[1162] Tonarten der Alten; Kirchentöne. (Musik)
Die Alten hatten bey wenigern Tönen mehrere Tonarten, deren Tonleiter in den Tönen der diatonischen Octave von C bis c enthalten waren. Nachdem sie die Tetrachorde von vier Tönen abgeschaft1, und dagegen die Tonleitern von acht diatonischen Tönen eingeführt hatten, erhielten sie, indem sie den Grundton derselben einen oder mehrere Töne höher oder tiefer als C nahmen, durch die veränderte Lage der beyden halben Töne E-F und H-c sieben verschiedene Tonleitern und Tonarten, nämlich so viel als sie Töne in einer Octave hatten. Sie erhielten aber dadurch, daß sie jeder Tonart durch die harmonische Theilung der Octave des Grundtones, und durch die arithmetische Theilung der Octave der Quinte des Grundtones, einen zweyfachen Wiederschlag2 zu geben suchten, noch mehrere Tonarten, obgleich nicht mehrere Tonleitern. Vermittelst dieser Theilung konnte jede Tonart auf zweyerley Weise angesehen werden, 1) indem die Tonleiter desselben von dem Grundton zur Quinte und Octave, und 2) indem sie von der Quinte des Grundtones zur Octave und Duodecime desselben aufstieg. Jene wurde die authentische, diese die plagalische Tonart genennet. Hätte jeder Ton seine reine Quinte und Quarte in dem System gehabt, so würden in allem vierzehn Tonarten gewesen seyn, nämlich sieben authentische und sieben plagalische. Da dem H aber die Quinte, und dem F die Quarte fehlte, so konnte jener nur plagalisch, und dieser nur authentisch seyn: daher waren nur zwölf Tonarten möglich, deren Tonleiter, und Benennung, nach der Ordnung, wie sie bey den Alten auf einander folgten, in folgender Vorstellung zu sehen ist:
Man findet hin und wieder bey den alten Schriftstellern einige veränderte Benennungen, doch sind die hier angegebenen die gewöhnlichsten.
Man sieht, daß jede authentische oder Haupttonart ihre plagalische oder Nebentonart habe, die von der ersten blos durch den Umfang der Tonleiter unterschieden, und wie ihre Dominante anzusehen ist. Diese Eintheilung war nöthig, sowol jede Tonart an sich, als auch ihre melodische Fortschreitungen und Schlüsse, und vornemlich in Fugen die Antwort des Thema, oder den Gefährten des Führers3 genau zu bestimmen.
Ohnedem würde mancher Choralgesang ein zweydeutiges Fugenthema abgeben. Z.B.
Dieser Saz kann sowol in G als C, nämlich in der myxolydischen oder hypojonischen Tonart geschrieben seyn. Im ersten Fall ist die Tonart authentisch, [1162] und die Antwort muß in D nämlich in der plagalischen hypomyxolydischen Tonart geschehen; im zweyten Fall ist sie plagalisch, und der Gefährte muß in C nämlich in der authentischen jonischen Tonart antworten. Hierauf haben die Organisten hauptsächlich in ihren Vorspiehlen Acht zu geben, auch wenn sie den Choral blos harmonisch begleiten. Es giebt Kirchengesänge, die durchgängig authentisch sind; es giebt aber auch andere, die durchgängig plagalisch sind, wie z.B. über das Lied: Ach Gott vom Himmel sieh darein etc. Die Melodie dieses Liedes ist in der hypophrygischen Tonart, und nicht aus unserm G dur, wie einige Organisten glauben, die durch ihre abgeschmakte harmonische Begleitung dieser vortreflichen und den Worten so vollkommen angemessenen Choralmelodie allen Ausdruk benehmen.
Man kann in den Choralgesängen die authentische oder plagalische Tonart nicht verkennen, wenn man nur auf den Umfang der ganzen Melodie Acht giebt. Die authentische Tonart beobachtet in der Melodie den Umfang von dem Grundton bis zu seiner Octave die plagalische hingegen die Octave von der Quinte des Grundtones, wie die oben angezeigten Tonleitern darthun. Ein oder etliche Töne über oder unter dem Umfang der Octave hebt diesen Unterschied nicht auf. Aber nicht allein in den Choralgesängen, sondern auch in vielen unserer heutigen Singstüke, kann dieser Unterschied beobachtet werden. So ist folgender Anfang einer Graunischen Opernarie:
authentisch, und folgender plagalisch:
Manche Arie ist durchgehends authentisch, und andere sind durchgehends plagalisch. Da bey den leztern die harmonische Begleitung nothwendiger ist, als bey den erstern, so könnte hieraus die Regel gezogen werden, daß man in Liedern zum Singen, die oft ohne alle Begleitung gesungen werden, das Plagalische vermeiden, und durchgängig authentisch verfahren müsse.
Man hat vieles für und wieder die alten Tonarten geschrieben, und dem Anschein nach sind sie blos aus Mangel der nachher eingeführten Töne Cis, Dis etc.4 entstanden. Wenn man aber die verschiedenen Würkungen erwägt, die jede Tonart auf die Gemüther und selbst auf die Sitten der Alten gehabt, und die große Kraft, die sie noch heute in den Kirchengesängen haben, so kann man sie wol nicht blos zufällig und mangelhaft nennen. Es ist unstreitig, daß die verschiedene Lage der halben Töne E-F und H-c jeder Tonart einen unterscheidenden Ausdruk giebt. Die Fortschreitung von in der jonischen Tonart hat ohngeachtet des halben Tones eher etwas fröhliches als trauriges; hingegen macht dieser nämliche halbe Ton die Quartenfortschreitung der phrygischen Tonart ungemein traurig. Hierüber verdienet Prinz in seiner musikalischen Kunstübung von der Quarte5 und Quinte6 nachgelesen zu werden, der den verschiedenen Ausdruk der stufenweisen Quarten und Quintenfortschreitung jeder Tonart nach der Lage des darinn vorkommenden halben Tones mit vieler Scharfsinnigkeit bestimmt, und daraus den besondern Ausdruk jeder Tonart im Ganzen herleitet. Nach ihm ist die Jonische Tonart lustig und muthig; die Dorische ernsthaft und andächtig; die Phrygische sehr traurig; die Lydische hart und unfreundlich, die Myxolydische mäßig lustig, und die Aeolische zärtlich und etwas traurig. Wir finden in der That, daß die Kirchengesänge, die uns in diesen Tonarten übrig geblieben sind, völlig diesen Ausdruk haben, der durch eine der Tonart angemessene harmonische Begleitung noch verstärkt, durch eine fremde neumodische Begleitung aber ganz ausgelöscht wird. Ueberhaupt herrscht in den alten Tonarten ein innerer der Kirche gemäßer Anstand und Würde, der in den beyden neuern Dur-und Molltonarten allein nicht zu erreichen ist, ob sie gleich Abkommlinge der Jonischen und Aeolischen, und die vollkommensten Tonarten sind.7
[1163] Daher sollten die übrigen alten Tonarten, in Kirchenmusiken nicht so gar aus der Acht gelassen, sondern wenigstens mit den unsrigen verbunden werden. Da wir durch unser erweitertes System, und durch die den Alten unbekannten Semitonien im Stande sind, jede Tonart in zwölf Töne zu versezen, und dem Gesange eine der Tonart gemäße volle harmonische Begleitung zu geben, so würden die Kirchentöne dadurch noch eine vollkommnere Gestalt gewinnen, und von der größten Kraft seyn. Die vortreflichen Präludien vor den Catechismusgesängen des alten Bachs, und viele Kirchenstüke dieses großen Tonkünstlers zeugen, welcher mannigfaltigen Behandlung und großen Ausdruks die alten Tonarten fähig seyn.
Viele Neuere, die keine andere als unsere Dur- oder Molltonart kennen, oder doch nicht für gültig erkennen wollen, mögen versuchen, ob sie im Stande seyn, eine einzige so vollkommene, ausdruksvolle und herzangreifende Choralmelodie in unseren Tonarten zu sezen, als es deren eine Menge in den alten giebt. Unmöglich können die melodischen Fortschreitungen, Modulationen und Cadenzen, die man in Opernarien und Tanzstüken zu hören gewohnt ist, in der Kirche von Kraft und Anstand, und zu jedem Ausdruk der Kirche schiklich seyn. Hingegen gewinnt der Choralgesang in den alten Tonarten durch die Mannigfaltigkeit der Modulationen, die in unseren Tonarten fremd und fehlerhaft sind, ein ganz anderes Ansehen, und die Aufmerksamkeit, die bey so einförmigen Melodien sowol in Ansehung der Fortschreitung der Töne, als der Bewegung und der rhythmischen Schritte leicht unterbrochen werden könnte, wird beständig durch das Unerwartete und Fremde des Gesanges und der Modulation unterhalten. Man halte folgenden Choral in der dorischen Tonart gegen den unter ihm stehenden nämlichen Choral aus dem D moll:
Statt daß in der untersten Melodie keine andere Modulation als in dem Hauptton, seiner Mediante, und bey dem zweyten Saz ein halber Schluß in deren Dominante, der doch viel zu unkräftig in der Kirche ist, vernommen wird, wodurch die Melodie bey der ersten Wiederholung schleppend und langweilig wird, reizt der obere Gesang die Aufmerksamkeit bey jeder Wiederholung durch die reiche Modulation, indem der erste Saz desselben gleich von dem Hauptton nach C dur ausweicht, der zweyte nach G dur, der dritte nach A moll, der vierte nach F dur, und der lezte wieder in den Hauptton zurükkehrt.
Dieses kann hinlänglich seyn, den Werth und die Nothwendigkeit der alten Tonarten vornehmlich in dem Choralgesang zu erweisen. Wer übrigens von der Beschaffenheit und Behandlung dieser Tonarten näher unterrichtet seyn will, kann darüber die Werke des P. Mersenne, Kircher, Murschhauser, Prinz, Fux etc. und die Sing- Spiel- und Dichtkunst des Salomon von Tyl nachschlagen.
Brockhaus-1911: Plagalische Tonarten
DamenConvLex-1834: Verwandtschaft der Tonarten · Tonarten · Dur-Tonarten
Goetzinger-1885: Befestigungen der alten Germanen
Meyers-1905: Totenbuch der alten Ägypter · Kirchentöne · Alten [1] · Alten [2]
Pataky-1898: Alten, Frl. Hedwig v.
Pierer-1857: Bund der alten Minne · Alten-Ötting · Alten-Weddingen · Auf den alten Mann einschlagen · Alten-Elv · Alten [1] · Alten Vörde · Alten [3] · Alten [2]
Sulzer-1771: Alten, Die
Buchempfehlung
Als Hoffmanns Verleger Reimer ihn 1818 zu einem dritten Erzählzyklus - nach den Fantasie- und den Nachtstücken - animiert, entscheidet sich der Autor, die Sammlung in eine Rahmenhandlung zu kleiden, die seiner Lebenswelt entlehnt ist. In den Jahren von 1814 bis 1818 traf sich E.T.A. Hoffmann regelmäßig mit literarischen Freunden, zu denen u.a. Fouqué und Chamisso gehörten, zu sogenannten Seraphinen-Abenden. Daraus entwickelt er die Serapionsbrüder, die sich gegenseitig als vermeintliche Autoren ihre Erzählungen vortragen und dabei dem serapiontischen Prinzip folgen, jede Form von Nachahmungspoetik und jeden sogenannten Realismus zu unterlassen, sondern allein das im Inneren des Künstlers geschaute Bild durch die Kunst der Poesie der Außenwelt zu zeigen. Der Zyklus enthält unter anderen diese Erzählungen: Rat Krespel, Die Fermate, Der Dichter und der Komponist, Ein Fragment aus dem Leben dreier Freunde, Der Artushof, Die Bergwerke zu Falun, Nußknacker und Mausekönig, Der Kampf der Sänger, Die Automate, Doge und Dogaresse, Meister Martin der Küfner und seine Gesellen, Das fremde Kind, Der unheimliche Gast, Das Fräulein von Scuderi, Spieler-Glück, Der Baron von B., Signor Formica
746 Seiten, 24.80 Euro
Buchempfehlung
Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.
430 Seiten, 19.80 Euro