführung desselben Acht, wie sehr er seine Kraft in diesen Tönen verliehren wird.

Erwähnte Temperatur giebt demnach verschiedene Tonleitern, deren jede sich vorzüglich zu gewissen Charakteren des Ausdruks schiket. Hiebey wollen wir beyläufig anmerken, daß sowohl das Dis als Gis dur nach dieser Stimmung gerade die diatonische Tonleiter des Pythagoras haben, die wir an seinem Orte beschrieben haben.8 Wer also wissen will, wie dieses alte System klinget, kann es auf einer Orgel, die nach unsrer Temperatur gestimmt ist, im Spiehlen aus Dis und Gis dur erfahren.

Uebrigens haben wir bereits anderswo angemerkt, daß in dieser Temperatur nur drey temperirte Quinten vorkommen,9 so daß die Abweichungen blos auf solche Intervalle kommen, die sie ertragen, oder gar erfodern. Es ist demnach zu wünschen, daß diese Temperatur durchgehends eingeführt werde.

1S. Stimmung.
2S. System.
3S. Tonarten und Ton.
4S. Dessen Kunst des reinen Sazes. S. 11. 12.
5S. Stimmung.
6S. Stimmung.
7S. Ton.
8S. System. S. 1126.
9S. Quinte.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 1147-1150.
Lizenz:
Faksimiles:
1147 | 1148 | 1149 | 1150
Kategorien:

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Nachtstücke

Nachtstücke

E.T.A. Hoffmanns zweiter Erzählzyklus versucht 1817 durch den Hinweis auf den »Verfasser der Fantasiestücke in Callots Manier« an den großen Erfolg des ersten anzuknüpfen. Die Nachtstücke thematisieren vor allem die dunkle Seite der Seele, das Unheimliche und das Grauenvolle. Diese acht Erzählungen sind enthalten: Der Sandmann, Ignaz Denner, Die Jesuiterkirche in G., Das Sanctus, Das öde Haus, Das Majorat, Das Gelübde, Das steinerne Herz

244 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon