[403] Charte hießen im Mittelalter alle Arten von Urkunden, und wurden theils nach ihrem Inhalte, theils nach ihrer Form und dem Material, auf das sie geschrieben waren, näher bezeichnet. In England gab man vorzugsweise den lat. Namen Chartae libertatum solchen Urkunden, wodurch dem Volke oder gewissen Corporationen von den Regenten Rechte und Freiheiten zugestanden oder bestätigt wurden, und von der berühmtesten Urkunde dieser Art, der Magna charta (s.d.), ward später das Wort Charte häufig für Verfassungsurkunde oder Constitution (s.d.) gebraucht. Namentlich erhielt die Verfassung den Namen Charte constitutionnelle, welche Frankreich im J. 1814 von Ludwig XVIII., obgleich mit Widerwillen, verliehen wurde, indem nur dadurch der Kaiser Alexander sich zur Einwilligung in die Wiederherstellung der Bourbons bewegen ließ. Schon die Art und Weise der Verleihung der Charte mußte aber den Stolz der franz. Nation beleidigen, indem sie als ein reines Gnadengeschenk, welches der König vermöge der ihm von Gott und seinen Vorfahren übertragenen Machtvollkommenheit dem Volke verleihe, dargestellt ward, was gewissermaßen im Voraus andeutete, daß der König sich das Recht zuschreibe, dieses Geschenk, vermöge derselben Machtvollkommenheit, jederzeit wieder zurückzunehmen. Die einzelnen Bestimmungen der Charte waren indeß mit wenigen Ausnahmen freisinnig und räumten dem franz. Volke Rechte ein, um die es von vielen Andern beneidet werden konnte. Allein die Verfassung wurde nicht in diesem Geiste gehandhabt, ihre Grundsätze nicht entwickelt, sondern die nothwendigen Folgen derselben vielmehr verkümmert, auch blieb daneben die ganze, nach den despotischen Grundsätzen des Kaiserreichs organisirte Verwaltung dem Wesen nach unverändert. Nach der zweiten Restauration begann der mit Unterbrechungen bald offene, bald verdeckte von der franz. Hofpartei geführte Kampf wider die Charte, der endlich im Juli 1830 eine neue Revolution in Frankreich (s.d.) herbeiführte, wodurch die ältere Linie der Bourbons die Krone verlor. Der zu ihrem Nachfolger berufene Ludwig Philipp bestieg den Thron mit den Worten: »Die Charte wird hinführo eine Wahrheit sein«, und beschwor feierlich die revidirte und als einen Vertrag mit der Nation von ihm angenommene Charte von 1814, zu deren wichtigsten Veränderungen die ewige Verbannung der Censur und außerordentlichen Gerichtshöfe, die Öffentlichkeit der Sitzungen der Pairskammer, Übertragung des Rechts, neue Gesetze vorzuschlagen, auch auf die Kammern, sowie Ausdehnung der Befugniß, die Minister anzuklagen, gehören. Ferner wurde der 14. Artikel beseitigt, auf welchen die sechs Ordonnanzen Karl X. vom 25. Jul. sich gestützt hatten, und der, nach Auslegung seiner Minister, der Regierung mit Umgehung der Kammern eine außerordentliche Gewalt einräumte, die Wahlfreiheit wiederhergestellt, auch später noch die Erblichkeit der Pairs aufgehoben.