[31] Erfahrung (Empirīe) heißt im allgemeinen das auf die unmittelbare sinnliche Anschauung eines Gegenstandes begründete Wissen im Gegensatz zu der durch Denken erworbenen oder durch Belehrung übermittelten Einsicht, sodann auch (im konkreten Sinne) jedes einzelne auf diesem Wege gewonnene Ergebnis (eine E.). Da unser Geist nur durch Vermittelung der Sinne mit der Außenwelt in Verbindung tritt, so beruht alle unsre Kenntnis der Dinge in letzter Linie auf E., und weder das Denken noch die (aus Büchern oder aus mündlicher Mitteilung geschöpfte) Belehrung vermögen diese zu ersetzen. »E. haben« heißt daher soviel wie mit den Eigentümlichkeiten der Dinge (oder Menschen) genau bekannt sein, und »unerfahren« wird derjenige genannt, der die Welt nur durch Überlieferung und nicht aus eigner Anschauung kennt. Anderseits ist aber die E., die für das praktische Leben oder für die Wissenschaft von Bedeutung und Wert sein soll, weder bloß die Summe der alltäglichen Erfahrungen, wie sie jeder ohne Mühe machen kann, noch besteht sie in dem Erlebthaben irgend welcher ungewöhnlichen Fakta (viele Menschen erfahren gar manches, ohne E. zu machen), sondern sie entspringt erst aus der Verknüpfung und richtigen Deutung dessen, was man erfahren hat. Die sinnliche Wahrnehmung gibt uns immer nur Einzelfälle, während dem Zwecke des Wissens nur gedient ist durch Regeln (Gesetze), die in allen Fällen Geltung haben; dazu ist aber eine denkende Bearbeitung der Erfahrungstatsachen erforderlich. Die vom Empirismus (s.d.) aufgestellte Forderung, daß das Erkennen sich auf die »reine« E. stützen müsse, hat daher einen guten Sinn, wenn sie besagen will, daß man ohne vorgefaßte Meinungen an die Betrachtung der Dinge selbst herangehen, ist aber falsch, wenn gemeint ist, daß man die Tatsachen der Wahrnehmung ohne Prüfung hinnehmen soll. Denn sehr oft lassen die letztern eine mehrfache Deutung zu (aus dem »Aufgehen« der Sonne kann auf eine Bewegung der Erde oder der Sonne geschlossen werden), und immer ist es Sache des Denkens, das Wesentliche, Allgemeingültige von den zufälligen und unwesentlichen Besonderheiten des einzelnen Falles zu unterscheiden und zu verhüten, daß voreilig falsche, durch die vorliegenden Tatsachen nicht gerechtfertigte Verallgemeinerungen aufgestellt werden. Dem bloßen Empiriker, der auf Grund einzelner, nicht weiter auf ihren Wert geprüfter und mit andern verknüpfter Erfahrungen urteilt und handelt, begegnet es daher oft genug, daß er durch den Erfolg selbst widerlegt wird oder unter andern als den ihm geläufigen Umständen keinen Rat weiß, weshalb auf allen Gebieten die rationelle (auf E. und Denken) basierte Auffassung oder Behandlung einer Sache höher geschätzt wird als die »Routine« des Empirikers. Alle Realwissenschaften sind zwar insofern Erfahrungswissenschaften, als sie die E. nicht entbehren können, sei diese nun eine äußere (objektive), wie in den Naturwissenschaften, oder eine innere (subjektive), wie in der Psychologie und den mit ihr zusammenhängenden Disziplinen, aber sie gründen sich[31] nicht ausschließlich auf E. Auch begnügt sich die Wissenschaft nicht mit den zufällig gemachten Beobachtungen, sondern sie geht planmäßig vor und sucht Tatsachen, die geeignet sind, die Grundlage eines methodischen Schlußverfahrens zu bilden (vgl. Experiment und Induktion); oder sie beginnt umgekehrt mit hypothetisch aufgestellten allgemeinen Annahmen, um die (durch Deduktion) daraus abgeleiteten Folgerungen an der E. zu prüfen und so eine Bestätigung oder Widerlegung jener Annahmen zu finden. Auf den letztern Fall bezieht sich die Gegenüberstellung von Theorie und E.; die Theorie geht vom allgemeinen aus, die E. vom einzelnen, und das Ideal der (Real-)Wissenschaften ist erreicht, wenn beide vollständig zusammentreffen. Ob es Begriffe und Erkenntnisse gibt, zu deren Zustandekommen die E. überhaupt nicht erforderlich ist, ist eine zwischen Apriorismus (s. a priori) und Empirismus (s.d.) strittige Frage.