[27] Parallaxe (von παραλλάσσειν = wechseln) nennt man die Richtungsverschiedenheit zweier Strahlen, die von zwei verschiedenen (verhältnismäßig nahe beieinander gelegenen) Punkten nach einem dritten hinzielen. Daher auch den Winkel, unter welchem eine gegebene Strecke von einem entfernten Punkt aus gesehen erscheint. Weiterhin nennt man so die Verschiebung, die durch kleine Bewegungen des Auges (z.B. auch durch das stereoskopische Sehen beider Augen) in der Koinzidenz von Objekten oder deren Bildern hervorgebracht wird.
Denkt man sich die Strecke a (Fig. 1) von dem weitentfernten Punkt S aus unter dem Winkel ε gesehen, so kann man diesen die Parallaxe des Objektes S mit Bezug auf a nennen. Der Betrag dieser Parallaxe wird bei gleichbleibendem Werte von D = A S offenbar von dem Winkel B A S abhängig sein. Das Maximum wird s erreichen für A S = B S mit tg ε/2 = 1/2 · a/D. Null wird ε werden, wenn S in der Richtung A B liegt. Da es sich bei allen Parallaxenrechnungen stets (selbst im Falle des Mondes) nur um kleine Winkel (die 1° nicht überschreiten, meist aber unter 1' bleiben) handelt, so kann man fast immer (nur eben beim Mond nicht) an Stelle der obigen Gleichung setzen ε'' = a/D · ρ'', wo ρ'' = 206265 bedeutet. Es geht daraus hervor, daß unter den gemachten Voraussetzungen die Parallaxe umgekehrt proportional der Entfernung ist. In der Astronomie ist unter der Strecke a entweder der Halbmesser des Erdäquators (für Entfernungen innerhalb des Sonnensystems) oder der (mittlere) Erdbahnhalbmesser (etwa 23300 Erdhalbmesser; für Entfernungen der Fixsterne von unserm System) zu verstehen. Man unterscheidet danach wohl auch tägliche und jährliche Parallaxe. Während für die Sonnenparallaxe die Verschiedenheit der Länge der einzelnen Erdhalbmesser (Differenz der Länge des Aequator- und des Polhalbmessers in Teilen des Halbmessers etwa 1/300) kaum in Betracht kommt und man deshalb hier nur von Horizontalparallaxe und Höhenparallaxe spricht (s. unten), ist die Entfernung des Mondes so gering (rund nur 60 Erdhalbmesser im Mittel), daß bei ihm zunächst von der Aequatorialhorizontalparallaxe (Winkel, unter dem vom Mondmittelpunkt aus der Aequatorhalbmesser der Erde erscheint) zu sprechen ist; ferner kommt beim Mond auch eine merkliche Seitenparallaxe (Azimutalparallaxe) in Betracht. (Diese wird durch den Umstand bedingt, daß die durch die Normale am Beobachtungsort und das Zentrum des Mondes gelegte Ebene nicht durch den Mittelpunkt der Erde geht, außer wenn sie mit dem Meridian zusammenfällt.) Endlich ist beim Mond auch die »parallaktische Vergrößerung des scheinbaren Mondhalbmessers« zu erwähnen; bei der Sonne ist diese bereits, wenn es sich nicht um sehr genaue Messungen des Sonnendurchmessers handelt [1], unmerklich.
Die Höhenparallaxe eines Gestirns (der Sonne, eines Planeten oder des Mondes; die Fixsterne haben keine Höhenparallaxe, weil ihre Entfernung im Vergleich mit dem Erdhalbmesser für jede Messungs- und Rechnungsschärfe ∞ ist) ist der Unterschied der Höhen eines Gestirns über dem scheinbaren und über dem wahren Horizont des Beobachtungsorts oder der Unterschied zwischen der geozentrischen und der am Beobachtungspunkt gemessenen Zenitdistanz. Ist in Fig. 2 OA der Radius der Erde für A gültig und in S die Sonne oder ein Gestirn, für welches der Quotient OA : OS einen mit Bezug auf die Rechnungsschärfe merklichen Wert hat, so ist p = h h' = z' z die Höhenparallaxe des Gestirns für die Zenitdistanz z. Diese parallaktische Reduktion p einer gemessenen Zenitdistanz auf den Erdmittelpunkt wird für z = 0 auch gleich Null, und für z = 90° erreicht sie ihr Maximum für den betreffenden Ort; liegt der Beobachtungsort am Aequator, so wird im letzteren Fall p = π = Horizontaläquatorialparallaxe. Diese wird für die einzelnen Körper unsers Sonnensystems insofern eine Konstante sein, als man sie auf die Einheit der Entfernung (mittlere Entfernung der Erde von der Sonne) bezieht, sie wird aber veränderlich sein je nach der im Verfolg des Umlaufes der Planeten u.s.w. um die Sonne sich ändernden Entfernungen ErdePlanet. Mit Hilfe der in den astronomischen Jahrbüchern gegebenen Werte der jeweiligen Aequatorialhorizontalparallaxe n ist für die betreffende Zenitdistanz dann die Höhenparallaxe nach p = π cos h' = π sin z' zu berechnen. (Die Höhenparallaxe wirkt der Refraktion [s.d.] entgegen; ist r die Refraktion, so ist die Gesamtreduktion einer gemessenen Höhe oder Zenitdistanz, falls p überhaupt einen merklichen Wert erreicht [r p] von/zu einer gemessenen Höhe/Zenitdistanz zu subtrahieren/addieren.) Für einen Fixstern (vgl. * St Fig. 2) ist die tägliche Parallaxe 0, A St und O St sind parallel.[27]
Die Größe von π für die Sonne, die (Aequatorial-) Horizontalparallaxe der Sonne ist das Grundmaß für alle Abmessungen im Weltraum. Dieser Winkel π⊙, unter dem der Aequatorhalbmesser der Erde vom Sonnenmittelpunkt aus erscheint bei dem mittleren Abstand der Erde von der Sonne, wurde nach Encke lange zu 8'',57 angenommen [2]; es war aber schon in den 1860er Jahren bekannt, daß dieser Wert zu klein sein mußte, da eine Reihe andrer Methoden als die Venusvorübergänge größere Zahlen lieferten [3], die bis auf 8'',9 gingen. Neuerdings betrachtet man aber den Wert 8',80 als den wahrscheinlichsten [4]; eine der neuesten Bestimmungen ist die von Gill und Elkin aus Messungen in den Oppositionen dreier Planetoiden, 8'',804 ± 0'',005. Auf die Art der Bestimmung (Venusvorübergänge leisten nicht das Beste; Oppositionen von Mars und von kleinen Planeten, gegenwärtig besonders der Planet [433] Eros, welcher der Erde in günstigen Oppositionen noch näher kommen kann als Mars) kann hier nicht eingegangen werden. Infolge der elliptischen Gestalt der Erdbahn (numerische Exzentrizität rund 0,017) verhalten sich der Maximalwert und Minimalwert von π⊙ (jener zur Zeit des Perihels, Anfang Januar, dieser zur Zeit des Aphels, Anfang Juli, vorhanden) wie (1 + 0,017) : (1 0,017) oder wie 1,033 : 1.
Die Horizontalparallaxen der Planeten sind für die uns nach innen (der Sonne zu) und nach außen benachbarten Planeten sehr stark veränderlich, da die D für diese Planeten in sehr weiten Grenzen schwanken. Aber z.B. die Bahn des Jupiter schon umschließt die Erdbahn in einem verhältnismäßig so großen Kreis, daß die Erdhalbmesserparallaxe des Jupiter nur zwischen etwa 11/2'' und 2'' schwankt. Für Venus schwankt die Horizontalparallaxe zwischen 33'' und 5'', für Mars zwischen 23'' und 13''. Für den Mond liegt die Aequatorialhorizontalparallaxe zwischen 61',4 (Perigäum) und 53',9 (Apogäum). Wegen der Höhenparallaxe, Seitenparallaxe und parallaktischen Halbmesservergrößerung des Mondes, die bei allen Mondbeobachtungen zur Längenbestimmung (s.d., ferner Monddistanzen) in Betracht kommen, muß auf die Literatur verwiesen werden, z.B. [5] und [6]. Ebenso auch in Beziehung auf den Einfluß der Parallaxe eines Himmelskörpers auf seine A R und δ.
Verwendung bei den Aufgaben der praktischen sphärischen Astronomie sind in den Astronomischen Jahrbüchern (s.d.) die Aequatorialhorizontalparallaxen von Sonne, Mond und Planeten in passenden Zeitintervallen fortlaufend angegeben, im Nautischen Jahrbuch z.B. für den Mond mit 12h Intervall, für die vier hellen Planeten von 10 zu 10 Tagen, für die Sonne für jeden Ersten des Monats. Die Angaben für die Sonne ändern sich im Lauf der Jahre nicht, da die Werte von π⊙ an denselben Tagen verschiedener Jahre nicht wesentlich voneinander verschieden sind (Taf. XV im Anhang des Nautischen Jahrbuchs).
Die sogenannte jährliche (s. oben) Parallaxe der Fixsterne kommt für die Zwecke dieses Lexikons nicht in Betracht; erwähnt sei nur, daß sie für einen bestimmten Fixstern der Winkel ist, unter dem von ihm aus der (mittlere) Erdbahnhalbmesser erscheint. Wäre dieser Winkel für einen bestimmten Stern 1'', so wäre seine Entfernung 206265 Erdbahnhalbmesser oder »Sonnenweiten«. Bis jetzt ist aber kein Fixstern bekannt, der eine Parallaxe von 1'' hätte, unter den wenigen einigermaßen genau bekannten Fixsternparallaxen ist die von α Centauri die größte (nach Henderson und Maclear 1832/33 und 1839 0'',92, nach neueren Bestimmungen von Elkin am Kap nur 0'',7 bis 0'',8 Entfernung nach der ersten Zahl 224000, nach der letzteren 295000258000 Sonnenweiten, entsprechend 31/2 oder 41/2 Jahren, die das Licht zur Zurücklegung der Entfernung braucht). Eine neuere Zusammenstellung von Fixsternparallaxen und Schlüsse daraus s. z.B. in [7].
Literatur: [1] Astronomische Mitteil, der Kgl. Sternwarte zu Göttingen, VII., Ambronn, L., Die Messungen des Sonnendurchmessers mit dem 6 zölligen Heliometer der Sternwarte u.s.w., Göttingen 1905. [2] Encke, J. Fr., Die Entfernung der Sonne von der Erde, Gotha 1822, und Der Venusdurchgang von 1769, ebend. 1824. (Diese beiden Werke enthalten die klassische Bestimmung der Sonnenparallaxe aus den Vorübergängen der Venus vor der Sonnenscheibe in den Jahren 1761 und 1769.) [3] Vgl. dazu die Zusammenstellung in Newcomb-Vogel, Populäre Astronomie, Leipzig 1905, S. 204, und »Nature« (London 1891), S. 89 u. 90, gibt die aus den Venusvorübergängen 1874 und 1882 gefolgerten Werte von π⊙, und neuerdings eine Zusammenstellung von 60 Werten der Sonnenparallaxe (historisch) in English Mechanic and World of Science, Bd. 75, S. 12, 94 und 397, London 1902. [4] Die Washingtoner Konferenz hat als einheitlich für alle Ephemeridenrechnungen anzunehmenden Wert 1896 (Conférence internat. des étoiles fondamentales, Procès-Verbaux) π⊙ = 8'',80 gewählt und festgesetzt. [5] Wolf, Handbuch der Astronomie, Zürich 189093, Bd. 1, S. 490493; Bd. 2, S. 223259 (letztere Abschnitte enthalten besonders die Methoden zur Bestimmung der Sonnenparallaxe). [6] Die schon mehrmals zitierten Lehrbücher der »Sphärischen Astronomie«; vgl. z.B. Art. »Geograph. Ortsbestimmung«, außerdem die Tafeln zur Parallaxenrechnung in den astronomischen Jahrbüchern: Nautical Almanac; Connaissance des Temps; Nautisches Jahrbuch u.a. [7] Lewis, im »Observatory« 1895, April; vgl. dazu auch das in [3] angegebene Werk, S. 213. Dort sind die Parallaxen von 57 Sternen angegeben, die zwischen 0'',75 (α Centauri) und 0'',11 (τ Coronae) liegen. In Lichtjahren würden die resp. Entfernungen 4,3 resp. 30 betragen.
Ambronn.
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